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Engel
Andreas stand von der Bank, auf der er gesessen hatte, auf. Es war an der Zeit, der Menge zu geben, weswegen sie gekommen war. Einen weiteren sinnlosen Tod. Doch zuerst wandte er sich ein letztes Mal an Callan.
"Ich danke euch für alles, was ihr für mich getan habt. Auch wenn es sich letztendlich als sinnlos erwiesen hat. Falls ihr diese Geschichte hier überleben solltet... Im Boden meines Schrankes in meinem Haus befindet sich ein loses Brett. Darunter solltet ihr meine finanziellen Reserven finden. Nehmt meinetwegen alles davon. Ich denke, es sollte euch für euren Aufwand entschädigen."
Dann drehte er sich um. Sein Blick wanderte über den Platz. Alle waren sie hier. Um seinen Tod zu sehen. Nun, er würde ihen nicht den Gefallen tun, stillschweigend abzutreten.
Kurz schweifte sein Blick zurück zu der Liste. Erst jetzt erkannte er die Ironie. Sein Leben hatte er den buchstaben gewidmet, und nun sollten zwei Buchstaben seinen Tod besiegeln...
Er trat in die Mitte des Platzes. Den Stock, den Callan ihm gegeben hatte, warf er weg. Es gab keinen Grund mehr, seine Kräfte zu schonen.
"Freunde, Mitbürger und alle anderen. Ihr habt gemeinschaftlich beschlossen, mich dem Tode preiszugeben. Nun, ich bin bereit, mich meinem Schicksal zu stellen. Doch zuvor will ich euch an etwas erinnern:
Heute Nachmittag stand ich dieser Bande von Söldnern gegenüber. Und ich sagte ihnen, in Düsterwald würde eine Seuche grassieren. Nun, was eine Seuche, die den Körper angreift, angeht, habe ich gelogen. Doch was ich über eine Seuche des Geistes sagte, entsprach leider vollkommen der Wahrheit. Es ist keine Seuche, die irgendjemand hier heilen könnte. Es ist keine Seuche, die eure Körper schwächt. Und trotzdem kann ich sie in allen euren Augen erkennen. Diese Seuche, von der ich spreche, sie zerstört Familien, reißt Freunde auseinander und lässt selbst die Überlebenden als geschlagene Krüppel zurück. Die Seuche, von der ich spreche, ist das Misstrauen.
Erinnert ihr euch noch, wie all dies angefangen hat? Eines Tages, der inzwischen Äonen herzusein scheint, kamen diese Männer, die sich Hexenjäger nannten, in unser Dorf. Wir nahmen sie als Gäste auf, wie es sich für brave Bürger geziemt. Doch in der Nacht darauf gab es einen Vorfall: Zwei Pferde, ebenfalls von Außenstehenden, die eigentlich nicht in das Schicksal dieses Dorfes verwickelt waren, wurden getötet. Und wer waren die ersten, die daraufhin ihre Stimme erhoben? Eben diese Außenstehenden, die zufälligerweise gerade hier waren und am nächsten Tag eigentlich weiterziehen wollten.
Haben sie uns empfohlen, die Ruhe zu bewahren und nach dem Übeltäter zu suchen? Nein! Sie sprachen von Monstern und Dämonen, die unter uns weilen würden, und es auf unsere Leben abgesehen hätten. Und wie reagierten wir darauf? Wir stimmten in ihre Rufe mit ein. An diesem Tag starb ein Bewohner dieses Dorfes. Doch nicht durch irgendwelche Bestien, sondern durch Menschenhand! Und was geschah in der Nacht darauf? Einer dieser Hexenjäger wurde getötet. Wer hätte einen Grund dazu gehabt? Nun, die Antwort ist einfach: Wir alle! Wir, die wir unser einfaches Leben lieben! Wir, die vorhersehen konnten, wohin uns dieser Hass, den diese Männer entfacht hatten, führen würde. Keine Monster. Ganz normale Menschen, die einfach nur ein glückliches Leben führen wollten. Doch wir verstanden die warnung nicht. Auch am nächsten Tag verurteilten wir wieder einen Unschuldigen zum Tod. Und die Spirale des Todes drehte sich immer weiter. Nun sind nur noch wir wenigen verblieben von dem, was einst ein friedliches Dorf, das niemandem Böses wollte, war! Und heute werde ich den vielen vor mir folgen. Und dies, obwolhl seit zwei Tagen niemand mehr gestorben ist. Doch wir sind alle viel zu verblendet, um die einfach Wahrheit zu erkennen:
Die Monster sind tatsächlich unter uns. Doch sie sind nicht an Zähnen oder Krallen zu erkennen. Um es auf lateinisch zu sagen: Homus homini lupus est. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Doch zeigen sich diese Wölfe nicht in nächtlicher Gestalt, sondern sie wandeln in menschlicher Gestalt unter uns. Ihre Seele ist es, die sie zu etwas anderem als Menschen macht.
und wir haben ihnen bereitwillig die Türen zu unseren Herzen geöffnet. Wir haben zugelassen, dass sie ihre üble Saat des Zweifels in uns säen und sie dafür noch bejubelt. So denke ich, bekommen wir letztendlich das, was wir verdient haben. Das, wofür wir uns wissentlich entschieden haben."
Er verstumte. Er hatte alles gesagt, was er zu sagen gehabt hatte. Doch vor seinem Tod blieb ihm noch eines zu tun. Sein Blick schweifte über die Menge und blieb schließlich an einem Gesicht hängen. Er dachte an den Gegenstand in seiner Tasche. Den Gegenstand, an den zu denken er Callan gebeten hatte, als dieser für ihn seine Kleidung holen sollte, obwohl dieser argumentiert hatte, in seinem Zustand könnte er ohnehin nichts damit anfangen.
Er griff in die Tasche, und zog den Gegenstand hervor. Er holte aus, um ihn in Richtung der Person in der Menge, die er sich auserkoren hatte, zu schleudern.
Auf einmal knallte ein Schuss. Einer der Hexenjäger musste ihn abgegeben haben, als er erkannt hatte, das Andreas im Begriff war, etwas in die Menge zu schleudern. Andreas wurde herumgewirbelt, doch der Gegenstand hatte seine Hand bereits verlassen und schoss auf sein Ziel zu. Auf das Gesicht der Frau, die die Dorfbewohner zu ihrem Hauptmann ernannt hatten. Isabella.
Doch kurz bevor es ihr Gesicht erreicht, sank es nach unten, und landete schließlicbh perfekt in ihrer Hand. Isabella blickte hinab. Es handelte sich um Andreas' Buch, aus dem er ihr an ihrem ersten Abend im Dorf vorgelesen hatte.
Doch Andreas lag inzwischen am Boden. Mit verschwimmenden Gedanken fragte er sich, ob Isabella wohl die Botschaft, die er ihr damit ausrichten wollte, verstehen würde. Eigentlich schien Symbolik nicht ihre Stärke zu sein. Vielleicht würde sie es sogar für ein Liebesgeschenk halten. Dieser Gedanke brachte Andreas dazu, laut aufzulachen. Doch dieses Lachen ging in ein Röcheln über und verstummte schließlich ganz.
Die Dorfbewohner blickten auf das Opfer, das der heutige Tag gefordert hatte. Doch als die ersten sich bereits abwandten kam mysteriöserweise noch einmal Leben in den Leichnam. Er fing an zu zucken und sich zu winden. Außerdem schien er zu wachsen. Seine Kleidung riss, doch was unter den Fetzen zum Vorschein kam, war ncht der schlaffe körper eines Knaben, der seine Tage mit Dichtung verbrachte, sondern der Körper eines kriegers, muskulös und drahtig. Und von Fell bedeckt. Sein Kopf bildete eine lange Schnauze aus, und aus seinem rücken schoss ein schwanz hervor. Vor den Dorfbewohnern lag eines dieser Monster, deren Existenz Andreas bis zuletzt in Zweifel gezogen hatte. Eine letzte regung des Monsters. Seine Hand, die sich inzwischen in eine klaue verwandelt hatte, schnellte hervor. Er hatte einen einzigen Finger ausgestreckt. Seinen Zeigefinger. Dieser deutete anklagend auf die Dorfbewohner.
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