„Es wird schon gehen.“ Sie zog eine Augenbraue hoch. „Um meine eigenen Kratzer mache ich mir dabei übrigens die geringsten Gedanken.“ Die Elfin stand auf und holte ihr Schwert. Nachdem die Entscheidung einmal getroffen war, wollte sie keine Zeit mehr mit warten verschwenden. Von dem Lederkürass waren praktisch nur noch Fetzen übrig, also ließ sie ihn liegen. Sie hatte ohnehin keine Ahnung, wie sie das Ding über ihren Kopf kriegen sollte. Ungerüstet in diese Ruine herabzusteigen, ist tatsächlich etwas waghalsig. Dann muß ich eben zusehen, daß ich ungesehen dicht genug an eventuelle Gegner herankomme, um sie mit einem Stich auszuschalten... Erynn erschrak über ihre eigenen Gedanken. Bin ich wirklich so kaltblütig? Das wollte ich niemals sein. Aber es sind in letzter Zeit so viele Dinge geschehen, die ich niemals wollte...

Langsam ging sie auf den Eingang zu. Hinter sich hörte sie, daß der Kaiserliche ihr folgte. Das Portal stand halb offen. Dahinter erstreckte sich nach wenigen Stufen ein kurzer Gang, der nach nur wenigen Schritten eine scharfe Linksbiegung beschrieb. Die Erbauer hatten die Wände zum Teil mit großen, sorgfältig behauenen Steinblöcken gestützt, zum Teil den natürlichen Fels sichtbar gelassen. Zusammen ergab es ein elegantes, harmonisches und auch sehr fremdartiges Bild, als hätten die Baumeister des alten Elfenvolkes versucht, den Übergang zwischen der Wildnis draußen und ihren kühnen, hohen Hallen so fließend wie möglich zu gestalten.
Noch einmal hielt Erynn inne und lauschte sie auf irgendwelche Geräusche, hörte aber nichts. Dann trat sie einige Schritte in das Halbdunkel und spähte um die Ecke. Der Gang ging in eine Empore mit steinernem Geländer über. Einige Wurzeln waren durch die Decke gestoßen und hingen in der Luft wie sich windende Schlangen. Von ihrer Position aus konnte sie in eine große Halle hinabsehen, die von vier schlanken Säulen gestützt wurde. Große, helle Kristalle wuchsen direkt aus der Decke und tauchten die Umgebung in bleiches, überirdisches Licht. Der Boden des großen Raums war übersät mit Kisten, Fässern, Decken und anderem Krempel. Offenbar hatten sie das Lager der Banditen gefunden. Direkt in der Mitte erhob sich eine etwa mannshohe Strele, auf der ein metallener Behälter stand. Erynn gab Arranges ein Zeichen, sich still zu verhalten und beobachtete für ein paar Minuten die Szenerie. Nichts regte sich, es gab kein Anzeichen dafür, daß sich hier noch jemand aufhielt.
Die Galerie umgab den Raum von zwei Seiten, dann mündete sie wieder in einen schmalen Gang, der ein ganzes Stück abwärts führte. Nach einer weiteren Biegung öffnete er sich zu der Halle, in die sie vorhin hatten herunterschauen können. Noch immer war kein Anzeichen von Leben zu entdecken. Banditen schien es hier keine mehr zu geben. Das äonenlange Schweigen hatte bereits begonnen, sich diesen Ort zurückzuerobern, und die Gegenstände, welche die Verbrecherbande hier eingelagert hatte, wirkten in ihrer Profanität wie eine Beleidigung der zeitlosen Würde, die aus jedem Quadratzentimeter dieses stolzen Bauwerks sprach.

Erynn riß sich nach einer schieren Ewigkeit von dem überwältigenden Anblick los und durchsuchte die Kisten und Fässer. Tatsächlich gab es neben jeder Menge nutzlosem Kram einiges, was sie beide gut gebrauchen konnten. Sie fand Kleidung, Pfeile und einige Beutel mit Septimen, dazu in einem Faß eine großzügige Menge eingepökeltes Wild. Schließlich öffnete sie eine Truhe, in der sich eine größere Anzahl an Tränken und alchemistische Zutaten befanden. Auf den Fläschchen waren keine Etiketten angebracht, und so konnte sie nicht sagen, was sie enthalten mochten. Sie winkte den Beschwörer zu sich. „Weißt du, was für ein Zeug das hier ist?“