In einem roten Sommerkleid stand sie dort am Bahngleis und wartete. Die Hände fuhren immer wieder durch das mahagonifarbene Haar als suchten sie Halt, während sie fiebrig mit dem Blick den Zügen nachsah die ein- und ausfuhren. Verspätung, natürlich, wie immer. Aber warum gerade heute, wo sie zum ersten Mal den Menschen treffen sollte den bisher Meilen von ihr getrennt hatten?

Stunden später saß sie auf einer der ausgeblichenen blutrotorangenen Plastikstühle und wartete immer noch. Der Himmel verfärbte sich in eine Komposition, die aussah wie das Licht einer Stadt auf den Wellen des Meeres in der Nacht. Dann endlich, traf er ein. "Am Ende des Gleises" hatten sie gesagt. Sie stand dort wo die Lok war... aber war das nicht völlig verkehrt? In einem Wirbel von Herbstblättern sprintete sie durch die Massen von Menschen, als sie sah das sie hier verkehrt war. Ihr Herz raste und sie hoffte so sehr das sie ihn doch noch finden würde zwischen all diesen Leuten. Siesprang über Koffer, die sich ihr in den Weg schoben, rutschte auf einer kleinen Schleife aus, die ein Mädchen verloren hatte. Die großen Augen des Mädchens trafen die ihren, sie erblickte Sommersprossen auf milchweißer Haut. Das Mädchen erblickte in ihren Augen Verzweiflung, Furcht, Schmerz und die Tränen, die sich langsam über ihre Wangen bahnten.

Ihr Knie unter dem kurzen Kleid war auf den harten Betonfliesen aufgeschlagen. Und es brannte höllisch. "Das hat man davon wenn man perfekt sein will.", murmelte sie leise. Das Mädchen streckte ihre Hand nach ihrer Wange aus - aber ehe sie sichs versahen, hob die Mutter des Mädchens sie hoch und trug sie schimpfend fort.

Ein Pfiff und ein Zischen direkt neben ihr holten sie ins jetzt zurück. Das Signal sprang von rot auf grün um. Die Lok fuhr ab, die Menschenmenge hatte sich gelichtet. Die Zähne zusammenbeißend versuchte sie aufzustehen, der Kies und die Blätter von Boden klebten an ihrem Bein, immerhin schaffte sie es sich auf die nächstebeste Bank fallen zu lassen. Sie hob ihren Blick, aber die Abendsonne war gerade an der Überdachung des Gleises vorbeigezogen und blendete sie, sodass sie nichts dort hinten sehen konnte. Die Tränen liefen weiter. Nichts vom Schmerz, aber wegen der Enttäuschung. So wie sie jetzt aussah, würde er sie sicherlich nicht liebgewinnen können. Sie pflückte ein Blatt aus ihrem wirren Haar, als ein einzelner Mann mit einem roten Regenschirm an ihr vorbeilief - das war ihr Erkennungszeichen! "Etwas rotes in der Hand".

Sie sprang also auf, strich sich den Rock glatt und leckte mit der kleinen pinken Zungenspitze über ihre korallenfarbenen Lippen - aber der Mann sah sie nur irritiert an und ging weiter. Sie blickte erstaunt auf ihre kleine rote Handtasche - war sie vielleicht nicht auffällig genug? "Warte doch...", flüsterte sie leise. Aber er war schon fort.

Sie schloss ihre Augen und versuchte nachzudenken. Er würde sicherlich warten, wie es ein Gentleman eben tat, wenn sich eine Dame verspätete, also musste sie sich bewegen. Aber ihr Knie tat so weh... und die Sonne war eben so angenehm...

Erschrocken zuckte zie zusammen, als sich plötzlich eine fremde Hand auf ihren Oberschenkel legte. "Das sieht aber nicht gut aus". Sie riss ihre Augen auf und vor ihr kniete ein jüngerer Herr, der eben sein Taschentuch aus dem Revers zog und begann ihre Wunde damit zu säubern. Verwirrt versuchte sie sich seinen Händen zu entziehen, aber er blickte sie nur aus seinen tiefen, beruhigenden Augen an, die zu lächeln schienen, was sie in tiefe Ruhe versetzte.

Als er mit ihrem Bein fertig war, legte er vorsichtig einen weichen Handrücken auf ihre erhitzte Stirn und fuhr dann langsam über die immer röter werdenden Wangen, die schon Tomaten ähnelten, während er in sich versunken schien und schmunzelnd eine Glückseligkeit ausstrahlte, die man so noch nicht gesehen hatte. "Entschuldigen sie, aber ich bin hier mit jemandem verabredet." Seine Augen sprühten wieder diese Funken und er sagte ganz leise an ihrem Ohr: "Ich weiß." Dann drehte er die getrocknete Mohnblume, die er in seinem Taschentuch eingewickelt hatte zwischen den Händen und sie verstand.

Der Himmel hinter ihnen erglühte, schien noch ein letztes Mal mit aller Kraft in seinen Farben zu sprühen und dann brach die Sternennacht über sie herein. Klein leuchtete der rötliche Mars dort oben in der Nacht und die strahlende Venus glitt langsam auf ihn zu.

Nächste Farbe: Grün