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Provinzheld
Als Wolke sie über den Tod Napoleons informierte, war Nivicola fassungslos. Nachdem sie sich dann noch Böckling Vorhaben angehört hatte, konnte sie sich nur mühsam auf den Beinen halten. Der Tag hatte für sie gerade erst begonnen und doch schien er kaum noch schlimmer werden zu können. Ein Raubtier sollte also unter ihnen sein. Üblicherweise hätte Nivicola das als abergläubiges Geschwätz abgetan, doch hier waren die Hinweise zu eindeutig: Napoleon war zerfetzt vorgefunden worden, der brutzelnde Zaun funktionierte tadellos und war unversehrt, nahe des Unterstands waren unschafige Spuren entdeckt worden und dann das Heulen – das Heulen! Jetzt fielen sie Nivicola wieder ein, die angsteinflößenden Laute, die sie letzte Nacht vernommen hatte. Sie hatte sie sogleich als Hirngespinst abgetan, verursacht durch Überanstrengung und zuviel Stress, doch jetzt erkannte sie ihre wahre Bedeutung. Ein Raubtier ist unter uns, eine gefährliche, schafreißende Bestie. Plötzlich kam ihr Böcklings Vorschlag weniger erschreckend vor als zuvor. Es war der einzige Ausweg. Natürlich bestand ein gewisses Risiko, das falsche Schaf zu verurteilen, aber durch sorgfältige Beobachtung aller Mitschafe, insbesondere derer, welche durch ihre Delinquenz auffällig geworden waren, musste sich dieses Risiko auf ein Minimum reduzieren lassen.
Als sich Nivicola von diesen düsteren Gedanken lösen konnte, blickte sie verwundert auf die Stelle, an der sie stehen geblieben war. Ohne es zu realisieren, hatte sie in ihrer Anspannung alle erreichbaren Grashalme im Ganzen gefressen, so dass unter ihr nur noch der blanke Erdboden zu sehen war. Ein Glück ist Wolke nicht in der Nähe. Er hätte diesen Raubbau an der Natur nicht gutgeheißen. In diesem Moment fiel ihr ein, dass Wolke sie gebeten hatte, sich für Frau Määhra nach den dicksten und prächtigsten Äpfeln umzuschauen. Also begab sich Nivicola zum Apfelbaum. Als sie sich ihm näherte, drang ihr der Geruch des Spitzwegerichs auf verführerischste Weise in die Nüstern. Sogleich beschleunigte sie ihre Schritte und ließ sich vor dem Apfelbaum nieder, wo sie genüsslich einen Spitzwegerich nach dem anderen verspeiste, sich ganz und gar dieser Gaumenfreude hingab. Da erblickte sie einen Apfel, eben erst vom Baum gefallen, dicker und prächtiger als alle, die sie bisher gesehen hatte. Er roch süßlich und Nivicola war sich gewiss, er könne jedem Leidenden Linderung verschaffen. Grunzelnd und glucksend ließ sie ihn ihre Kehle hinabgleiten.
Geändert von Narrenwelt (21.04.2011 um 15:24 Uhr)
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