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Thema: Hermann Hesse - und was er so geschrieben hat

  1. #1

    Hermann Hesse - und was er so geschrieben hat

    Ein Thread über die Literatur Hermann Hesses.
    Einmal, weil das hier das Atelier ist und wir meiner Meinung nach gern mehr über Literatur reden können, die uns interessiert, auch über "Now Reading" hinausgehend. Dann ist Hermann Hesse wohl einer der deutschen "Standard-Autoren", der in der Akademik wie auch in der Schule die breit gefächertsten Reaktionen hervorruft, und ich fände es interessant, hier mal ein paar Meinungen zu seinem Werk zu hören. Und letztendlich ist er zwar nicht mein Lieblingsautor, aber eines seiner Bücher hat mein Leben nachhaltig beeinflusst, und ich rede gern darüber.

    Ich sage schonmal "Discuss!", weil meine folgenden Ausführungen noch etwas spezifischer sind.


    Unterm Rad war grausam, wirklich. Ich musste es Gott sei Dank nicht in der Schule lesen, und ich kann mir vage vorstellen, warum das Buch gern von Schülern verteufelt wird. Ich denke, ohne Zynik, dass dieses Buch als kleine Kurzgeschichte zehnmal besser gewesen wäre - zumal sogar schon der Titel der Geschichte den Inhalt ausreichend (!!) zusammenfasst. Gibt es eigentlich ernst zu nehmende Interpretationen, die über die Aussage des Titels hinausgehen? Dass der Schreibstil lahm ist, macht die Sache nicht besser.

    Der Steppenwolf dagegen ist in meinen Augen ein ganz anderes Kaliber. Das Buch erzählt den Leidensweg eines alternden Mannes und seine Suche nach einer Heilung.
    Ich habe es zweimal gelesen, einmal mit 16 Jahren und jetzt noch einmal mit 23. Beim ersten Mal hat es meine persönliche Entwicklung um geschätzte zwei Jahre vorangetrieben, ohne dass ich auch nur ein Drittel verstanden hätte, und auch diesmal war es wieder eine atemberaubende Erfahrung.
    Aber fangen wir beim Negativen an: Der Steppenwolf beginnt zäh. Das erste Drittel ist praktisch eine einzige Charakterbeschreibung der Hauptfigur, aus verschiedenen Perspektiven, und während ich denke, dass sie durchaus sinnvoll für das Gesamtbild ist, kann ich mir vage vorstellen, wie angepisst man von diesen Seiten sein dürfte, wenn man sich nicht mit dem Protagonisten identifizieren kann. Beim zweiten Durchlauf habe ich dann auch überlegt: Hesse hätte Hermine mal lieber als "echte" zweite Protagonistin gleich zu Beginn einführen sollen, gern auch als Alter Ego in Form von Träumen oder was auch immer. Das hätte die Anzahl der "überlebenden" Leser ohne Übertreibung verdoppelt, weil ihre Problemwelt eben das andere Extrem darstellt, mit dem man sich in diesem Buch identifizieren könnte. Na ja. Die oftmals angepriesene Negativität des Werkes winke ich ab; sie wird durch das Ende des Buches zu 100% umgeworfen.
    Was mich an diesem Buch so beeindruckt, ist die Tiefe der Zerstörung, vor allem in Verbindung mit seiner Zeit. Was dieses Buch alles zerreißt, was es subtil und geschickt unwichtig macht, ist unglaublich. Als ich 16 war und mich (abgesehen von 35 Jahren Lebenserfahrung und ernsteren Suizidgedanken) ziemlich gut mit dem Steppenwolf identifizieren konnte, habe ich förmlich am eigenen Leib gespürt, wie die zunehmend offenere Welt des Buches an mir gezerrt und irgendwie alles in Frage gestellt hat. Das einzige, was ich damals wirklich bewusst kapiert habe, waren a) der Protagonist, und b) gewisse buddhistische Ansätze, aber selbst das hat schon gereicht, um so einige Zweifel und Ideen nach vorne zu drängen, die ich sonst bestimmt noch bis zum Ende der Pubertät verdrängt hätte. Heute sehe ich darin noch viel mehr, ich verstehe das Buch und habe dementsprechend noch eine Menge mehr Respekt vor Hesse. (Und nicht zu wenig Mitleid, wenn er erst 50 werden musste, um solche Probleme anzugehen... kein Wunder, dass er sich umbringen wollte, ey. ) Letztendlich kann man das Buch eine Intelektuellen-Falle nennen, im positiven Sinne. Erst schleimt es sich mit Identifikation und Sympathie beim Leser ein, das nimmt es seine Welt von innen auseinander und macht sich konstruktiv über ihn lustig. Großartig.
    Der Steppenwolf ist auch stylistisch hundertmal interessanter als Unterm Rad. Er schafft beispielsweise Atmosphäre, die über den Titel hinausgeht. Und selbst das "Tractat vom Steppenwolf" (Die Stelle, an der die meisten Leute mit Lesen aufhören ) finde ich ungemein geschickt gemacht.
    Übrigens wird gern behauptet, das Buch wäre so oft falsch verstanden worden, weil die Leser keine Ahnung von östlicher Philosophie hatten. Das ist Bullshit, aber so richtig. Man muss nix vom Weg der Mitte wissen, um das Buch zu verstehen, es ist zwar offensichtlich davon beeinflusst, aber selbst unter psychologischen Gesichtspunkten ganz ohne Religion einwandfrei lesbar. Für jegliches Missverständnis dieses Buches mache ich selektive Wahrnehmung verantwortlich, und (um die Schuld nicht ganz beim Leser zu lassen) das Mindfuck-Ende, das doch noch für die ein oder andere Interpretation offen ist.

    Geändert von La Cipolla (17.12.2010 um 20:57 Uhr)

  2. #2
    Ich habe nur den Demian gelesen und dabei wird es auf absehbare Zeit auch bleiben. Das ist ziemlich genau ein Jahr her und hat mich, rückwirkend betrachtet, weniger beeindruckt, als ich damals angenommen hätte. Lesenswert ist es dennoch.
    Die Form von Mensch- sein, die das Buch hochleben lässt, ist mir zu unaufgeregt. Ich stimme Hesse insofern zu, dass es gut ist zunächst Ruinen zu hinterlassen. Jeder Jugendliche geht durch sein persönliches Tal der Tränen und die meisten verlieren sich entweder darin, oder in ihrer Fremdrettung. Wenn das Ergebnis ein gestandenes Ich ist, dann gut. Nicht so gut ist, dass darauf ein weiteres, endloses Tal der Tränen folgen soll, das dich aufgrund nun erhöhter Leidensfähigkeit nicht mehr vollends brechen kann. Der Weltschmerz hält zwar an, muss sich zugunsten echter, kindlicher Begeisterungsfähigkeit aber zurückziehen und die erreicht man denke ich nur durch eine gesunde Portion Entfesselung der ureigenen Beklopptheit, die zwar weniger feingeistig anmuten mag, als Diskussionen zu Kain und Abel, und den Glauben an eine mächtige Magie, die den dunklen Mief aus der Enklave deines Herzens pustet. Tom Sawyer ist mir der liebere Sinclair und Huckleberry Finn der liebere Demian.

    Sorry, ich weiß selbst nicht mehr wo ich damit hinwollte :/.
    Letztlich fehlt mir für Bücher wie die Hesses die Auffassungsgabe, um ein Jahr nach dem Lesen mehr kommentieren zu können, als ein paar augenscheinliche Kernpunkte. Dafür bin ich schlichtweg zu doof.

    Den Steppenwolf hast du mir dann doch schmackhaft gemacht:
    Zitat Zitat
    Letztendlich kann man das Buch eine Intelektuellen-Falle nennen, im positiven Sinne. Erst schleimt es sich mit Identifikation und Sympathie beim Leser ein, das nimmt es seine Welt von innen auseinander und macht sich konstruktiv über ihn lustig. Großartig.
    Ich mag es zu testen, ob ich meine Welt erschüttert kriege, bzw. zu testen, ob es etwas gibt, von dem ich nicht weiß, dass es meine Welt erschüttern würde, falls es jemals eintritt.

  3. #3
    Zitat Zitat von La Cipolla Beitrag anzeigen
    Unterm Rad war grausam, wirklich.
    Erstmal meine volle Zustimmung. Das Buch hat mir Hesse jahrelang verdorben, ehrlich. Ich finde es auch eine Zumutung, dass man es Acht- bis Zehntklässler lesen lässt, einfach weil es keinerlei Wert für die geisteswissenschaftliche Einordnung Hesses hat und man tatsächlich davon ausgehen muss, dass alle seine Bücher von dieser Sorte sind. Ließe man die Leute beispielsweise Narziß & Goldmund lesen (mehr dazu weiter unten), das Bild Hesses wäre ein völlig anderes. NG lässt sich unheimlich gut lesen, es gibt 1000mal mehr Motive, es ist schön, spannend, mitreißend. Es erfüllt den Zweck der Hessebehandlung in den SekI-Jahrgängen damit auch eine Million mal besser.

    Zitat Zitat
    Gibt es eigentlich ernst zu nehmende Interpretationen, die über die Aussage des Titels hinausgehen? Dass der Schreibstil lahm ist, macht die Sache nicht besser.
    Es gibt bei Hesse ja sowieso schon immer eine Vielzahl von Interpretationsansätzen, weil er es so gut verstanden hat, seine sehr tiefgehende Weltanschauung sehr gut in Romanhandlung zu verpacken (was im Übrigen ein seltenes Talent ist). Allerdings ist die Interpretation von Unterm Rad, soweit ich das kenne, immer relativ eindeutig und bezieht sich eben stets auf die Radthematik und die Kritik am Schulwesen. Unterschiedliche Ansatzweisen gibt es meines Erachtens nur in der Ausklamüserung der Grundoppositionen im Werk und die daraus entstehende Bewertung des Todes Giebenraths, letztendlich kommt es aber auf's Gleiche raus.

    Zitat Zitat
    Übrigens wird gern behauptet, das Buch wäre so oft falsch verstanden worden, weil die Leser keine Ahnung von östlicher Philosophie hatten. Das ist Bullshit, aber so richtig. Man muss nix vom Weg der Mitte wissen, um das Buch zu verstehen, es ist zwar offensichtlich davon beeinflusst, aber selbst unter psychologischen Gesichtspunkten ganz ohne Religion einwandfrei lesbar. Für jegliches Missverständnis dieses Buches mache ich selektive Wahrnehmung verantwortlich, und (um die Schuld nicht ganz beim Leser zu lassen) das Mindfuck-Ende, das doch noch für die ein oder andere Interpretation offen ist.
    Ich finde allgemein, dass man Hesse vor allem im Bezug auf den Steppenwolf viel zu oft auf irgendetwas runterzubrechen versucht, was ihm in keiner Form beizukommen weiß. Ich halte das alles für sehr geschickt und weitsichtig, sogar tiefschürfend und horizonterweiternd. Aber Leute, die anfangen, Hesses Lebensphilosophie in irgendeinen Normenzusammenhang zu setzen und als Regelwerk und Identifikationsmerkmal zu benutzen, machen für meine Begriffe etwas falsch. Hesse ist Entgrenzer, er ist versöhnlich, seine Erzählungen sind immer wieder versöhnlich, letzten Endes erörtert er in seinen Werken schlüssig, wie viel Stärke in einem Menschen steckt und wie richtig es ist, zu scheitern und zu straucheln. Hesse ist allein deshalb so lesenswert, weil er in der Lage ist, das Leben verständlich distanziert zur Betrachtung darzulegen, eine Betrachtung, die über Floskeln wie "Es wird alles wieder gut" und "Das ist nur eine Durststrecke" hinaus, die viel tiefer geht.

    Für meine Begriffe legt er in Narziß und Goldmund sein Weltbild sogar noch ein bisschen besser zugrunde als im Steppenwolf. Es existieren im Werk immer wieder die krassesten Gegensätze, die fehlgeleitete, gesellschaftlich aber sehr verbreitete Maxime, dass prinzipiell alles vorbildlich gut zu laufen hat, wird mit Blick auf ein unheimlich liebenswertes Gesamtbild entwertet. Es ist definitiv das am besten geschriebene Werk Hesses, welches ich bisher gelesen habe, und meine unbedingte Leseempfehlung.

  4. #4
    Hab inzwischen auch Siddartha gelesen und finde es auf einer persönlichen Ebene nochmal besser als den Steppenwolf. Genau wie da auch schon volle Identifizierung meinerseits, ohne mit den oberflächlich liegenden Themen viel am Hut zu haben, klasse gemacht.

    Narziss und Goldmund liegt hier auch noch rum, aber ich denke, ich werde erstmal wieder zu leichterer Literatur übergehen (Artemis Fowl hat noch ein paar Bände ).

  5. #5
    Ich fand Siddartha ziemlich meh. Auf Paulo Coello-Niveau.

  6. #6
    Finde ich interessant. ^^ Woran machst du den Vergleich fest, meinst du die Direktheit der Philosophie darin (heißt, Holzhammerhaftigkeit)?
    Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ich mich mit Hesse simpel und einfach identifizieren kann und mit Coelhos Ideen weniger.

  7. #7
    Zitat Zitat von Ianus Beitrag anzeigen
    Ich fand Siddartha ziemlich meh. Auf Paulo Coello-Niveau.
    Was ja generell nichts schlechtes sein muß.

    Aber ich gebe zu, Siddhartha hat seine Schwächen. Lest Demian.

  8. #8
    Ich weiß nicht, eine Literatur, die maximal darauf getrimmt wurde, in kleine Stückchen für jede Lebenslage zerfetzt zu werden, hat in meine Augen kaum mehr Werkanspruch.

  9. #9
    Hochliteratur ist Coelho sicher nicht, aber ich finde es grandios unterhaltsam -- ist halt Hobbyphilosophie. Gut, man muß mit dieser Wagenladung Sentimentalität, unter der er den Leser begräbt, wirklich was anfangen können … ansonsten bleibt wohl außer bedeutungslosem Kitsch nichts übrig.

  10. #10
    Zitat Zitat
    Ich weiß nicht, eine Literatur, die maximal darauf getrimmt wurde, in kleine Stückchen für jede Lebenslage zerfetzt zu werden, hat in meine Augen kaum mehr Werkanspruch.
    Hm, ich sehe deinen Punkt (VOR ALLEM im Coelho-Kontext...), aber für mich fällt Siddartha definitiv nicht in diese Kategorie. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, nur einen Teil dieses Buches, geschweige denn ein Zitat oder so, kontextlos zu benutzen, krempelt den Inhalt komplett um (wie auch schon beim Steppenwolf!). Denn gerade die gesamte Entwicklung des Hauptcharakters - nicht seine "Erlösung", sondern alle aufeinanderfolgenden Schritte - ist entscheidend. In dem Sinne ist das Buch für mich auch eher die Lebensgeschichte eines Menschen, weniger eine philosophische Parabel für ein "gutes Dasein".
    Und ich denke, ganz ehrlich, dass es Hesse auch nicht darum ging, ein Buch mit Kalenderweisheiten zu produzieren. Die scheinen (!) nur halt auf dem Weg zu entstehen, weil eben der Charakter ja auch durchaus danach sucht. Das meiste davon wird aber dann mit zunehmender Seitenzahl auch wieder demontiert.

    Zitat Zitat
    Aber ich gebe zu, Siddhartha hat seine Schwächen.
    Ja komm, emphasize!

    Generell: Ich kann mir gut vorstellen, dass mein Respekt für diese Geschichte eine sehr persönliche Sache ist; und dementsprechend auch, warum es anderen anders geht. Aber gerade deshalb finde ich die Diskussion auch interessant.

  11. #11
    So, Narziß und Goldmund.

    Zuerst: Großartig. Ich kopiere erst einmal Mordechajs Zitat von vor Monaten, weil ich es sehr treffend finde.
    Zitat Zitat
    Es existieren im Werk immer wieder die krassesten Gegensätze, die fehlgeleitete, gesellschaftlich aber sehr verbreitete Maxime, dass prinzipiell alles vorbildlich gut zu laufen hat, wird mit Blick auf ein unheimlich liebenswertes Gesamtbild entwertet.
    Das, und ähnlich wie der Steppenwolf dekonstruiert sich diese Geschichte einfach konstant selbst. Die wechselnde Perspektive der beiden Protagonisten lässt einen erst zweifeln, und zerschmettert dann eventuelle Ansätze, die es davor angedeutet hat. Die "Lebenswege" werden gegeneinander ausbalanciert, und ich finde, sie werden in der Rezeption des Buchs viel, VIEL zu oft als Gegensätze beschrieben. Goldmund ist meiner Meinung nach durchaus ein sehr "geistiger" Mensch, und Narziß hat ebenso viel "Sinnlichkeit" in sich. Gerade das Zusammenspiel der beschränkten Perspektiven und die Implikation, dass es mit Sicherheit nicht mal die einzigen da draußen sind, ist es, was die Geschichte für mich so interessant und orientierungswürdig macht.
    Außerdem, offensichtlich stockschwule (Ok, bisexuelle) Charaktere in meinen pre-1950-Büchern. Schön.

    Was heute etwas stumpf rüberkommt, ist diese übergestülpte Psychoanalyse. Ich finde es ja nett, wenn ein Autor einen anderen toll findet, aber muss man das an WAS AUCH IMMER MAN GERADE SCHREIBT auslassen? Diese ganze Mutterthematik bringt ihmo keinen Mehrwert für das Buch. Schön dagegen ist die historische Losgelöstheit des Ganzen. Das Mittelalter-Setting kann man eigentlich beliebig austauschen.

    Als nächstes dann wahrscheinlich das Glasperlenspiel.

  12. #12
    Zitat Zitat von La Cipolla Beitrag anzeigen
    Die "Lebenswege" werden gegeneinander ausbalanciert, und ich finde, sie werden in der Rezeption des Buchs viel, VIEL zu oft als Gegensätze beschrieben. Goldmund ist meiner Meinung nach durchaus ein sehr "geistiger" Mensch, und Narziß hat ebenso viel "Sinnlichkeit" in sich. Gerade das Zusammenspiel der beschränkten Perspektiven und die Implikation, dass es mit Sicherheit nicht mal die einzigen da draußen sind, ist es, was die Geschichte für mich so interessant und orientierungswürdig macht.
    Man muss Hesse, meine ich, auch dialektisch denken können, was die meisten allerdings nicht machen, weshalb es zu diesen einseitigen Zuschreibungen kommt. Er (d.i. sein Werk) ist wie ein antiker Epos, in dem Gegensatzpaare Gegensätze zu anderen Gegensatzparen darstellen, die sich in eine noch größere Gegensätzlichkeit einordnen. Sein Postulat ist es ja gerade, dass es keine uneingeschränkte Ganzheit gibt, konsequent müssen dann auch die Gegensätzlichkeiten aus sich selbst gegensätzlichen Komponenten bestehen; bzw. wird Ganzheit erst durch Vereinigung von Gegensätzlichkeiten hergestellt. Mikrokosmos-Makrokosmos, ständig sich drehende Polaritäten, die ein Gesamtspiel ergeben.

    Die Mutterthematik würde ich mehr ebenfalls eher gesamtheitlich verstehen, im Endeffekt stülpst du ja die Psychoanalyse drüber, indem du sagst, es wäre ein psychoanalytischer Topos.
    Ich persönlich halte das eher für eine leitmotivische Zusatzebene in Goldmunds Lebensweg, die natürlich auch psycho-pathologische Züge hat, allerdings steckt da doch noch viel mehr drin. Ich habe das Buch lange nicht mehr gelesen, aber soweit ich weiß war die Mutter zuvorderst die Heilige Mutter (Maria, die Mutter Kirche, damit der Chronotopos 'Narziß' im Kloster) und darüber hinaus ein Gegensatzmodul zu Goldmunds ständigem Vorwärtsstreben (Mutter als Erdkonnotierte, Ruhende --> Verweilen, Rückkehr; Mutter Gaía contra treibende Kraft Hyperion). Sehe hier durchaus soziokulturell und textimmanent viel bessere Ansatzpunkte als in der Psychoanalyse. Wobei du natürlich allein schon dadurch einen Punkt hast, dass sich die Freudianische Deutung bei Hesse immer nahezu aufdrängt (darunter auch: Mutter als 'Es'-Part gegenüber dem bei Hesse meist fatalistischen 'Über-Ich'). Und wir müssen dabei auch sehen, dass Hesse in einer Zeit gelebt hat, in der die Kulturpsyche ein großes Thema war, das durchaus Befriedigung in Form von literarischer Verarbeitung gesucht hat.

    So oder so findest du den maternellen Stoff eigentlich durchgehend immer und immer wieder in der Literatur, es ist dabei angehaucht von dem, was sich im "kulturellen Werden" durchgehalten hat:

    Mutter = Chthonische Gottheiten in der frühen Antike (qua Gaía; Aruru, etc.)
    --> das Behrende und Gebärende (alles wächst aus der Erde hervor und sinkt in die Erde=Unterwelt herab); Ruhe, Beständigkeit, Ewigkeit
    --> Periodizität (ewiges Wiederkehren/Zurückkehren; weiblicher Zyklus, Gezeiten, Jahreszyklus, Tag/Nacht-Wechsel)
    --> Topos der Ur-Natur (in utopischen Modellen: der angestrebte Zustand, welcher den Menschen in Einklang mit seiner Umwelt leben lässt)
    --> Gegensatz zum Olympischen/Aitherischen (qua Hyperion, Zeus, Helios, Athene; Enki, Schamasch, etc.), welches mit Werden, Voranstreben, Macht, Linearität konnotiert ist (--> männliche Attribute)

    Vor allem in der christlichen (aber bereits schon in der griechisch-römisch antiken) Mythologie spielt hier das Jungfrauenmotiv stark mit rein. (Maria als die Jungfrau; eine Reihe der Göttinnen des Olymps sind jungfräulich [Athene, Artemis/Diana]) Die Jungfrau ist dabei die nichtmütterliche Frau, die noch zu Handeln und Werden befähigt ist (im Gegensatz zur ruhenden und lediglich schöpfenden Mutter).

    In der Romantik wird der Männlich-Weiblich-Gegensatz in ähnlicher Weise weiterbehandelt, die Utopie der Rückbesinnung wird mit einer Idealisierung der Frauen-/Muttergestalt gleichgemacht. In Schlegels Lucinde beispielsweise ist die Frau der Pivotpunkt des Spiralwegs des Mannes zur emotionalen Vollkommenheit (= Ausgleich der Gegensätze durch Annäherung in Kreisbahnen).

    Bachofen hat ein ganzes Buch über den maternellen Stoff in verschiedenen Weltkulturen verfasst.

    Mind you here: Das Kloster ist ein Chronotopos, in dem die Zeit praktisch still steht; es ist der Ausgangspunkt von Goldmunds Lebensweg, es ist der Ort, wo er seinen Gegenpart zurücklässt, der Ort, zu dem er sich manchmal zurücksehen mag. Wenn ich mich recht erinnere, durchzieht den Roman in ähnlicher Weise auch die Baumsymbolik (ich glaube es waren vor allem Linden, Kastanien), die nicht nur für die Bemessung des menschlichen Lebens steht (der Baum, der stetig wächst, sich zwar dem Chaos der Umwelt fügt, jedoch standhaft bleibt und deutliche Spuren des langen Lebens trägt), sondern (als Linde) in der mittelalterlichen Symbolik auch Sehnsucht und Verweilen, Liebe und Rückbesinnung repräsentiert (Under der Linden, Am Brunnen vor dem Tore, etc.) . Die Kastanie, die Früchte trägt. Etc. Bäume sind kulturhistorisch meist weiblich(-mütterlich) konnotiert.


    Das muss also nicht zwangsläufig psychoanalytisch zu verstehen sein, es bietet sich in Hesses sozialhistorischen Zusammenhang schnell an. Wir wissen aber, dass er durchaus Erfahrungen mit (historio-)kultureller Vielfalt gemacht hat, weshalb andere, vorwiegend hermeneutische Ansätze auch nicht fern liegen. Darüber hinaus sind wir heutzutage gern mal stark auf psychoanalytische Deutungsansätze sensibilisiert, weil die Psychologie/Psychoanalyse hin und wieder den Hang verspürt, sich als Weltdeutungsmaschine zu präsentieren.

    Geändert von Mordechaj (03.05.2012 um 11:00 Uhr)

  13. #13
    Ja. Ich find's halt schon recht deutlich. Natürlich stopft er da all das, was als Rattenschwanz an die Ratte passt, mit rein, aber alleine die praktische Vorgehensweise, den emotionaleren, ungeistigeren Charakter eine bewusste Verbindung mit der Mutter zuzurechnen (und umgedreht dem anderen eine Gottes- und Vaterliebe), war mir etwas zu stumpf. Dass das auch historisch bedingt ist, ist natürlich klar, und auch ein Teil des Problems; ich persönlich nehme ihm das Ganze in dem mittelalterlichen Hintergrund nicht ganz so essentiell ab, ich lese da deutlich Hesses Zeit zwischen den Zeilen, auch wenn man es natürlich anders verstehen kann.
    Hesses Frauenbild ist auch allgemein ganz interessant. Kommt mir immer auf eine sehr romantische, altmodische Art und Weise ebenso abwertend wie anerkennend vor. Was vor allem deshalb so seltsam ist, weil sein Männerbild im Gegensatz dazu ja durchaus schon ziemlich aufgebrochen ist. Ich nehme mal an, die Frage hat ihn (als Kind seiner Zeit) einfach nicht allzu tiefgründig interessiert. Sonst wäre er da bestimmt über einige Widersprüche gestolpert.

  14. #14
    Ich frag mal hier: Weiß jemand, ob der Siddartha-Film aus 1972 was taugt?

  15. #15
    Nicht gesehen. Aber soll das nicht bald sowieso neu verfilmt werden?

  16. #16
    Soll es? ^^ Cool.

  17. #17
    Ich hab mir jetzt vorgenommen, den Steppenwolf auch mal zu lesen, zusammen mit einer ganzen Reihe anderer "klassiker", kommt gleich an die Reihe nachdem ich mit catcher in the rye durch bin. Du schreibst was von Buddhismus-Bezügen: Wenn man davon keinerlei Plan hat, lohnt es sich dort zuerst rudimentär einzulesen, oder ists nicht nötig fürs Verständnis? (@Cipo)

  18. #18
    Nein, Hesse ist da Gott sei Dank überhaupt nicht hochgestochen. Wenn man Ahnung hat, kann man wohl so einiges davon wiederfinden, aber die wichtigen Aspekte kriegt man auch mit, wenn man noch nie was von Religion gehört hat. Wahrscheinlich erfährt man sogar noch etwas darüber.
    Ich würde sogar so weit gehen und das Ding mit möglichst wenig Wissen anfangen. Danach kann man sich immer noch auf Wiki & Co. zumindest über Hesse informieren (ist in dem Kontext durchaus interessant), aber gerade der Steppenwolf hat imho das Potenzial, auf der persönlichen Ebene sehr intensiv zu werden. Und da ist es natürlich am besten, wenn man nicht durch irgendwelche inhaltlichen Erwartungen gebunden ist.

    Edit: Hui-ui. Der Text ganz oben ist auch schon wieder derbe veraltet, als ich Ahnung von irgendwas hätte, ey. O_o
    Ich darf gar nicht drüber nachdenken, wie viel peinlicher Wirrwarr von mir in diesem Forum existiert ... das Internet vergisst nie.

  19. #19
    @Todestrieb:
    Ich seh das, wie im "zuletzt gekauftes Buch"Thread, wie La Cipolla. Von einer Biografie würde ich abraten, das entfremdet die ganze Sache nur zunehmend. Und eigentlich ist Unterm Rad ziemlich autobiografisch sehr nahe, bei anderen Werken ist das natürlich bis zu einem gewissen Grade auch so. Demian wird dir gefallen, da bin ich mir sicher.
    Aber du wurdest ja jetzt entsprechend beraten. Irgendwo musst du auch mal anfangen.

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