Glöckchen hatte das Treiben weiterhin eher desinteressiert verfolgt. Seit Goliaths Tod hatte sie ohnehin keinen rechten Willen mehr verspürt, auf der Weide etwas zu ändern oder zu bewegen. Oder den Schafen erfolgreich etwas vorzugaukeln.

Anfangs hatte es ja Spaß gemacht. Bei den Wölfen ging es immer nur darum, wer das Rudel anführte, und wer die schärferen Krallen, und die spitzeren Zähne hatte. Sie, als kleines Wolfsjunges, hatte natürlich nichts zu lachen gehabt, vor allem, weil es ihr eher beliebte, ihre Krallen und Zähne gepflegt zu halten, genau wie ihr nachtschwarzes Fell. Dies stieß natürlich nicht gerade auf Verständnis im Rudel, und nur einer hatte erkannt, dass in ihr ein kluger Geist schlummerte, und sie etwas Besonderes war. Tatze, oder Böckling, wie er sich auf der Weide genannt hatte, hatte sie höchstpersönlich auserwählt, um mit ihm und ein paar anderen bei den Schafen einzudringen. Und sie musste seinen Erwartungen natürlich gerecht werden, sich integrieren und mit List die dummen Schafe täuschen. Zielsicher hatte sie sich als Tarnkörper den eines kleinen Lämmchens ausgesucht, dessen Wolle weiß schimmerte, also ein genauer Gegensatz zu ihrem dunklen Fell war, und das eine Glocke um den Hals trug.
Den Bruder, der in dieser Nacht direkt neben Glöckchen gelegen hatte, wollte sie eigentlich auch noch gleich mit fressen, doch aus irgendwelchen Gründen, die sie sich damals nicht erklären konnte, verspürte sie überhaupt keinen Appetit. Er roch irgendwie ganz anders, als die köstlich duftenden Schafe.

Glöckchen, oder Nachtfell, wie sie eigentlich hieß, schwelgte in diesen Erinnerungen, und nun war ihr natürlich völlig klar, warum sie Goliath nicht hatte fressen wollen. Und ihr war auch klar, dass sie ihn schnell wirklich gemocht und geschätzt hatte, und am liebsten all ihre Tage mit ihm auf dieser Weide verbracht hätte. Nicht einmal in der Nacht, als Goliath getötet wurde, hatte sie ihn auch nur berührt, und sie hatte bis in die Morgenstunden über den großen Verlust geweint. Die Tränen, die auch am Tage noch nicht getrocknet waren, waren das einzig Ehrliche, was sie auf dieser Weide den anderen je gezeigt hatte. Aber Goliath war längst weg, genauso wie Tatze, deshalb machte es nun nichts mehr, wenn auch sie nicht mehr hier verweilen konnte.
Nachtfell erhob sich also langsam von ihrem Platz neben Goliaths Grab, wo sie auf die Entscheidung gewartet hatte, und riss sich die weiße Wolle elegant vom Körper. Dann schüttelte sie sich kurz, weil es befreiend war, das Schafskleid los zu werden. Ohne ein Wort schritt sie an allen vorbei, in Richtung Zaun. Erst dann richtete sie sich an die Schafe, die um sie herum standen, und fast wie gelähmt da standen, und warteten, was passieren würde.
"Eine kurze Zeit lang wart ihr ja ganz amüsant. Aber wenn ich mir euren Haufen jetzt so ansehe..." Sie ließ ihren Blick über die anderen schweifen, und stieß einen kurzen, hämischen Lacher aus. "..kann ich nur froh sein, endlich abtreten zu können. Es macht keinen Spaß mehr, euch leiden zu sehen, wenn man weiß, dass ihr ohnehin verloren seid." Nachtfell sah Fluffy nun an und grinste zufrieden. "Denn ich bin nicht die Letzte."
Mit diesen letzten Worten drehte sie sich zum Zaun um, und lief, ohne dass sonst jemand etwas tun musste, mit hoch erhobenem Haupt hinein.