TRACK II – MY GIRL, MY GIRL, DON'T LIE TO ME
Wer, oder eher gesagt: Was trennt einen Kopf so klar und widerstandslos mit einer dermaßenen Vollendung von einem Hals, dass der Blutspritzer aus der klaffenden Wunde in einer fast perfekt diagonalen Linie über den Boden verteilt wurde?
Man müsste ein Profi sein, um solch eine exzellente Arbeit zu vollbringen. Ein Meister seines Handwerks – wenn Töten überhaupt ein eingetragenes Handwerk wäre – müsste derjenige sein, welcher mit der Grazie einer russischen Ballettänzerin durch einen Raum wirbelt mit einer Machete oder einem ähnlichen Werkzeug bewaffnet, auf dem Weg zusätzlich mit einer Kleinkaliberpistole um sich schießt und insgesamt zwölf Menschen tötet.
Ein Meister seines Handwerks. Genauso wie ein van Gogh mit dem Pinsel ist dieser Attentäter – hier steckt das Wort „Täter“ sozusagen im Wort des zu Beschreibenen – mit der Waffe, oder besser: den Waffen, eins geworden. Die Sache war – wie soll ich es ausdrücken – persönlich. Nichts hier lässt Indizien darauf zu, dass in Notwehr gehandelt wurde. Die Person – wobei „Person“ ein Terminus ist, welcher dem Täter nicht im Ansatz gerecht wird, meiner Meinung nach – war sozusagen die attackierende Masse gegenüber der jetzigen Opfer.
Was sagen Sie? Es hätten mehrere Täter sein können?
Nun, werter Kollege, wenn sie einen genauen Blick werfen auf den Fußboden, dann werden Sie – Sie sind schließlich ebenfalls Kripobeamter wie meinereiner – schnell bemerken, dass die Opfer in ihrer derzeitigen Position – also so, wie wir sie hier vorgefunden haben – in einer linearen Konstellation darniederliegen, was darauf zurückschließen lässt, dass der Angreifer sie aus dem Hinterhalt überraschte und sich nach und nach einen nach dem anderen schnappte, brutal massakrierte und auf diejenigen, welche schlau genug waren, sich im Hintergrund zu verkriechen, das Feuer eröffnete. Die angsterfüllten Todesgrimassen der Ermordeten lassen ebenfalls darauf schließen, dass sie in einem Moment der Überraschung getötet worden sind.
Zudem muss ich ergänzen, dass die Art und Weise, auf welche die Beteiligten ermordet wurden, eine derartige, urmenschliche Brutalität aufweist, dass ich nichts weiter sagen kann als: Hier ist aus persönlichen, aus tiefem Hass resultierten Gefühlen gehandelt worden. Was hier passierte, hatte einen Grund. Wir – meine Damen und Herren – müssen herausfinden, was der Prolog zu dieser Tragödie ist. So sieht es aus. Und nicht anders.
Frau Drescher? (Die dämliche Kuh schaut mich schon seit dem Anfang meines Vortrags an, als hätte ich sie nicht mehr alle.)
Könnten Sie mir eventuell den Kollegen Max von Holdt ans Telefon holen? (Und zwar schnell du blöde Fotze?)
Ja, es ist wichtig. Ansonsten hätte ich bestimmt nicht gefragt, oder? (Schnepfe. Ich bin seit zwölf Jahren im Dienst. Ich war psychologischer Berater des Polizeipräsidenten, verdammt nochmal! Natürlich ist es wichtig du dumme Nuss!)
Sehen Sie, so beantwortet sich Ihre Frage ob der Wichtigkeit meiner Anforderung doch von ganz alleine, oder?
Danke sehr. (Und jetzt verpiss dich zurück zu den Leichen, welche genausoviel Gehirnfunktionen aufweisen dürften wie du. Unfähige Vollpfosten, wohin das Auge reicht.)
Max? Ja, ich bin's. (Er ist der einzige Mann den ich kenne, der mit dem abgewichstesten Abschaum dieser Stadt fertig wird. Er wird wissen, wie man am besten an diesen Fall herangehen kann.)
Sag' mal, du hattest doch den Fall vor zwei Jahren mit dem toten Untergrund-Pornoregisseur?
Ja genau: Ingolf Bang. (Alleine das auszusprechen löst in mir Ekelgefühle aus.)
Pass auf: Ich glaube, es beginnt von vorne.
(Hoffentlich nicht.)
„Hoffentlich nicht, was?“, fragte ich sie. Wir standen am Fenster im Flur und rauchten eine Zigarette. Es war halb drei Uhr nachts. Ich konnte mal wieder nicht schlafen. Sie auch nicht. Also standen wir jeden Abend hier und erzählten uns einige Schwanks aus unserer Jugend. Oder halt auch nicht. An manchen Abenden fanden wir uns hier einfach nur so ein und schwiegen uns an. Das reichte mir meistens schon als zwischenmenschlicher Kontakt.
„Hoffentlich nicht schon wieder er.“, sagte Husky mit belegter Stimme und schaute betroffen zu Boden. Sie sprach wohl von ihrem komischen Psycho-Freund, der mich vor zwei Tagen heimsucht und mir mit Mord gedroht hatte, sollte ich mich weiter mit ihr treffen. Ich hatte ihr erzählt, dass irgendwer letzte Nacht durch mein Zimmer gerannt war. Es war definitiv nicht Husky gewesen und auch nicht ein Teil meiner Einbildung. Es war jemand oder etwas anderes. Sehr komisch, das Ganze.
„Er ist nicht...“, sie suchte nach den passenden Worten, während sie traurigen Blickes an ihrer Zigarette zog, „... immer so gewesen.“
„Du kennst ihn schon länger?“, fragte ich und seufzte aufgrund der dieses Mal besonders penetranten Schmerzen.
„Länger? Mein ganzes Leben lang.“
„In welchem Zimmer ist er untergebracht? Ansonsten könnten wir ja mit ihm...“
„Er ist nicht hier.“, unterbrach sie mich.
Ich nickte.
„Er bricht alle paar Wochen hier ein und sieht nach, ob es mir gut geht. Keine Ahnung, wie er immer an den Wachmännern vorbeikommt.“, sie drehte sich zu mir und sah mich an, „Aber er tut's.“
Ich ließ das kurz sacken, bevor ich den Gesprächsfaden wieder aufnahm. „Tut er dir weh?“
Sie antwortete zunächst nicht, aber ich sah an ihrem nervösen Blick, dass sie überlegte, was sie sagen sollte. Sie rang sich dazu durch, ein wenig kryptisch „Nein, im Gegenteil.“ zu sagen.
„Er beschützt dich?“
„Ja.“
„Vor wem?“
„Vor Menschen.“
Mit diesen Worten löschte sie die Zigarette in einem halbvollen Kaffeebecher, der auf der spärlich beleuchteten Fensterbank stand. Es zischte lautstark und sie sah sich kurz an, wie die Glut langsam erlosch.
„Ich will nie wieder über ihn reden. Nie wieder.“
Dann trottete sie zurück in ihr Zimmer, ohne mir wie sonst eine gute Nacht zu wünschen oder ähnliches. Sie verschwand einfach gesenkten Hauptes aus meinem Blickfeld. Ich sah ihr hinterher und schaute ihr etwas nonchalant auf den Hintern, obwohl ich genau das nicht machen wollte. Scheiß Urinstinkte.
In dieser Nacht schlief ich kaum. Ich hatte Angst vor... Vor irgendetwas. Fragt mich nicht, vor was. Vielleicht davor, dass ihr komischer Freund kommen und mich mit einem Küchentablett enthaupten würde.
ich habe angst
Vielleicht hatte ich Angst davor zu glauben, dass ihre Geschichte über ihn totaler Schwachsinn ist. Dass mehr daran war. Wie kam sie überhaupt hierher? Sie war zwar etwas verwirrt, aber nicht geisteskrank.
er ist so nett zu mir
zu nett
viel zu nett
was denkt er sich was ich bin
leicht zu haben
oder ist er nur nett weil er nett sein möchte
aus mitleid
Mein Kopf explodierte fast bei all den Gedanken daran, was passieren könnte, wenn ich einmal unachtsam wäre. Was falsches sagen würde. Was falsches tun würde.
Ich hörte ein leises Wimmern ein paar Zimmer weiter. Husky? Die Olle aus dem Kung Fu-Zimmer, in dem schon länger keine Action mehr gewesen war? Irgendwer anders aus der Hirni-Abteilung?
Mit diesem Gedanken schlief ich ein, um am nächsten Morgen mal wieder mit ein freundlichen „Moin!“ aus dem Halbschlaf gerissen zu werden.
Schmerzmittel, Frühstück, Schmerzmittel, Kippenpause mit Eileen, Schmerzmittel, Mittagessen, einschlafen, aufwachen, Schmerzmittel, Abendessen, Kippenpause ohne Eileen, warten bis es dunkel wird, auf Husky warten, ab ans Fenster, sich gegenseitig anschweigen und rauchen, zurück ins Zimmer, einschlafen, aufwachen, Schmerzmittel, Frühstück, Schmerzmittel, Kippenpause mit Eileen, Schmerzmittel...
So ging das die nächsten Tage. Husky redete kein Wort mit mir, seit ich das Thema mit ihrem Freund angeschnitten hatte. Trotzdem trafen wir uns und gingen zum Fenster. Warum? Weil wir die einzigen beiden hier waren, die etwas miteinander zu tun haben wollten, schätze ich. Weil ich keine blöden Fragen stellte und sie niemals etwas sagte, was überflüssig war. Es sei denn, sie war von ihrer Medikation runter, dann sabbelte sie ohne Punkt und Komma drauf los als wäre sie auf Speed.
Es war die Nacht von Dienstag auf Mittwoch, als sie mich aus meinem zur Abwechslung mal recht geruhsamen Schlaf weckte. Es war kurz vor halb zwei Uhr nachts.
„Hi!“, grinste sie mich an, „Ist okay, wenn ich dich wecke, ne? Ich wollte dich nicht wecken, ne? Also schon, aber irgendwie dachte ich darüber nach, wie ich dich am besten wecken könnte und dachte dann, dass ich dich am besten anspreche und wachrüttel' oder dir einfach den Katether abziehe und du dich dann vollpinkelst und wach wirst und mich dann anschreist, aber dann wenigstens wach bist, aber ich dachte dann 'Das ist 'ne doofe Idee!' und hab ich einfach wachgerüttelt und 'Hi!' gesagt. Ist das okay für dich?“
Mein sich immer noch im Halbschlaf befindliches Gehirn wusste nicht, wo es anfangen sollte, diesen Wortsalat zu verarbeiten. Also nickte ich einfach und begrüßte sie mit einem trägen „Na, was geht?“.
„Nicht viel, also nur ich über den Flur, sonst geht grade nix.“, ratterte sie ihren Text runter und fixierte mich mit ihren Augen, die wieder so hellblau leuchteten, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatten.
„Ich hab' an dich gedacht.“, fügte sie flüsternd hinzu.
„Ach ja? Gute Gedanken?“, fragte ich und gähnte dabei ein wenig.
„Ja.“
„Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?“
„Ich will Sex mit dir.“
Vor Schreck hüpfte ich vom Krankenbett herunter und stand nun in Defensivposition am Fenster.
„Wie?“, fragte ich zögerlich und sah sie an, wie sie grinsend ihr Patientenhemd aufknöpfte.
„Ich dachte an Sex, also dachte ich danach an dich, und dann haben meine Gedanken dazu geführt, dass ich dachte: 'Sex mit dem Dude!'“, sie nickte bei den letzten vier Worten und gab mir den Blick auf ihr nacktes Antlitz frei, als das Nachthemd an ihrem Körper herunterrutschte und auf dem Boden ankam.
„Ich halte das ehrlich gesagt nicht für 'ne gute Idee, Husky...“, sagte ich langsam. Das hatte nichts damit zu tun, dass sie am liebsten nicht hart rangenommen hätte. Gute Freunde schlafen halt ab und zu auch miteinander. Nein, das Problem war das verfickte Röhrchen in meinem Penis, ohne das ich nicht ordentlich Wasser lassen konnte, weil mir ansonsten der komplette Unterleib wehgetan hätte. Sie grinste breiter und kam immer näher. Also wiederholte ich im diplomatischen Ton, was ich einige Sekunden zuvor gesagt, was sie allerdings wohl überhört hatte:
„Husky, ich halte das für keine gute Idee.“
Ich hatte keine Möglichkeit, meinen „Ich kann nicht mit dir schlafen mit einem Strohhalm im Piepmatz“-Gedanken laut auszusprechen. Ihr Blick verfinsterte sich zusehens. Blitzschnell schnappte sie sich ihre Klamotte und zog sie notdürftig hoch, um ihren Oberkörper zu verdecken. Das Leuchten in ihren Augen war noch da, aber es strahlte nicht die endlose Freude und Lebhaftigkeit aus, wie es sonst bei ihr der Fall gewesen war.
„Ich weiß, was du sagen willst.“, flüsterte sie im aggressiven Tonfall.
„Was? Äh...“, kam es aus meinem Mund gepurzelt.
„Die Narben. Ich weiß. Die verschissenen Narben.“
„Welche verdammten Narben?“, fragte ich, während sie das Patientenhemd wieder fallen ließ und ihre Hände vor's Gesicht hielt.
„Die verfickten Narben du Arschloch!“, schrie sie mich an. Urplötzlich, aus irgendeinem Reflex ihrerseits heraus, rannte sie, die Fäuste geballt, auf mich zu.
Ich konnte gerade noch so ihre Handgelenke packen, aber es half nichts. Es ruhte eine derartige Stärke in ihren Armen, dass die linke Faust unaufhaltsam auf mich zuraste und mich am Kinn traf. Ich stürzte zu Boden und konnte mich glücklicherweise noch kurzzeitig am Fenstersims festhalten. So kam ich wenigstens auf dem Bauch auf und nicht, wie das letzte Mal als ich wegen Husky fiel, auf dem Steißbein.
Ich lag am Boden und konnte nicht aufstehen. Meine Gesicht tat weh und am liebsten wäre ich auf der Stelle ohnmächtig geworden. Ich blickte nach oben. Sie weinte wie ein Schlosshund und wiederholte die Worte „Es tut mir lied!“ in einem eher beunruhigenden Flüsterton. Sie setzte sich vor mich hin, immer noch nackt, wie Gott sie schuf. Sie drehte ihren Oberkörper ein wenig nach links und zeigte mir, was sie mit den „Narben“ meinte.
Es müssten wenigstens dreißig Kratzer, Hämatome, Einstichwunden und ähnliche Verletzungen gewesen sein, durch welche ihr Rücken derartig verunstaltet worden war. Diese Spur des Schmerzes zog sich über den kompletten Rückenbereich, vom Ansatz der Schultern bis kurz über dem Hintern. Auf ganzer Breite die Folgen extremer Gewalt. Ich versuchte, unter entsetzten und erschöpften Seufzern aufzustehen. Sie saß immer noch da und schaute zu Boden.
„Loveleash.“, sagte sie nur.
„Loveleash, wer?“, fragte ich, nachdem ich mich am Fenstersims hochgezogen hatte und wieder einigermaßen stehen konnte. Übelkeit, mehr konnte ich als Gefühlslage momentan nicht bieten.
„Loveleash, ich. Sie nannten mich so.“
„Wer?“
„Alle.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das freundlichste Wesen auf der Welt hatte sich vor meinen Augen erst in ein sexhungriges Etwas und danach in eine Kampfmaschine verwandelt, um danach wieder zu dem Status quo zu gelangen, in dem sie sich die letzten paar Tage befunden hatte.
„Komm', zieh' dir was an.“
„Es war nicht wegen der Narben?“, fragte sie mit bebender Stimme.
„Nein. Ich konnte sie nicht sehen.“
„Was hast du dann gesehen, was dir nicht gefiel?“
Wohin sollte dieses Gespräch führen? Ich wusste es nicht und entschloss mich dazu, von dem ganzen Narben-Thema erst einmal abzulenken.
„In meiner Harnröhre steckt ein Katheter, schon vergessen?“
„'Es liegt an mir, nicht an dir.'“, äffte sie eine Männerstimme nach.
„Genau.“
„Typisch Typen.“
„Ich weiß. Alles Asis.“
„Nein.“, sagte sie und stand auf. Ich konnte nicht anders, als ihr dabei die ganze Zeit auf den Hintern zu glotzen. Als sie sich umdrehte, fielen meine Blicke kurz auf alles andere, was sich unter ihrem Gesicht befand. Die B-Cup-Brüste. Die ziemlich schlanke Tailie, die Aufschluss darüber gab wie wenig sie hier aß. Die halbwegs rasierte Scham. Ich fokussierte mich für ein paar Augenblick auf die Einzelheiten ihres Körpers, um danach mit den Augen wieder zu ihrem Gesicht zu wandern.
„Du nicht.“, flüsterte sie und kam immer näher. Immer näher. Ein Kuss. Ein verdammt langer Kuss. Meine Hände an ihrem Po.
He'd walk her every day into a shady place.
Alles um mich herum verschwimmt zu einem schlechten Videoeffekt. Emotionaler Tunnelblick auf das rothaarige Wesen vor mir und den Kuss meines Lebens. Merkwürdig: Vorhin dachte ich, sie würde nur mit mir schlafen wollen. Eben gerade dachte ich, sie würde mich totprügeln wollen. Jetzt denke ich, dass sie einfach nicht alleine sein möchte mit ihren Narben.
He's like the dark, but I'd want him.
Und ich möchte nicht mit den meinigen alleine sein.
Deshalb treffen wir uns auch und werden in Ruhe gelassen von der Außenwelt, wie es scheint.
Denn keiner will alleine sein mit seinen Narben.
Egal, welcher Art.
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Geändert von T.U.F.K.A.S. (11.01.2011 um 23:22 Uhr)