Und es durch List abzuwenden ist die derbste Negation dieses Anheimfallens.
Ich denke hier, ohne dir zu nahe treten zu wollen, dass du das viel zu simpel siehst. Warnende oder prophetische Aussagen sind kein rückwärts motivierendes Moment, welche auf ein fatales Ende hinarbeiten, außer sie ordnen sich in noch andere Hinweise auf ein solches ein. Das ist übrigens schon der nächste Punkt, den ich dir gegen das Argument der Fatalität einwerfen könnte: Die Geschichte ist rückwärts motiviert, hat aber auch ohne den Tod des Protagonisten bestand (siehe die Fassung, in der er seinen Tod abwendet) und ist schlüssig. Wenn du mir das gleiche über Romeo & Juliet erzählen könntest (das inkarnierte Fatalitätsprinzip), wäre ich mit dir einer Meinung, dass hier Fatalität vorherrscht. Da aber dort von Anfang bis Ende auf das Fatum zugespitzt wird - gänzlich ohne Warnung, sondern viel beeindruckender und subtiler -, hier im Gegensatz dazu die Warnungen nur dazu dienen, die Präsenz des Gevatters zu verstärken (Im Sinne von: "Ich bin der Tod und ich bin gegenwärtig"), wird das nicht gelingen.Zitat
Der Faust basiert auf der alten Volkserzählung vom Doktor Faustus, welche erstmals im 16ten Jahrhundert festgehalten wurde.Zitat
Faust ist keine Tragödie des Sturm und Dranges (was eigentlich schon an der Textsorte auffällig werden sollte), es ist ein den Epochenbegriff sprengendes Werk, welches vom späten Dränger über den Klassiker bis zum Romantiker eigentlich alles einfasst.
Und was hat das mit der Vergleichbarkeit der Werke zu tun? Also abgesehen davon, dass Faust kein Werk des Sturm und Drangs ist, dass der Faust grade so von christlich geprägter Symbolik strotzt, grade zu Natur schreit und sich darüber hinaus auch noch des volkstümlichen Zeichenkosmos' bedient?Zitat
Ich bin kein sonderlicher Fan vom ollen Goethe, aber du tust ihm da grade ganz schön unrecht, wenn du ihn pauschal in die Stürmer-und-Dränger-Ecke knallst.
Wir gehen davon aus, dass beinahe jedes Hausmärchen unzählige Fassungen hat - ist auch irgendwie klar bei mündlicher Überlieferung. In den Aufzeichnunge der Gebrüder Grimm gibt es von Gevatter Tod allein zwei (oder sogar drei, das weiß ich gerade nicht) unterschiedliche Fassungen, die veröffentlicht wurden, nämlich eine "originärere", "areligiöse" Version und eine, welche die christliche Symbolik besser aufgreift. In den Fragmenten der Brüder Grimm findet sich noch mindestens eine weitere Fassung, in welcher der christliche Wertekanon so weit vollführt wird, dass der Arzt am Ende noch bittet, ein Paternoster vor seinem Tode beten zu dürfen, dieses aber nie beendet und so am Leben bleibt.Zitat
Die Brüder Grimm hatten soweit ich weiß öfter Momente, wo sie an christliche Wertevorstellungen angeeckt sind, weil vor allem Jakob sehr wissenschaftlich arbeiten wollte.
Warnungen sind keine Vorausdeutungen, außer du beweist das schlüssig mit mindestens 2 verschiedenen Textmomenten.Zitat
Weil es sich nicht um unterschiedliche Versionen einer Gattung handelt, sondern um unterschiedliche Textsorten mit distanten Zeichenkosmen. Norkia erzählt in einem Zeichenkosmos, der das Fatalitätsprinzip aus angeführten Gründen negiert. Und ohne seinem Text dabei jetzt das Unrecht zu tun, ihn wertlos zu zeihen - denn das ist nicht meine Absicht, da er durchaus Wert hat -, du kannst selbst lesen, dass er sich dabei auf Einflüsse stützt, die nicht nur historisch sondern auch semiologisch eine große Divergenz zum eigentlichen Genre aufweisen.Zitat
Ein klassisches Drama ohne klassischen Dramenaufbau ist kein klassisches Drama. Gut, kann man sagen, dann lässt man das klassisch eben weg.Zitat
Ein klassisches Drama ohne Umsetzung der Obrigkeitsvorstellung und klassische Allegorien hingegen ist ein Fehler. Sich eines Zeichenkosmos' zu bedienen und dort dann aber Motive reinzuschmeißen, die diesem abgeschlossenen Gebilde nicht entsprechen, ist als ob man Zuckerwatte in ein Chili rührt: Es ist bestenfalls nicht ganz schlüssig (wie norkias Text), im schlimmsten Fall stößt es unangenehm auf. Zeichenkosmen sind solche, weil sie abgeschlossene Systeme sind. Das System aufbrechen und lose Zahnräder reinfüllen tut der Funktionalität des Systems (also des Textes) nicht sonderlich gut.
Also du findest Faust und Gevatter Tod nicht im Ansatz vergleichbar, aber kommst bei der Motivinterpretation des Märchenfluchs mit den Klassikern? Das finde ich etwas fragwürdig, muss ich zugeben. Vor allem, weil du damit gleichzeitig auch noch allem anderen widersprichst, was du gesagt hast - auch dem, was durchaus richtig war. Der griechische Zeichenkosmos beruht ja gerade auf Fatalität. Der gesamte Ödipus-Antigone-Komplex ist das größte Spektakel an Fatalität seit der Erfindung des griechischen Dramas. Dieser Zeichenkosmos ist zum volkstümlichen Märchen im deutschsprachigen Raum dermaßen distant, dass man bald schon zwei Pole hat (was unter anderem auch mit der absoluten Negierung des Heidentums in der christianisierten Welt einhergeht).Zitat
Der Grund, warum Shakespeare Einfluss auf das geisteswissenschaftliche Arbeiten der Grimms hatte, ist mir ein wenig schleierhaft. Du kannst den beiden Helden Romantik schon so viel Eigenständigkeit und Wissenschaftlichkeit zugestehen, dass sie nicht wild und ohne jegliche Basis Motive ausgetauscht haben. Ihr Spielraum bestand zwischen der Rekonstruktion aus mehreren Erzählversionen, aber sie haben die Texte nicht gänzlich neu erdacht, schon gar nicht im Sinne eines Shakespeare.
So oder so sprechen wir hier von diesem einen Fluchmotiv, welches durch den Zeichenkosmos, den norkia bemüht, bedingt wird.
Ich kann noch dreimal sagen, dass der Begriff "Volksmärchen" nicht dem entspricht, was ich sagen wollte, ich kann diese zu unpräzise Definition noch dreimal widerrufen; anerkennen musst du das aber. Bis dahin sage und widerrufe ich vehement und frage mich, warum du so liebend gern Textsorten als unabgegrenzten Begriff verstehst und keinerlei Unterscheidbarkeit zwischen Schwank, Sang und Prinzessinnenmärchen siehst.Zitat
Da wir aber nicht von Kunstmärchen sprechen, ist das irrelevant. Vor allem, weil Kunstmärchen ja gerade darauf aus sind, den alten Wertekanon zu brechen. Wenn du diesen Unterschied zwischen herkömmlichem Märchen und Kunstmärchen nicht zugestehst, kann ich dir allerdings auch nicht sagen, wie wir hier weitersprechen wollen.Zitat
Nicht im betrachteten Zeichenkosmos, da hier der Tod die Werteblase des erzählenden Pulks dekonstruieren würde.Zitat
Wo denn dann noch?Zitat
Eine Moral zu enthalten heißt nicht zu moralisieren. Ich weiß, dass da rein von der Sache her das gleiche Wort drinsteckt, das liegt aber am misnomer der Lehrform im Märchen. Märchen vermitteln keine wirklichen moralischen Werte; dazu fehlt nicht nur der Parabelcharakter, sondern auch der Kontext. Moralisierend sind in dieser Zeit überhaupt nur von christlichen Moralvorstellungen getränkte Texte, im volkstümlichen Feld meistens Schwanks. Vom Stricker beispielsweise hast du sowas häufiger; parabelischer Charakter, stark christliche Wertesymbolik, vermittelt eine Moralvorstellung (nicht etwa nur eine Lehre, wie sie im Märchen vorherrscht).Zitat
Das bezweifle ich stark; unter anderem, weil ich die Begriffsordnung außerhalb des wissenschaftlichen Kontextes ablehne und die Tendenz dazu mit dem Studium nur noch weiter steigt.Zitat
Ich wüsste nicht, was die Schola mit der historischen Distanz zum Textfeld, über welches wir sprechen, zu tun hat. Außer natürlich, ihr lehnt den Konsens darüber ab, dass darin verschiedene Textversionen ein und derselben Geschichte bestehen und versteht kulturelle Unterschiede als nicht abgrenzbar. Das wäre allerdings töricht, muss ich sagen.Zitat
Dafür hätte ich gern Beispiele, oder du führst mir auf, warum deine bisher angeführten Beispiele der gleichen Textsorte mit dem gleichen Zeichenkosmos entspringen.Zitat
Also findest du das Ende so wie es sich in Motivation zum Erzählaufbau darstellt stimmig und nimmst das kommentarlos hin? Wenn ja, dann ist das vermutlich dein gusto. Wenn nicht, dann sage mir, was du daran falsch findest.Zitat
Ja, du suchst ja auch an der falschen Stelle. Es gibt soweit ich weiß keine Rahmenkonstruktion, die bekannter und geläufiger wäre, und nichts, was man eindeutiger dem Märchen zuordnen könnte, als "Es war einmal ... und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende."Zitat
Dieser letzte Satz, auf welchen man da so gern enden möchte, der immer wieder aufgegriffen wird, wenn man über etwas Märchenhaftes spricht (vor allem auch im angelsächsischen Kulturzyklus ist das "happily ever after" schon längst verfloskelt), ist meiner Meinung nach ein einziger, großer Beweis dafür, dass man zuerst einmal davon ausgehen darf, dass das Märchen kein Fatalitätsprinzip und keine Ausweglosigkeit kennt.
Alles darüber hinaus ist sophistiziert und entspricht für meine Begriffe nicht dem, was wir norkia in einer Betrachtung seines Textes antun sollten.
Tut mir leid, dass diese Bemerkung so schnippig ist (und ich muss auch dazugestehen, dass sie ein bisschen schnippig gemeint ist), aber wer Faust dem Sturm und Drang zuordnet, den Motivzyklus der klassischen Antike mit dem des dunklen Zeitalters in Mitteleuropa auch nur ansatzweise vergleichbar hält und die Brüder Grimm zu den empirischen Autoren der KHM-Anthologie erklärt, der darf mit mir Kaffee trinken und über Gott und die Welt diskutieren und mich rein abschlussrelevant vielleicht sogar prüfen, der darf von mir aus sogar viel auf seinen Abschluss halten - aber ernst nehmen muss ich das dann deshalb nicht und ein bisschen aufgeplustert darf ich das im Gegenzug dann auch finden. Muss ehrlich zugeben, dass ich den Begriff "aufgeplustert" gern durch "peinlich" ersetzt hätte, aber das wäre dann wirklich nicht so höflich gewesen - die Randnotiz ist's mir trotzdem wert, du weißt ja sicher, was für Klabauter wir Ersties so sind.Zitat