Arranges schien sich nicht die gleichen Sorgen zu machen wie Erynn, was das Tor betraf – und er sollte recht behalten. Der Innenhof lag verlassen da, bot allerdings ein skurriles Panorama. Tote überall, und keiner davon war eines natürlichen Todes gestorben. Wenn sich Erynn bisher Gedanken gemacht hatte, ob sie es über sich brächte, irgendwelche Geistlichen aus dem Hinterhalt zu erschießen, so verflüchtigten sich diese sofort. Der Kaiserliche hatte davon gesprochen, daß die Mönche dem Wahnsinn verfallen seien, aber das hier hatte sie nicht erwartet: Bösartigkeit und Grausamkeit sprachen aus der ganzen Szenerie, schienen in der Luft zu hängen wie faule Miasmen – zusätzlich zu dem Verwesungsgestank, der den Beiden in die Nase drang. Die Dunmerin würgte unterdrückt.

Arranges hielt Wort. Während sie tiefer in das Gemäuer eindrangen, achtete er peinlich genau darauf, sie hinter sich zu halten und schirmte sie mit seinem Körper ab, so gut er konnte. Doch auch im Innern der Ruine blieb alles still. Es schien kein Leben mehr an diesem Ort zu sein. Die Gänge boten ein ähnliches Bild wie der Innenhof. Staub und Gebeine, blutverschmierte Wände. Und über allem das Gefühl des absolut Bösen, das an Erynns Nerven zerrte. Zuerst war sie erleichtert, als sie zwei kleine Öllampen fanden, mit denen sie die Finsternis in den verlassenen Gängen vertreiben konnten. Bald schon jedoch wünschte sie sich, die gruseligen Gänge wären weiter in gnädiges Dunkel getaucht geblieben.
Erynn verlor jedes Zeitgefühl. Es kam ihr vor, als würden sie schon ewig durch die stinkende Ruine schleichen, aber der Kaiserliche schien zu wissen, wohin er ging Wenigstens etwas, dachte die Kriegerin erleichtert. In unregelmäßigen Abständen kamen sie an schmalen Schießscharten vorbei, konnten an dem einfallenden Licht für lange Zeit allerdings nicht die Tageszeit ablesen. Irgendwann wandte sich der Beschwörer zu ihr um: „So, wir haben es bald geschafft...“, sprach er die erlösenden Worte. Erynn wollte gerade aufatmen, als sie an einer weiteren Lücke in der Außenmauer vorbeikamen. Das einfallende Licht verfärbte sich bereits rötlich, also mußte der Abend schon dämmern. Aus irgendeinem Grund schien Arranges diese Tatsache nervös zu machen, denn er ließ plötzlich jegliche Vorsicht fahren und hastete weiter. Die Quittung dafür bekamen sie nur wenige Herzschläge später. Erynn meinte, ein Trappeln zu hören, war sich jedoch nicht sicher. Sie erstarrte und lauschte. Doch. Ganz sicher... Schritte. Und sie kamen näher, wenngleich sie durch den Widerhall nicht ausmachen konnte, aus welcher Richtung. Erynn wollte gerade das Öllicht abstellen und einen Pfeil auf die Sehne legen, als Arranges sie an sich zog. Mit angehaltenem Atem verharrten sie beide, während sie noch herauszufinden versuchte, woher die Geräusche kamen. Etwas krachte ohrenbetäubend, dann war alles still. Totenstill. Die Dunkelelfin vermutete, daß eine Falle ausgelöst worden war und diejenigen, die sich ihnen genähert hatten, erwischt hatte.

Der Kaiserliche verlor keine Zeit. Er ging auf eine Tür zu, die gerade noch vom Schein ihrer Lampen erhellt wurde, als die Bodendielen unter seinen Füßen warnend knarrten. „Seid vorsichtig“, raunte er ihr überflüssigerweise zu. Erynn verdrehte die Augen. Sie würde dem Kerl unbedingt noch beibringen müssen, wie man richtig schlich. Wenn er so weitermachte, könnten sie sich auch genausogut mit einem Fanfarensignal ankündigen.
Sie umging die morsche Stelle leichtfüßig und folgte Arranges in den Raum, der hinter der Tür lag. Sie konnte zwei Räume erkennen, die vom schwindenden Licht des Tages erhellt wurden. Jetzt kam scheinbar ihr Einsatz. Sie sah sich um und konzentrierte sich auf irgendetwas... Ungewöhnliches. Arranges war außerstande, ihr eine genaue Beschreibung zu geben, aber sie verstand so viel, wie daß sie mit ihren Sinnen über die normale Wahrnehmung hinausgreifen müßte. Still stand sie in den verwüsteten Gemächern. Der allgegenwärtige Staub kitzelte in ihrer Nase, und sie hörte Arranges’ angespanntes Atmen hinter sich.

„Nein. Nichts...“ Sie ‚hörte’ genauer hin. „Wartet!“ Ihre Aufmerksamkeit wurde von einer reichlich demolierten Truhe angezogen, die am fernen Ende des ersten Raumes stand. Erynn ging wie ferngesteuert darauf zu und hob den Deckel, der sich mit einem leisen Knarren öffnete. Darin lag ein Amulett aus massivem Gold, in das ein geschliffener Amethyst eingelassen war, von so satter Farbe wie der beste Skingrader Rotwein. Sie griff danach, und das Kleinod schien in ihrer Hand zu pulsieren, als hätte es einen eigenen Herzschlag. Ein breites Lächeln überzog ihr Gesicht:
„Das ist es, ich bin ganz sicher.“ Sie wandte sich zu dem Kaiserlichen um, dann weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen.
„Arranges! Hinter Euch!“