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Thema: Hermann Hesse - und was er so geschrieben hat

Hybrid-Darstellung

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  1. #1
    Zitat Zitat
    Ich weiß nicht, eine Literatur, die maximal darauf getrimmt wurde, in kleine Stückchen für jede Lebenslage zerfetzt zu werden, hat in meine Augen kaum mehr Werkanspruch.
    Hm, ich sehe deinen Punkt (VOR ALLEM im Coelho-Kontext...), aber für mich fällt Siddartha definitiv nicht in diese Kategorie. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, nur einen Teil dieses Buches, geschweige denn ein Zitat oder so, kontextlos zu benutzen, krempelt den Inhalt komplett um (wie auch schon beim Steppenwolf!). Denn gerade die gesamte Entwicklung des Hauptcharakters - nicht seine "Erlösung", sondern alle aufeinanderfolgenden Schritte - ist entscheidend. In dem Sinne ist das Buch für mich auch eher die Lebensgeschichte eines Menschen, weniger eine philosophische Parabel für ein "gutes Dasein".
    Und ich denke, ganz ehrlich, dass es Hesse auch nicht darum ging, ein Buch mit Kalenderweisheiten zu produzieren. Die scheinen (!) nur halt auf dem Weg zu entstehen, weil eben der Charakter ja auch durchaus danach sucht. Das meiste davon wird aber dann mit zunehmender Seitenzahl auch wieder demontiert.

    Zitat Zitat
    Aber ich gebe zu, Siddhartha hat seine Schwächen.
    Ja komm, emphasize!

    Generell: Ich kann mir gut vorstellen, dass mein Respekt für diese Geschichte eine sehr persönliche Sache ist; und dementsprechend auch, warum es anderen anders geht. Aber gerade deshalb finde ich die Diskussion auch interessant.

  2. #2
    So, Narziß und Goldmund.

    Zuerst: Großartig. Ich kopiere erst einmal Mordechajs Zitat von vor Monaten, weil ich es sehr treffend finde.
    Zitat Zitat
    Es existieren im Werk immer wieder die krassesten Gegensätze, die fehlgeleitete, gesellschaftlich aber sehr verbreitete Maxime, dass prinzipiell alles vorbildlich gut zu laufen hat, wird mit Blick auf ein unheimlich liebenswertes Gesamtbild entwertet.
    Das, und ähnlich wie der Steppenwolf dekonstruiert sich diese Geschichte einfach konstant selbst. Die wechselnde Perspektive der beiden Protagonisten lässt einen erst zweifeln, und zerschmettert dann eventuelle Ansätze, die es davor angedeutet hat. Die "Lebenswege" werden gegeneinander ausbalanciert, und ich finde, sie werden in der Rezeption des Buchs viel, VIEL zu oft als Gegensätze beschrieben. Goldmund ist meiner Meinung nach durchaus ein sehr "geistiger" Mensch, und Narziß hat ebenso viel "Sinnlichkeit" in sich. Gerade das Zusammenspiel der beschränkten Perspektiven und die Implikation, dass es mit Sicherheit nicht mal die einzigen da draußen sind, ist es, was die Geschichte für mich so interessant und orientierungswürdig macht.
    Außerdem, offensichtlich stockschwule (Ok, bisexuelle) Charaktere in meinen pre-1950-Büchern. Schön.

    Was heute etwas stumpf rüberkommt, ist diese übergestülpte Psychoanalyse. Ich finde es ja nett, wenn ein Autor einen anderen toll findet, aber muss man das an WAS AUCH IMMER MAN GERADE SCHREIBT auslassen? Diese ganze Mutterthematik bringt ihmo keinen Mehrwert für das Buch. Schön dagegen ist die historische Losgelöstheit des Ganzen. Das Mittelalter-Setting kann man eigentlich beliebig austauschen.

    Als nächstes dann wahrscheinlich das Glasperlenspiel.

  3. #3
    Zitat Zitat von La Cipolla Beitrag anzeigen
    Die "Lebenswege" werden gegeneinander ausbalanciert, und ich finde, sie werden in der Rezeption des Buchs viel, VIEL zu oft als Gegensätze beschrieben. Goldmund ist meiner Meinung nach durchaus ein sehr "geistiger" Mensch, und Narziß hat ebenso viel "Sinnlichkeit" in sich. Gerade das Zusammenspiel der beschränkten Perspektiven und die Implikation, dass es mit Sicherheit nicht mal die einzigen da draußen sind, ist es, was die Geschichte für mich so interessant und orientierungswürdig macht.
    Man muss Hesse, meine ich, auch dialektisch denken können, was die meisten allerdings nicht machen, weshalb es zu diesen einseitigen Zuschreibungen kommt. Er (d.i. sein Werk) ist wie ein antiker Epos, in dem Gegensatzpaare Gegensätze zu anderen Gegensatzparen darstellen, die sich in eine noch größere Gegensätzlichkeit einordnen. Sein Postulat ist es ja gerade, dass es keine uneingeschränkte Ganzheit gibt, konsequent müssen dann auch die Gegensätzlichkeiten aus sich selbst gegensätzlichen Komponenten bestehen; bzw. wird Ganzheit erst durch Vereinigung von Gegensätzlichkeiten hergestellt. Mikrokosmos-Makrokosmos, ständig sich drehende Polaritäten, die ein Gesamtspiel ergeben.

    Die Mutterthematik würde ich mehr ebenfalls eher gesamtheitlich verstehen, im Endeffekt stülpst du ja die Psychoanalyse drüber, indem du sagst, es wäre ein psychoanalytischer Topos.
    Ich persönlich halte das eher für eine leitmotivische Zusatzebene in Goldmunds Lebensweg, die natürlich auch psycho-pathologische Züge hat, allerdings steckt da doch noch viel mehr drin. Ich habe das Buch lange nicht mehr gelesen, aber soweit ich weiß war die Mutter zuvorderst die Heilige Mutter (Maria, die Mutter Kirche, damit der Chronotopos 'Narziß' im Kloster) und darüber hinaus ein Gegensatzmodul zu Goldmunds ständigem Vorwärtsstreben (Mutter als Erdkonnotierte, Ruhende --> Verweilen, Rückkehr; Mutter Gaía contra treibende Kraft Hyperion). Sehe hier durchaus soziokulturell und textimmanent viel bessere Ansatzpunkte als in der Psychoanalyse. Wobei du natürlich allein schon dadurch einen Punkt hast, dass sich die Freudianische Deutung bei Hesse immer nahezu aufdrängt (darunter auch: Mutter als 'Es'-Part gegenüber dem bei Hesse meist fatalistischen 'Über-Ich'). Und wir müssen dabei auch sehen, dass Hesse in einer Zeit gelebt hat, in der die Kulturpsyche ein großes Thema war, das durchaus Befriedigung in Form von literarischer Verarbeitung gesucht hat.

    So oder so findest du den maternellen Stoff eigentlich durchgehend immer und immer wieder in der Literatur, es ist dabei angehaucht von dem, was sich im "kulturellen Werden" durchgehalten hat:

    Mutter = Chthonische Gottheiten in der frühen Antike (qua Gaía; Aruru, etc.)
    --> das Behrende und Gebärende (alles wächst aus der Erde hervor und sinkt in die Erde=Unterwelt herab); Ruhe, Beständigkeit, Ewigkeit
    --> Periodizität (ewiges Wiederkehren/Zurückkehren; weiblicher Zyklus, Gezeiten, Jahreszyklus, Tag/Nacht-Wechsel)
    --> Topos der Ur-Natur (in utopischen Modellen: der angestrebte Zustand, welcher den Menschen in Einklang mit seiner Umwelt leben lässt)
    --> Gegensatz zum Olympischen/Aitherischen (qua Hyperion, Zeus, Helios, Athene; Enki, Schamasch, etc.), welches mit Werden, Voranstreben, Macht, Linearität konnotiert ist (--> männliche Attribute)

    Vor allem in der christlichen (aber bereits schon in der griechisch-römisch antiken) Mythologie spielt hier das Jungfrauenmotiv stark mit rein. (Maria als die Jungfrau; eine Reihe der Göttinnen des Olymps sind jungfräulich [Athene, Artemis/Diana]) Die Jungfrau ist dabei die nichtmütterliche Frau, die noch zu Handeln und Werden befähigt ist (im Gegensatz zur ruhenden und lediglich schöpfenden Mutter).

    In der Romantik wird der Männlich-Weiblich-Gegensatz in ähnlicher Weise weiterbehandelt, die Utopie der Rückbesinnung wird mit einer Idealisierung der Frauen-/Muttergestalt gleichgemacht. In Schlegels Lucinde beispielsweise ist die Frau der Pivotpunkt des Spiralwegs des Mannes zur emotionalen Vollkommenheit (= Ausgleich der Gegensätze durch Annäherung in Kreisbahnen).

    Bachofen hat ein ganzes Buch über den maternellen Stoff in verschiedenen Weltkulturen verfasst.

    Mind you here: Das Kloster ist ein Chronotopos, in dem die Zeit praktisch still steht; es ist der Ausgangspunkt von Goldmunds Lebensweg, es ist der Ort, wo er seinen Gegenpart zurücklässt, der Ort, zu dem er sich manchmal zurücksehen mag. Wenn ich mich recht erinnere, durchzieht den Roman in ähnlicher Weise auch die Baumsymbolik (ich glaube es waren vor allem Linden, Kastanien), die nicht nur für die Bemessung des menschlichen Lebens steht (der Baum, der stetig wächst, sich zwar dem Chaos der Umwelt fügt, jedoch standhaft bleibt und deutliche Spuren des langen Lebens trägt), sondern (als Linde) in der mittelalterlichen Symbolik auch Sehnsucht und Verweilen, Liebe und Rückbesinnung repräsentiert (Under der Linden, Am Brunnen vor dem Tore, etc.) . Die Kastanie, die Früchte trägt. Etc. Bäume sind kulturhistorisch meist weiblich(-mütterlich) konnotiert.


    Das muss also nicht zwangsläufig psychoanalytisch zu verstehen sein, es bietet sich in Hesses sozialhistorischen Zusammenhang schnell an. Wir wissen aber, dass er durchaus Erfahrungen mit (historio-)kultureller Vielfalt gemacht hat, weshalb andere, vorwiegend hermeneutische Ansätze auch nicht fern liegen. Darüber hinaus sind wir heutzutage gern mal stark auf psychoanalytische Deutungsansätze sensibilisiert, weil die Psychologie/Psychoanalyse hin und wieder den Hang verspürt, sich als Weltdeutungsmaschine zu präsentieren.

    Geändert von Mordechaj (03.05.2012 um 10:00 Uhr)

  4. #4
    Ja. Ich find's halt schon recht deutlich. Natürlich stopft er da all das, was als Rattenschwanz an die Ratte passt, mit rein, aber alleine die praktische Vorgehensweise, den emotionaleren, ungeistigeren Charakter eine bewusste Verbindung mit der Mutter zuzurechnen (und umgedreht dem anderen eine Gottes- und Vaterliebe), war mir etwas zu stumpf. Dass das auch historisch bedingt ist, ist natürlich klar, und auch ein Teil des Problems; ich persönlich nehme ihm das Ganze in dem mittelalterlichen Hintergrund nicht ganz so essentiell ab, ich lese da deutlich Hesses Zeit zwischen den Zeilen, auch wenn man es natürlich anders verstehen kann.
    Hesses Frauenbild ist auch allgemein ganz interessant. Kommt mir immer auf eine sehr romantische, altmodische Art und Weise ebenso abwertend wie anerkennend vor. Was vor allem deshalb so seltsam ist, weil sein Männerbild im Gegensatz dazu ja durchaus schon ziemlich aufgebrochen ist. Ich nehme mal an, die Frage hat ihn (als Kind seiner Zeit) einfach nicht allzu tiefgründig interessiert. Sonst wäre er da bestimmt über einige Widersprüche gestolpert.

  5. #5
    Ich frag mal hier: Weiß jemand, ob der Siddartha-Film aus 1972 was taugt?

  6. #6
    Nicht gesehen. Aber soll das nicht bald sowieso neu verfilmt werden?

  7. #7
    Soll es? ^^ Cool.

  8. #8
    Ich hab mir jetzt vorgenommen, den Steppenwolf auch mal zu lesen, zusammen mit einer ganzen Reihe anderer "klassiker", kommt gleich an die Reihe nachdem ich mit catcher in the rye durch bin. Du schreibst was von Buddhismus-Bezügen: Wenn man davon keinerlei Plan hat, lohnt es sich dort zuerst rudimentär einzulesen, oder ists nicht nötig fürs Verständnis? (@Cipo)

  9. #9
    Nein, Hesse ist da Gott sei Dank überhaupt nicht hochgestochen. Wenn man Ahnung hat, kann man wohl so einiges davon wiederfinden, aber die wichtigen Aspekte kriegt man auch mit, wenn man noch nie was von Religion gehört hat. Wahrscheinlich erfährt man sogar noch etwas darüber.
    Ich würde sogar so weit gehen und das Ding mit möglichst wenig Wissen anfangen. Danach kann man sich immer noch auf Wiki & Co. zumindest über Hesse informieren (ist in dem Kontext durchaus interessant), aber gerade der Steppenwolf hat imho das Potenzial, auf der persönlichen Ebene sehr intensiv zu werden. Und da ist es natürlich am besten, wenn man nicht durch irgendwelche inhaltlichen Erwartungen gebunden ist.

    Edit: Hui-ui. Der Text ganz oben ist auch schon wieder derbe veraltet, als ich Ahnung von irgendwas hätte, ey. O_o
    Ich darf gar nicht drüber nachdenken, wie viel peinlicher Wirrwarr von mir in diesem Forum existiert ... das Internet vergisst nie.

  10. #10
    @Todestrieb:
    Ich seh das, wie im "zuletzt gekauftes Buch"Thread, wie La Cipolla. Von einer Biografie würde ich abraten, das entfremdet die ganze Sache nur zunehmend. Und eigentlich ist Unterm Rad ziemlich autobiografisch sehr nahe, bei anderen Werken ist das natürlich bis zu einem gewissen Grade auch so. Demian wird dir gefallen, da bin ich mir sicher.
    Aber du wurdest ja jetzt entsprechend beraten. Irgendwo musst du auch mal anfangen.

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