Wieder war die unheilvolle Nacht über sie hereingebrochen, und einmal mehr war Lilith unbeschädigt aus einem unruhigen Schlaf erwacht. Mühsam quälte sie sich aus dem Bett, und während sie sich anzog, fragte sie sich, wofür sie eigentlich noch aufstand. Seit Tagen hatte sie kein Geschäft mehr gemacht, was früher ihren gesamten Lebenssinn ausgemacht hatte. Das Dorf, in dem sie nach dem Tod ihres Großvaters freiwillig geblieben war, ging langsam zu Grunde... sie wollte gar nicht wissen, was diese Nacht möglicherweise wieder geschehen war.
Antriebslos ging Lilith in die Backstube, aber sie schenkte der Arbeitsplatte und dem großen Mehlbehälter nur einen verachtenden Blick. Mit einer forschen Handbewegung öffnete sie einen der kleinen Schränke und wischte ein staubiges Spinnennetz zur Seite. Schon lange hatte sie das kleine, hölzerne Kästchen, das dort drinnen war, nicht mehr herausgeholt und geöffnet. Nicht, weil es sie nicht interessierte, sie war einfach immer beschäftigt gewesen und hatte sich auf andere Dinge konzentriert... auf Dinge, die nun keine Bedeutung mehr zu haben schienen.

Vorsichtig strich Lilith über die kleine Truhe, während sie sich an eine Melodie aus Kindheitstagen erinnerte, die sie nun leise summte. Sie öffnete das Kästchen und holte eine kleine Blockflöte heraus. An den Grifflöchern war das dunkle Holz abgegriffen, und die Bäckerin legte ihre Finger darauf. Sie hatte wenig Ahnung, wie man richtig spielte, und sie würde es jetzt auch nicht versuchen. Ihr Großvater hatte es ihr immer beibringen wollen, aber sie hatte sofort aufgegeben, nachdem beim ersten Versuch nur laute, schräge Töne herausgekommen waren. Aber sie hatte ihm gerne zugehört, vor allem als sie gerade erst zu ihm gekommen war, wenn er Abends, nachdem er sie ins Bett gebracht hatte, noch eine kleine Schlafmelodie für sie gespielt hatte.
An dieses Lied würde sie sich immer erinnern, und auch an den Text, den sie selbst dazu gedichtet hatte.

Der Mond geht auf, der Abendwind weht.
Weiß man woher er kommt, wohin er geht?
Dunkel verborgen mein Weg vor mir liegt,
Niemand ist da, der die Ängste besiegt.
Blinde so geh ich und gehe allein.
Keiner kann mir ein Gefährte hier sein.


Als sie den Text einmal unbewusst vor sich hin gesungen hatte, hatte Liliths Großvater aufgehört zu spielen, und sie lange und mit traurigen Augen angesehen. “Ich weiß, dass es nicht einfach für dich ist. Aber wenn du ein bisschen Zeit verstreichen lässt, wirst du dich bei mir wohl fühlen. Denn ich bin dein Großvater und habe nichts als Liebe für dich übrig.” Dann hatte er sich über sie gebeugt, ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt und beim Hinausgehen einen Spruch aufgesagt, den Lilith ebenfalls bis heute nicht vergessen hatte. Liebe wacht, hält dich bis zum Morgen, trägt dich durch die Nacht.

Die Bäckerin legte die Flöte behutsam in das Kästchen zurück, stellte dieses jedoch nicht mehr in das Schränkchen zurück. “Viel zu lange war ich nicht an seinem Grabe...” ,flüsterte sie leise. “Vielleicht sollte ich doch noch einmal versuchen, die Flöte zu spielen... es wäre nicht wichtig, wie es klingt, so lange ich es nur versuche. Das würde ihn freuen.

Und somit hatte sie einen Grund gefunden, wieso sie an diesem Tag aufgestanden war.