Godfrey traute Lilith offenbar nicht zu, dass sie fliehen würde, und ihr wäre auch nie in den Sinn gekommen einfach in den Wald zu laufen, aber auch der Freitod war eine Form der Flucht. Er hatte sie alleine gelassen, doch sie verspürte nicht den Drang, etwas Überstürztes zu unternehmen, das ihr den Weg in die Hölle garantiert hätte. Vielleicht war sie doch stärker, als sie immer angenommen hatte.

Die Bäckerin nutzte die Versammlung am Dorfplatz, um noch einen Spaziergang durch das Dorf zu machen, nur begleitet vom rötlichen Schimmer der Abendsonne, die sich langsam dem Horizont näherte. Melancholische Gedanken und Erinnerungen durchfluteten sie, als sie den schmalen Pfad zum Friedhof beschritt und sich vor dem frischen Grab, das dem Mädchen gehörte, das Avery und sie begraben hatten, bekreuzigte. Ihr Ziel war aber ein anderes, so ging sie zügigen Schrittes weiter, zur letzten Ruhestätte ihres Großvaters. Das Holzkästchen war immer noch da, fast in dem Zustand, in dem sie es hier gelassen hatte. Sie nahm die Flöte heraus und setzte sie an ihre Lippen, und ihr schien, als würde es ihr zum ersten Mal überhaupt gelingen, einen schönen Ton zu spielen. Vielleicht machte es nicht viel Unterschied, da sie keine Melodie konnte, aber ihr Herz tat vor Freude einen Sprung. “Hast du das gehört?” ,flüsterte sie fröhlich gen Himmel, und legte das Instrument zurück in die Schatulle. Ohne ein weiteres Wort grub sie eine kleine Vertiefung in die Erde des Grabes und legte das Kästchen sanft hinein. “Ich hätte sie dir schon längst zurück geben müssen.” Sie vergrub die Flöte, dann schloss sie die Augen, und stellte sich vor, dass ihr Großvater nun, da er diesen Schatz zurück hatte, noch einmal für sie spielte.
Der Mond geht auf, der Abendwind weht” ,sang sie vor sich hin, doch sie wollte den Text nicht zu Ende singen. Er entsprach der Realität mehr denn je, und gerade deshalb konnte sie die Worte nicht aussprechen. Sie wollte dankbar sein für alles, was ihr im Leben geschenkt worden war, und nicht den Gram zurück kehren lassen.
So machte sie sich nun endlich auf den Weg zum Dorfplatz, endlich bereit, dem Schicksal entgegen zu treten.

Die Menge hatte sich deutlich gelichtet, bis auf ein paar Vereinzelte waren alle anderen verschwunden. Lilith sprach niemanden an, sondern schritt direkt auf die Tafel zu, auf denen ihr Name so anklagend geschrieben stand. Ihre Zeichenkünste hielten sich in Grenzen, und ihre Nervosität war nicht unbedingt förderlich, gerade, saubere Linien zu malen. Ohne jegliche Schreibfähigkeit blieb ihr jedoch nichts anderes übrig, als ihre Anklage bildlich darzustellen.
Dass dies kaum jemand mitbekam, machte nichts, so konnte sie sich immerhin darauf konzentrieren, das Objekt erkennbar zu machen.