Für den Rest des Tages blieb sie von Arranges’ Hochmut verschont, und auch am darauffolgenden verhielt er sich angenehm zurückhaltend. Er war -wie zu erwarten- nicht glücklich als sie ihm mitteilte, daß sich ihr Ziel bewegte, blieb aber ruhig, wie sie erleichtert feststellte. Die finsteren Blicke, bei denen sie ihn hin und wieder ertappte, beunruhigten sie jedoch. Abgehackte, unfreundliche Antworten war sie ja mittlerweile gewöhnt. Da kommt noch was nach. Du hast es mal wieder übertrieben, Erynn – soviel zu ‚Vertrauen’. Warum zum Henker konntest du es nicht einfach auf sich beruhen lassen?

Sie lauschte genauer als je zuvor auf das Amulett. Es hatte praktisch gequält aufgeschrien, als sich die Distanz zu dem Buch wieder vergrößerte. Noch immer ließ sich das unermeßliche Leid spüren, wenn sie ihre Hand auf den eingelassenen Stein legte. „Ich weiß“, flüsterte sie ihm dann manchmal leise zu. „Ich bringe dich zurück, versprochen. Du mußt mir nur sagen, wohin ich gehen soll.“ Das heftige Pochen schien dann für eine Weile ruhiger zu werden, schwoll jedoch stets kurz darauf wieder an, als versuche der Seelenfetzen verzweifelt, aus seinem Gefängnis auszubrechen.
Kurz zuckte ein Bild durch ihren Kopf. Sie sah sich selbst, wie sie von einem riesigen Stein umschlossen war, die Hände auf die Innenwand des seltsamen Gefängnisses gelegt, ohne einen Ausweg finden zu können. Ein Traum? Eine halbverschüttete Erinnerung an eine Gruselgeschichte, die sie als Kind gehört hatte? Vielleicht ein Versuch der Seele in dem Amulett, ihr zu beschreiben, was sie durchmachte? Erynn vermochte es nicht zu sagen.
Sie fragte sich müßig, wessen Essenz wohl in dem Schmuckstück eingeschlossen war. Hör zu, bat sie im Stillen, du darfst mich nicht wieder so überrumpeln wie vor ein paar Tagen. Der Weg, den ich gehe, ist gefährlich, und ich brauche alle meine Sinne. Mein Ziel ist dein Ziel, also mach es mir nicht schwerer als es sein muß. Wortlose Zustimmung.

Einmal, genau nach einem der stummen Zwiegespräche, glaubte Erynn ein Knacken im Unterholz zu hören, ganz in der Nähe. Sie schaute sich um, entdeckte aber nichts. Den Rest der Tages verbrachte sie in gesteigerter Aufmerksamkeit, ohne jedoch einen weiteren verdächtigen Laut aus den Umgebungsgeräuschen herausfiltern zu können.

Am Abend lagerten sie an einer relativ trockenen Stelle; es gelang ihnen sogar, ein kleines Feuer zu entzünden. Arranges erklärte, die erste Wache übernehmen zu wollen. Es waren die ersten Worte, die er seit langem sprach. Erynn antwortete nicht – da war etwas in seiner Stimme, das unmißverständlich deutlich machte, daß ihre Meinung ohnehin nicht gefragt war. Stattdessen legte sie sich mit dem Rücken zum stark qualmenden Feuer und sank bald in einen erholsamen Schlaf, während sie dem Wispern des Amuletts lauschte – immer gerade so leise, daß man die Worte nicht verstehen konnte.

Die Elfin konnte nicht sagen, was da am Rande ihres Bewußtseins kratzte, als sie mitten in der Nacht die Augen aufschlug. Sie lauschte in die Nacht, aber außer den üblichen Tierlauten war nichts zu hören. Auch aus Arranges’ Richtung kam kein Geräusch, also kam sie zu dem Schluß, daß ein Traum sie geweckt haben mußte. Sie starrte in den dunklen Wald und wartete darauf, daß der Schlaf sie wieder in die Arme schloß.