Der Film distanziert sich ja gerade von der Angewohnheit, alles zu abstrahieren. Kaplanoglu will die Erlebniswelt von Yousuf unvermittelt zeigen, was beispielsweise auch damit einhergeht, dass er in einem Alter ansetzt, wo sich das Sprachverständnis gerade erst entwickelt. Unvermittelt und ohne Sprachgefühl heißt: Unabstrahiert, direkt empfinden, sehen, hören, fühlen &c.pp. Zeichen sind immer Teil der Sprache, Zeichen sind immer Vermittler, sind immer Abstrahenten, sind also nie direkt oder undefiniert.
Und da ist eben der Knackpunkt: Das Filmmedium ist voll von Zeichen und gerade bei diesem Film wird viel Bedeutungsebene vermittelt - das geht ja allein schon mit dem Titel los, Bal, der Honig, der den Charakter Yousufs umschreiben will. Kaplanoglu sagt sehr richtig, dass der Mensch, sobald er anfängt, Dinge in Zeichen auszudrücken, beginnt, in Zeichensystem zu existieren, er die unmittelbare Wahrnehmung, die visuelle, die haptische, die auditive, durch Zeichenwelten ersetzt. Für ihn gilt es, die verdrängte Wahrnehmung wieder konsumierbar zu machen.
Rein von der Idee her ist das sehr interessant und innovativ, aber in der Umsetzung gestaltet sich das ... ambivalent-schwierig. Vor allem im Medium Film. Denn neue Zeichensysteme zu kreieren, um die Empfindung außerhalb der Zeichensysteme zu aktivieren, halte ich für kontrollierte Feuer als Maßnahme gegen Waldbrand. Währenddessen verliert sich der Film für meine Begriffe und aufgrund dieses Anspruches des Unmittelbaren, des Unabstrahierten, viel zu sehr in seiner Bildwelt, was einerseits sehr ansehnlich ist, andererseits auch ziemlich langweilt.
Das alles nochmal unter der Einschränkung, dass ich da nur für meine subjektive Sichtweise sprechen kann. Der Film ist in seiner Idee und seiner Machart und Erzählweise ohne Frage sehr innovativ und das allein ist schon eine Auszeichnung. Er trifft aber für meine Begriffe nicht seine eigentliche Intention und er entspricht auch nicht dem, was ich mir von einem Film erwarte. Es gibt aber sicher eine ganze Reihe Leute, die, wie du, dem Werk einiges entnehmen können und nicht zuletzt dafür bin ich froh, dass er existiert.
Das ist vielleicht schon der nächste Punkt, ich sehe in Medien und Zeichensystemen keine grundsätzliche Gefährdung für die Wahrnehmung. Es gibt Medien, die den Konsumenten der Sensibilität berauben. Sprechen wir aber von Medien in Zeichensystemen, explizit also das, was wir als Kunst und Kommunikation bezeichnen, sehe ich diese Desensibilisierung nicht. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ich zu keiner bewusst unmittelbaren Wahrnehmung in der Lage bin, ich halte das aber nicht für einen Verlust, sondern für einen Gewinn, weil die Abstraktion des Wahrnehmens erlaubt, auch das Versteckte respektive das Irreelle wahrzunehmen.Zitat
Für andere sieht Abstraktion aber anders aus, da ist sie nämlich nicht zerfassend, also symbolistisch, sondern zusammenfassend, also pauschalistisch, und ich vermute, dass der Film darauf abzielt, dem Pauschalen entgegen zu wirken, eher als dass er sich gegen das symbolistische Wahrnehmen richtet.
Ist jedenfalls alles ziemlich zwiespältig und kommt sehr stark auf die Ansprüche und den Charakter des Zuschauers an. Und das meine ich durchaus positiv, ein Werk, dass sich keine feste Zielgruppe nimmt, hat schon aus sich heraus Potenzial.