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Thema: [Werwölfe IV] Tag 7

Baum-Darstellung

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  1. #38
    Erschrocken hatte Isabella das kleine in rotes Leder eingebundene Notizbuch des Dichters aufgefangen. Als sie über die Hülle strich fielen ihr seine Worte vom ersten Abend, an dem der Kummer noch nicht über Düsterwald hereingebrochen war, wieder ein und klangen in ihr wieder:

    An meinen Bruder

    Denkst du des Schlosses noch auf stiller Höh?
    Das Horn lockt nächtlich dort, als obs dich riefe,
    Am Abgrund grast das Reh,
    Es rauscht der Wald verwirrend aus der Tiefe –
    O stille, wecke nicht, es war als schliefe
    Da drunten ein unnennbar Weh.

    Kennst du den Garten? – Wenn sich Lenz erneut,
    Geht dort ein Mädchen auf den kühlen Gängen
    Still durch die Einsamkeit,
    Und weckt den leisen Strom von Zauberklängen,
    Als ob die Blumen und die Bäume sängen
    Rings von der alten schönen Zeit.

    Ihr Wipfel und ihr Bronnen rauscht nur zu!
    Wohin du auch in wilder Lust magst dringen,
    Du findest nirgends Ruh,
    Erreichen wird dich das geheime Singen, –
    Ach, dieses Bannes zauberischen Ringen
    Entfliehn wir nimmer, ich und du!


    "Entfliehn wir nimmer ich und du!", flüsterte sie leise. Sie steckte das kleine Büchlein neben das große das sie scherzhafterweise einmal auf ihn werfen wollte und vielleicht würde es ihr irgendwann mal dabei helfen lesen zu lernen. Aber bis dahin hatte es in ihren Augen nicht viel Nutzen.

    Wenn es wie er sagte die "Seele ist, die sie zu etwas anderem als Menschen macht." dann hatten sie gut daran getan Lilith im geweihten Boden zu begraben. Denn sie war wahrhaftig ein guter, liebevoller Mensch gewesen.

    Aber Andreas... sie hatte sich sehr in ihm getäuscht. Seine Hetzrede, die zuletzt jeden einzelnen Dorfbewohner angeklagt hatte, vergass sie ebenso rasch wieder wie sie sie gehört hatte. Aber die Tatsache das sie so getäuscht worden war machte ihr Angst und ließ sie im aufkommenden Abendwind zittern. Sie zog ihren geflickten, schäbig aussehenden Hut tiefer in ihr Gesicht und flüsterte leise ein Gedicht, das sie vor langer, langer Zeit als Kind gehört hatte:

    "Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
    man weiß nicht was noch werden mag.
    Nun armes Herz, vergiß die Qual!
    Nun muss sich alles, alles wenden!"


    Über dem blutroten Abendhimmel stieg ein voller Mond über dem Dorf auf. Wenigstens würde diese Nacht ein wenig heller sein als die bisherigen.

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