Erynn stand -oder vielmehr schwebte- mitten in der seltsamen Schwärze. Sie spürte nichts, keine Kälte, keinen Schmerz. Das gräßliche Spinnenvieh war verschwunden. Vielleicht bin ich tot?
Plötzlich fühlte sie sich nach unten gezogen, mit dem Rücken auf eine harte Unterlage gedrückt. Leises Gemurmel plätscherte über sie hinweg. Die Stimme einer Frau. Die Elfin schlug die Augen auf. Sie lag auf einem steinernen Tisch. Als sie versuchte sich aufzurichten stellte sie fest, daß ihre Hände und Füße gefesselt waren. Ein Gesicht schob sich über sie – Das mußte Torrah sein. Der Kaiserliche hatte recht gehabt: Sie war perfekt. Ein Abbild göttlicher Schönheit. Erynn haßte sie vom ersten Augenblick an.
„Ihr seid wach, sehr gut.“ Die Frau lächelte, doch ihre Augen blieben kalt, während sie ihren Blick über den Körper der Kriegerin wandern ließ. „Vielversprechend“, sagte sie mit einem anerkennenden Nicken. „Arranges hat ein gutes Auge für solche Dinge.“ Mit einer hauchzarten Berührung fuhr sie Erynns Kinnlinie entlang.
„Welche Dinge?“ würgte die Dunkelelfin hervor. „Was habt Ihr vor?“ Ein glockenhelles Lachen. „Ich? Gar nichts. Ich bin nur ein Beobachter.“
„Laßt mich gehen“, verlangte Erynn.
„Was denn? Nachdem sich mein... Kollege so viel Mühe gegeben hat, Euch hierher zu bringen?“ sie zog eine elegante Augenbraue hoch. „Und Ihr seid ihm gefolgt, brav wie ein Lämmchen. Die strahlende Gildenkriegerin auf einer großartigen Queste... ich hörte, daß es zu Anfang gar nicht so einfach war, Euch zu überzeugen. Doch der Seelenteil in dem Amulett gab Euch schließlich den nötigen Antrieb, nicht wahr? Ihr wolltet helfen. Gutes tun. Das Leid einer Kreatur beenden, die längst jenseits jeder Hilfe ist.“
Wie bedauernd schüttelte sie den Kopf. „Dummes Ding.“ Torrah begann den Tisch zu umkreisen. „Wißt Ihr, es ist gar nicht so einfach, an geeignetes Material zu kommen. Man kann nicht einfach hingehen und irgendwelche Leute entführen. Das erregt zwangsläufig irgendwann Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, die wir nicht wollen. Es ist viel effizienter, wenn unsere Ziele sich freiwillig in unsere Hände begeben. Wenn ihre Angehörigen wissen, daß sie sich auf eine Reise begeben... von der sie dann leider nicht zurückkehren. Und Ihr habt das ganze Spiel so wunderbar mitgemacht. Es liegt fast so etwas wie Ästhetik darin.“
Die Elfin zerrte an ihren Fesseln. „Ihr seid tot, Torrah!“ spie sie der schrecklichen Frau entgegen. „Euer ‚Kollege’ ist hier, um Euch zu vernichten!“ Die Andere lachte wieder, aber diesesmal klang es unangenehm. „Versteht Ihr immer noch nicht? Noch nicht einmal im Angesicht des Todes? Nun, das macht nichts. Euer Gehirn brauchen wir nicht, da spielt es keine Rolle, daß es unterentwickelt ist. Es genügt, daß Euer Körper stark ist. Wirklich, ich habe schon lange nicht mehr mit einem so ausgezeichneten Exemplar arbeiten können.“ Sie beugte sich wieder zu Erynn herunter. „Ihr solltet Euch geschmeichelt fühlen.“
Sie zog sich zurück, und eine andere Gestalt nahm Ihren Platz ein. Der Kaiserliche. Mit einiger Mühe hob die Kriegerin den Kopf. „Arranges! Seht Euch vor, sie ist hier. Torrah ist hier...“ Der Nekromant hob die Hand und strich ihr unendlich zärtlich das Haar aus der Stirn. „Ich weiß“, sagte er sanft. „Ich habe sie hierher bestellt.“
Das kalte Grausen packte die Dunkelelfin, als eine elegante, schmale Klinge in der Hand des Nekromanten aufblitzte. Ihre Schreie, die von den Wänden der Grotte widerhallten, hatten nichts menschliches mehr.

Sie schwebte durch kalten, feuchten Nebel – nein, sie schien vielmehr ein Teil davon zu sein. Ihr Leib war nur noch ein Schatten. Substanzlos und ohne Gewicht. Erynn schaute sich an dem seltsamen Ort um. Da waren noch mehr Schatten um sie herum. Sie schienen zu wispern, in hohen, klagenden Tönen. Sie wandte sich einem von ihnen zu: Sein Gesicht war verzerrt, eine Maske des Leids. „Wo bin ich hier?“ fragte sie. Der Schatten sah sie mit gebrochenen Augen an. „Hinter dem Schleier. In der Totenwelt.“
„Ich bin tot? Aber... dieser Ort. Die Geisterebene sollte ein warmer, friedlicher Platz sein, an dem die Seelen sich wiederbegegnen. Hier ist es überhaupt nicht so.“ Der Andere stieß ein humorloses, frostiges Lachen aus. „Für die freien Seelen ist das wohl so. Aber Ihr seid nicht frei, ebensowenig wie ich. Ihr gehört demjenigen, der Euch hierher verbannt hat, werdet ihm zu Diensten sein, wann immer er Euch an seine Seite ruft... zurück in die Sphäre der Lebenden. Und seid gewiß, Ihr werdet diese kurzen Ausflüge schätzen lernen. Nicht einmal die wache Welt ist so bitter wie das hier.“ Er machte eine allesumfassende Geste. „Hier gibt es keine Wärme. Keinen Frieden. Und solange Ihr noch schwach seid...“ der Ausdruck in dem geisterhaften Antlitz verzog sich zu einer häßlichen Fratze „... seid Ihr nur Beute.“
Erynn warf sich herum und floh.


Sie erwachte. Zuerst hörte sie nur das Summen von Insekten und roch brennendes Holz. Ihre Lider öffneten sich flatternd. Als sie Arranges Gesicht so dicht an ihrem eigenen erblickte, war der erste Impuls, sich kriechend in Sicherheit zu bringen. Ihr Körper jedoch gehorchte den Befehlen noch nicht wieder.
Nach und nach gelang es ihr, Realität von Alptraum zu trennen. Ein Gewicht, das ihr in letzter Zeit so vertraut geworden war, fehlte. „Wo sind meine Waffen?“ krächzte sie. Von allen Fragen ist augerechnet das die erste, die du stellst? Vielleicht ist für deinen Weg als Kämpferin doch noch nicht alles verloren.
„Ich mußte sie zurücklassen, als ich Euch aus der Höhle geschleppt habe“, antwortete Arranges mit einem leicht amüsierten Grinsen. Erynn überlegte angestrengt. „Oh“, meinte sie schließlich mit schwacher Stimme. „Das ist irgendwie blöd. Dabei kann ich noch nicht einmal zaubern, um mich zu verteidigen...“ Sie lachte leise. Es klang ziemlich hysterisch.
Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, fragte sie: „Torrah lebt nicht mehr, oder?“ „Nein. Es ist vorbei.“
„Jammerschade“, flüsterte sie noch, bevor ihr das Bewußtsein wieder schwand. „Ich hätte sie gerne für Euch getötet.“