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Provinzheld
Während sich Nivicola auf der Weide im Westen der Düsterheide sonnte, ließ sie vor ihrem inneren Auge die letzen 24 Stunden Revue passieren...
Nachdem die Diskussion zwischen Gewitter und weiteren Schafen zu einer bloßen Anhäufung von Anschuldigungen geworden war, hatte sie sich dessen müßig gefühlt und sich zur Düsterlache begeben um endlich ihren Durst zu stillen. Schluck für Schluck war das Wasser ihren Schafshals hinab geglitten, das kühle Nass hatte dabei ein wohliges Gefühl hinterlassen, dessen sie sich nicht länger erwehren wollte. Und so hatte sie den restlichen Abend damit verbracht, immer größere Mengen des düsteren Gewässers in sich aufzunehmen. Dabei hatte sie die Abstimmung gänzlich vergessen.
Am sie am nächsten Tag neben dem See erwachte, machte sie sich zum Apfelbaum auf, um ihren Hunger zu stillen. Dort eingetroffen besah sie sich den kotverschmierten Stamm. Mit Müh und Not konnte sie das Geschmiere entziffern: 'Mike' stand dort in großen stinkenden Buchstaben geschrieben. Da sie sich hierauf keinen Reim machen konnte, suchte sie Mike auf, um ihn zu fragen, weshalb sein Name am Apfelbaum stünde. Mike klärte sie und ein paar weitere frisch dazugestoßene Schafe über Möbius' Tod, seine Wahl zum Leithammel und den bevorstehenden Ausflug auf. Nivicola gefiel der Gedanke an diese Zeitvertreibe, dessen Inhalt nicht an Tod und Verderben erinnerte. So sehr hatten die grauenhaften Geschehnisse der vergangenen Tage sie, das Ratio-Schaf, verändert, dass sie sinnloses Vergnügen dem Logische-Rückschlüsse-ziehen vorzog...
Mit ihren Gedanken wieder im Hier und Jetzt, begab sich Nivicola zu Mike, dem Leithammel. Was sie von seiner neuen Position halten sollte, wusste sie noch nicht recht einzuschätzen. In den Tagen seit Napoleons Tod, nein, bereits vorher, seit er ihr mit seinem kartographischen Laientum behilflich sein wollte, hatte sie ihr Mitgefühl und ihr Vertrauen in ihn gesetzt. Doch jetzt, ob seines hohen Amts, überkam sie ein weiteres Gefühl: Furcht. Woher kam sie? War es die Furcht, er könne doch ein Wolf sein? Unwahrscheinlich. War es dann vielleicht die Furcht davor, dass die Wölfe ihn ihr nun doch noch entreißen sollten, jetzt, da er diese wichtige Funktion übernahm? Sie wollte nicht länger darüber nachdenken. Als sie Mike erreichte, sprach sie ihn sogleich an: "Hallo, Mike. Wie Du sicher bemerkt hast, dauert es nicht mehr allzu lange bis zum Ende dieses Tages. Ich mache mir Gedanken, nein, alle Schafe machen sich Gedanken über die bevorstehende Verurteilung. Ich erwarte nicht, dass Du gleich jemanden verurteilst. Stattdessen würde ich mich freuen, wenn Du mir ein wenig Deine persönlichen Einschätzungen, sozusagen das Für und Wider, mitteilen könntest."
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