Erynn erwachte am folgenden Morgen in ungefähr derselben Position, in der sie auch eingeschlafen war. Für einen Augenblick wußte sie nicht, wo sie sich befand oder was sie geweckt hatte. Erst nach einigen Herzschlägen identifizierte sie das Geräusch, das schließlich durch ihren Schlaf gedrungen war: Arranges räumte in dem Ruderboot herum und war, ebenso wie Dreveni, offenbar schon dabei, sich abreisebereit zu machen. Leise stöhnend rollte Erynn sich auf den Rücken und blinzelte in das frühe Sonnenlicht. Wie ich es hasse, aufstehen zu müssen...
Sie raffte sich auf. Es half ja doch nichts. Mit noch etwas langsamen, aber geübten Bewegungen machte sie sich daran, ihr eigenes Gepäck an ihrem Gürtel zu befestigen, so daß es sie möglichst wenig behinderte. In der letzten Zeit hatte sie einige Routine darin entwickeln können, deshalb ging es schnell, trotz Halbschlaf. Arme und Oberkörper taten ihr weh von der verdammten Ruderei in der letzten Nacht, wie sie befürchtet hatte, aber das würde vergehen, sobald sie ein wenig in Bewegung gekommen war – so war es immer. Arranges war ihren knurrigen Gemütszustand am frühen Morgen längst gewöhnt und nahm ihn kommentarlos hin, auch wenn es an diesem Tag besonders schlimm war. Dreveni hingegen, jedenfalls kam es der Kriegerin so vor, belegte sie dafür noch immer mit seltsamen Blicken. Sie schoß einen kurzen, giftigen Blick auf die andere Dunkelelfe ab und ignorierte diese dann, bis sie fertig mit aufrödeln war.

Kurz darauf brachen die drei auf. Sie würden sich Ebenherz und der Zeltstadt davor völlig offen nähern, nachdem sie in der vergangenen Nacht herausgefunden hatten, daß davon wohl keine Gefahr ausging. Vermutlich würde ihr kleines, etwas abgerissenes Häuflein nicht einmal Aufmerksamkeit erregen.
Sie hörten die Geräusche des Flüchtlingslagers, ehe sie es sahen – und sie rochen es. Völlig still war es selbst mitten in der Nacht nicht gewesen, aber jetzt, im Licht des Morgens, war der Lärm überwältigend. Schreiende Kinder, streitende Männer, Geräusche von Leuten, die ihrem Tagwerk nachgingen und versuchten, in dem Chaos so etwas wie den Anschein von geregeltem Alltag und somit Sicherheit herzustellen. Über allem lag der faulige Pesthauch von zu vielen auf engem Raum zusammengepferchten Mer – er kündigte sich schon recht früh an, aber als sie den äußeren Rand des Lagers erreichten, traf sie der Gestank wie eine stählerne Faust. Erynn würgte unterdrückt, und auch auf Drevenis Gesicht zeichnete sich eindeutiger Ekel ab.
Es ist noch weit schlimmer als vor ein paar Wochen in Cheydinhal... damals dachte ich, ich hätte echtes Leid gesehen. Aber das hier... Sie ließ ihren Blick über die wirre, verwinkelte Ansammlung aus Planen schweifen. Die Leute wirkten ausgezehrt, ihre Augen hohl, jede Bewegung schien zu viel Kraft zu kosten. Und überall Dreck – diese unglaubliche, unbewältigbare Masse an widerlichem Dreck, dessen Herr zu werden die Bewohner dieses götterverlassenen Ortes entweder längst aufgegeben oder es niemals versucht hatten. Wie lange diese armen Gestalten hier wohl schon hier sind? Es müssen Wochen sein...
Vielleicht nahm man die Miasmen irgendwann nicht mehr wahr, aber für die Elfin wurde es schon nach wenigen Augenblicken unerträglich. Sie zerrte an ihrer Kapuze und drückte sich deren Stoff fest auf Mund und Nase, dann sah sie unsicher zu ihren Begleitern auf. Wo sich in Drevenis Miene Ekel und vielleicht auch so etwas wie Verachtung spiegelte, war das Gesicht des Beschwörers wie aus Stein gemeißelt. Erynn kannte diesen Ausdruck. Arranges würde nichts von dem, was er hier sah, an sich heranlassen. Sie begriff zwar nicht, wie er dazu in der Lage war, aber für den Moment war es ihr nur Recht. Sie ließ dem Magier den Vortritt und folgte ihm gemeinsam mit der Assassinin durch das Chaos, wobei sie ihre Umgebung aufmerksam im Auge behielt. Machmal wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan und stattdessen nur stur auf ihre Füße geschaut, doch wer konnte sagen, ob nicht Hunger und Verzweiflung den ein- oder anderen Flüchtling dazu treiben mochten, die drei Fremdländer anzugreifen. Es wäre närrisch, in dieser Umgebung nicht wachsam zu bleiben. Doch sie blieben fürs erste unbehelligt, auch wenn alle aus der Gruppe die scheuen bis abschätzenden Blicke auf sich spürten, wärend sie sich ihren Weg bahnten. Das entschlossene Auftreten und die gut gepflegten Waffen von Beschwörer, Assassinin und Bogenschützin ließen sie aber wohl zunächst als zu riskantes Ziel erscheinen.

Nach einigen Minuten, die wohl länger erschienen als sie wirklich waren, erreichten sie eine eine massive, steinerne Bücke, welche zum Tor der eigentlichen Stadt Ebenherz führte. Durch dieses Tor mußten sie, wenn sie die Kais erreichen wollten – Erynn überlegte kurz, ob es vielleicht klüger wäre, zum Boot zurückzukehren und damit direkt den Hafen anzusteuern, aber angesichts der Tatsache, daß eine große Menge Flüchtlinge vor der Stadt lagerte und sich scheinbar niemand der Offiziellen in der Pflicht sah, die haltlosen Zustände den Mer dort zumindest zu erleichtern, verwarf sie den Gedanken beinahe sofort wieder. Vermutlich könnten sie froh sein, wenn man sie bei dem Versuch nicht direkt und ohne Fragen zu stellen unter Feuer nahm.
Sie betraten die vielleicht zwanzig Schritt lange Brücke. Noch nicht ganz auf der Mitte angekommen sahen sie, wie ihnen am fernen Ende zwei Soldaten der kaiserlichen Armee den Weg vertraten. Ihre Gesichter und Hellebarden sprachen Bände; vermutlich machten sie das mehrere dutzend Mal am Tag. Ohne triftigen Grund würde man ihnen hier wohl kaum Einlaß gewähren. Na, das kann ja heiter werden, dachte die Kriegerin bei sich, während sie langsam, die Hände offen und harmlos neben ihrem Körper hängen lassend, auf die Legionäre zutrat. Ich bin ja mal gespannt, wie viel ein Gildenausweis aus Cyrodiil in diesem Land wert ist...