Alles, was du im Film bis zur Auflösung am Ende siehst, sind mögliche Ereignisse. Das heißt er hat keine der Frauen je getroffen, hat sich noch nicht für Mutter oder Vater entscheiden müssen. Das mögliche Leben bei seiner Mutter und später mit Anna ist allerdings das einzige, das einen halbwegs happyendischen Ausgang nimmt, weshalb es aus dramaturgischen Gründen diese "Endstellung" in den möglichen Ereignissen einnehmen musste. Es ist auch seine letzte Erinnerung (lies: seine letzte mögliche Erinnerung, denn Nemo hat nie gelebt) vor seinem Tod (oder seinen Toden, denn wenn ich mich recht erinnere, kann er nur in ein oder zwei Lebensoptionen so alt werden wie in der Zukunftsszenerie).
In the nutshell: Nichts von dem, was du ab der ersten Bahnhofsszene siehst, ist die Filmrealität. Es sind alles Möglichkeiten, die Nemo als einziger ohne den "Kuss" der Angels of Oblivion durchspielen kann, weil er das totale Wissen über alles, was möglich ist, besitzt. Und einige der Szenen sind ebenfalls nicht einmal Möglichkeiten, sondern nur eine art erzählerische Einspieler oder Blicke in Nemos Psyche. So ist beispielsweise die Welt, in der er Karo trägt und ominöse Hinweise erhält, eine abstrakte Traumumgebung, die die in Bahnen gezwungene Verworrenheit seines Ichs darstellen soll. Auch die Szenen, in denen er vor der Entscheidung wegläuft und ein Blatt in den Wind pustet, sind nur erzähltechnisch gedacht und haben nichts mit den verschiedenen möglichen Ereignissen in seinem Leben zu tun. In diesem Moment steht er vor einem unglaublichen Dilemma, "when the only viable move is not to move", was ja zum Durchspielen aller möglichen Ereignisse in seinem Leben ist, abhängig von seiner Entscheidung 'damals' auf den Gleisen. Das Blatt wegzupusten ist ein recht verzweifelter Versuch, alles noch einmal von vorn zu starten bzw. es wieder so einfach zu haben wie schon einmal in seinem Leben: Nämlich dass der Zufall (ganz im Sinne des Schmetterlingseffektes) die Dinge regelt, wie damals bei seinen Eltern, die ebenfalls durch Zufall (nämlich das Blatt) zusammengefunden haben. Und in dem Moment schlägt der Film die Brücke zum Erzählstrang mit Anna, die auch wie absolut zufällig an diesen einen Ort kommt, wo sie Nemo wiederfindet.
Ich finde übrigens, dass der Film sich gerade dadurch auszeichnet: Dass er in der Lage ist, menschliche Entscheidung und Zufall als ebenbürtige Einflüsse auf den Verlauf des individuellen Lebens darzustellen. In dem Moment, wo der 9-jährige Nemo nun das Blatt fliegen lässt und damit seinen Lebensweg eigentlich dem Zufall in die Hand legen will bzw. eben wegrennt, gibt es zwei Interpretationsmöglichkeiten: 1. Wie eben geschildert, dass es sich nur um ein erzählerisches Mittel handelt und er sich am Bahnhof entscheiden muss, der Zuschauer aber keine Antwort auf die Frage erhält, wofür er sich entscheidet (denn jeder einzelne Lebensweg ist wertvoll und jeder einzelne ist lebenswert und jeder einzelne ist möglich. 2. Es handelt sich bereits in dem Moment, wo er wegrennt, um einen weiteren möglichen Lebensweg, in dem er sich eben für keinen von beiden entscheidet, was freilich ebenfalls alles offen lässt, denn ein solches Leben kennen wir von ihm nicht. Ich halte Interpretationsmöglichkeit n°2 aber für nicht so wirklich stimmig.