Gegen Mittag hatte Andreas es schließlich geschafft, Callan davon zu überzeugen, dass sein Zustand wieder stabil genug war, um ihn aufstehen zu lassen. Ständig etwas von Rückfällen murmelnd war er somit zu Andreas Haus aufgebrochen, um ihn ein paar seiner Kleidungsstücke zu bringen.
Beim Anziehen hatte Andreas die Zähne zusammenbeißen müssen, um nicht zusammenzuklappen, aber hätte er Callan um Hilfe gebeten, hätte er wahrscheinlich schneller wieder nackt unter der Decke gelegen, als er "Schwächeanfall" hätte sagen können.
Als er beim Waschen in einer Wasserschüssel betrachtete, erschrak er. Auch wenn er sich inzwischen besser fühlte, sah sein Gesicht immer noch mehr tot als lebendig aus. Vermutlich würde es noch eine ganze Weile dauern, bis er sich von seinem Zustand erholt hatte.
Doch dabei würde es ihm bestimmt nicht helfen, wenn er die ganze Zeit in Callans Haus herumsaß. Er musste hinaus, an die frische Luft. Ihn davon zu überzeugen, ihn rauszulassen, war fast noch schwieriger, als ihn darum zu bitten, ihm etwas zum anziehen zu holen. Doch schließlich gab er nach:
"Bitte, mein Haus ist schließlich kein Gefängnis! Aber glaub nicht, dass ich die Verantwortung übernehmen werde, wenn du draußen zusammenklappst!"
Trotz der harten Worte meinte Andreas, eine Spur von Sorge um ihn in Callans Blick zu erkennen. Dieser Eindruck bestätigte sich, als dieser ihm einen langen Stock reichte:
"Hier, der sollte dir helfen, auf den Beinen zu bleiben."
Andreas bedankte sich, und schließlich verlies er, schwer auf den Stock gestützt, das Haus.
Auf dem Weg zu seinem Ziel, dem Marktplatz, wäre er trotz seiner Gehhilfe mehrmals fast gestürzt, doch er schaffte es jedesmal, sich gerade noch zu fangen.
Was er schließlich am Marktplatz fand, überraschte ihn. Denn dort war...
... absolut niemand.
Wo war der Lynchmob, der sich hier die letzten Tage ständig versammelt hatte? Zu glauben, dass die Dorfbewohner endlich zu Sinnen gekommen waren und die Hexenjäger aus dem Dorf gejagt hatten, wäre buchstäblich zu schön gewesen, um wahr zu sein, weswegen er diese Erklärung auch nicht glauben wollte. Aber wo waren dann alle?
Er fand keine Spur von ihnen, doch schließlich bieb sein Blick an einem Buchstaben hängen, den jemand auf den Stimmzettel gemalt hatte. Ein rotes R...
'KR wie Kranker... KR wie Kranker... KR wie Kranker...'
hämmerte es in seinem Kopf. Er setzte sich hin. Anscheinend wollten ihn die Hexenjäger wirklich tot sehen. Doch warum machten sie es auf derart umständliche Art? Sie mussten die Dorfbewohner mit ihren Schauergeschichten doch mittlerweile fest genug in der Hand haben, um ihren Willen einfach so durchzusetzen, besonders nachdem inzwischen eine von ihnen den Posten des Hauptmanns übernommen hatte... Warum also dieses missverständliche Spiel mit den einzelnen Buchstaben?
Sein Blick wanderte zurück zur Liste. Dann riss er erstaunt die Augen auf. Warum war ihm das nicht gleich aufgefallen? Auf dem zettel stand nicht K und R, sondern nur R. Und darunter hatte jemand den Namen Avery geschrieben.
K wie Kind. R wie Rabaubke. Sollte das die Lösung sein? War das Ganze nicht gegen ihn sondern gegen Avery gerichtet? Doch warum sollte jemand den Jungen tot sehen wollen? Mit seinem jugendlichen Gemüt stellte er nun wirklich keine Gefahr für die Hexenjäger dar. Trotzdem war es das Wahrscheinlichste, was ihm in den Sinn kam.
Andreas hoffte wirklich, dass es an diesem Abend nicht wieder zu einer Hinrichtung kommen würde, doch sollte ihn jemand anklagen, würde er seine Theorie, dass die Zeichen auf Avery aufmerksam machen sollten, bekanntgeben.