Godfrey hatte Wilhelm lange beobachtet, wie er an der Liste stand, die dazu diente, die Namen auf Papier zu bannen, die ihr Leben verwirkt haben sollten.
Als er Mann schließlich den Namen des kleinen Mädchens aufmalte, war Godfrey so überrascht wie abgestoßen, doch dann erinnerte er sich daran, das Luzifer keine Scheu hatte, selbst das unschuldigste kleine Mädchen oder die züchtigste Jungfrau in sein Ränkespiel zu verführen, oder sogar diebische Freude empfand, diese reinsten aller Geschöpfe ins Dunkel stürzen zu lassen.

Ihm war eines klar - Wilhelm war der erste, der Serah anklagte. Er war mutig und stark genug, die Schmach und die Schande und die Verzweiflung auf sich zu nehmen, falls er sich geirrt haben sollte und Godfrey wusste, dass nur ein Mann, der sich seiner absolut sicher war, eine solche schreckliche und zugleich notwendige Anschuldigung formen könnte.

"Wilhelm, der du dein Seelenheil in die Waagschale der Gerechtigkeit wirfst, dir will den Rücken ich stärken." sagte Godfrey, ehe er schweren Herzens mit einem Stück Kohle den Strich Wilhelms um einen zeiten Strich ergänzte, der zum Ende hin leicht schwächer wurde, als hätte der fingerlange Strich jede Kraft und jede Stärke aus dem Leib des alten Hexenjägers gesaugt.

Er sah sich in der Taverne um und bemerkte, dass noch mehr Personen diese Meinung zu teilen schienen und weiß waren seine Lippen, so fest presste er sie aufeinander, als er mit einem murrenden Kopfschütteln schließlich seinen schweren Mantel abermals anzog und sich anschickte, die Taverne zu verlassen.
Noch war es hell, doch bald würde die Nacht über sie hereinbrechen und das Land mit ihrem Leichentuch aus Stille und Schatten überziehen, doch davor würden die Scharfrichter des Dorfes ihre grausige Aufgabe erledigen.

Godfrey wusste, was zu tun war.
Ob das Mädchen undschuldig war oder Luzifers Buhle war - ihr Leib war der eines kleinen Kindes und die Dorfbewohner würden diesen Anblick als erschreckend und demoralisierend empfinden.
Schnaufend schulterte er seinen Spaten, er rückte langsam seinen Hut zurecht und ging mit langsamen und gemessenen Schritten in Richtung des Friedhofes.
Dort angekommen warf er einen Blick auf die langsam vergehende, blutrote Sonne, die wie ein feuriger Ball hinter Wald und Gebirge unendlich langsam verschwand und während der Schweiß ihm von der Nasenspitze tropfte, begann er ohne Rücksicht auf seine schmerzende Schulter ein Loch zu graben, vielleicht einen Schritt tief, jedoch klein von den Ausmaßen.
Es war ein Grab, zu klein für einen Erwachsenen.
Aber nicht für ein Kind.

Dann kniete er nieder und er presste seine nasse Stirn an den Stiel der Schaufel, der Geruch frischer Erde erfüllte ihn, das vom Regen des Vormittags feuchtnasse Gras schlich listig durch die Fasern seiner groben Hose und fühlte sich kalt an seinen Beinen an.
Noch immer spürte er den gleißenden Funken Hoffnung in seinen Eingeweiden, ein Fingerzeig eines Engels, der ihm mit tiefempfundener Selbstverständlichkeit Ruhe und Sicherheit gab, trotzdem war seine Stimme rau und belegt, als er zu beten begann:
"Gütiger Vater, himmlische Erzengel. Ich danke euch in Demut als euer untertänigster Diener für die Kraft und den Mut, dieses Werk vollbracht zu haben. Erweckt die Seele des Kindes in euren Hallen, so sie rein war und führet sie an die Auen von Eden."

Dann stand er langsam auf, um dem Hautpmann zu berichten, dass der Leichnam der kleinen Serah nicht lange unter dem Firnament zu liegen hätte, wenn das Werk getan war, ihr stand das Privileg zu, ihren Leib schnell vor den Blicken verborgen zu wissen. Als letzter Dienst für ein kleines Mädchen - unerheblich, ob von Schuld erfüllt oder mit reiner Seele zu Tode gekommen.

Er bekreuzigte sich ein letztes Mal und ging wieder in Richtung des Dorfes, als sich ein warmes und lange verloren geglaubtes Gefühl trauter Bekanntheit seinen Nacken umfing wie der Biss eines blutsaugenden Vampirs.
In seiner Nase tanzte - eines wunderschönen Schmetterlings gleich - der Duft der Blumen, die Isabella sich heute Morgen ins Haar gesteckt hatte, zusammen mit dem unwiderstehlichen Fanal des unverkennbaren Duftes ihrer Haut, wo er nur nach Waffenfett, Leder und Schweiß zu riechen wusste.

Er schmunzelte in sich hinein und ertappte sich dabei, wie er sich Isabella vorstellte, glücklich im Reigen ihrer eigenen Lust, an der Seite eines Mannes, der sie würde zähmen können, er schüttelte dann jedoch den Kopf, lächelte, um sich einen Träumer zu schimpfen, um dann die Schaufel zu schultern, als ein heißer Blitz durch sein Gedärm zuckte und ihn seinem blassen Gesicht das Auge weit aufgerissen die Hände kraftlos sinken zu lassen.
Isabella war in Richtung des Friedhofs gegangen und seitdem hatte er sie nicht wieder gesehen - und die Wölfe waren überall, lauerten vielleicht darauf, einzelne Personen anzugreifen und alarmiert ruckte sein Kopf in alle Richtungen, als im Licht der ersterbenden Sonne, die einen silbernen Mond gebären würde, den goldgelben Haarschopf Isabellas sah, die neben dem Grab des guten Konrads lag und dann sah er Blut.

Der Schock des Anblicks ließ Lava durch seine Adern strömen, der Mund wurde ihm bittter und fahl und der Atem vermochte gar auszubleiben.
Er war überrascht, über die Intensität der Sorge, die sich wie lepröse Würmer in seiner Seele festsetzten und ihn dazu brachten, raschen Schrittes sich zu nähern.
Es war sein Herz, welches ihm bis zum Hals schlug, das Rauschen in seinen Ohren, die im Takt seines Blutes durch den Schädel des Hexenjägers hämmerten und er empfand tiefe Trauer.
Mehr als er sich eingestehen wollte.
Es war wie damals, auch sie hatte so dagelegen, ihr Haar so rot wie das Blut, die Frucht ihres Leibes war deutlich unter dem Kleid auszumachen, sie streckte die Hand aus, ihm etwas zu reichen, während sich Tränen in seinen Augen sammelten und ihn stammeln ließen.

Heute jedoch war seine Seele ausgetrocknet, er hatte verlernt zu weinen, sein Dienst war rechtschaffen, seine Pflicht erlaubte keine Schwäche, trotzdem schnürte es ihm die Kehle zu, als er neben ihr kniete und ihr eine Strähne aus dem Gesicht strich, dann spürte, wie sich ihr Puls unter der zartweißen Haut regte, wie ihre Lider flatterten, das Blut an ihrer Hand vor Stunden schon geronnen war.
Und Godfrey lächelte voll Dankbarkeit und stiller Zuneigung auf sie herab, er spürte, wie seine Lippen bebten, als die Ketten der Sorge von seinem Herzen abfielen und es nun befreit wieder in den Himmel fliehen konnte.

Behutsam nahm er die bewusstlose aus dem Grab, er trug sie mit starken Armen und langsam und bedächtig geführten Schritten in die kleine Zeltstadt der Hexenjäger. Von tiefem Violett schien der abendliche Himmel gemalt, das blutige Rot darin hatte jedoch seine Warnung und seinen bedrohlichen Charakter verloren, denn Godfrey war von tiefer Freude erfüllt, er sah ihre feinen Züge, die geschwungenen Lippen im letzten Licht des Abends, während er spürte, dass sie noch immer ruhte und ihr Leib - dessen athletischer Körperbau sich unter seinen Fingern fast erspüren ließ - von gleichmäßigen Atemzügen weiter in das Reich der Träume getragen wurde.

Da er nicht in die Privatsphäre ihres Zeltes einzudringen wagte, bettete er die Hexenjägerin schließlich auf seine Schlafstatt, ein zusammengesteckter Kasten aus Holz, in dessen Viereck er sich am ersten Tag frisches Stroh zum Bett hatte formen lassen, darüber eine grobe Decke und dann einige warme Felle, die unbarmherzige Kälte von unten fernhaltend.
Sanft ließ er sie dort nieder, sie sank nur leicht ein, dann zog er ihr behutsam ihre schweren Stiefel aus und positionierte sie neben seiner Schlafstatt, wo sie sie finden würde. Ihre Füße waren eiskalt, was wohl von der feuchten Erde des Grabes herrührte und nach einigen Augenblicken des Innehaltens und Zögerns legte er mit beherzter Zärtlichkeit beide seiner von der Arbeit warmen Handflächen auf ihre Füße, wärmte diese mit sacht kreisenden Bewegungen, ehe er seine dicksten Wollsocken aus dem Rucksack holte und ihr anzog.
Dann nahm er seinen Winterumhang, grau und schwer, ein eingesticktes rotes Kreuzritterkreuz darauf und legte ihn über den Körper der Frau, die Enden durch sanftes Bewegen ihres Leibes unter die Seite ihres Leibes drappierend, auf dass die Decke nicht von ihr weggestrampelt werden könne, wenn böse Träume sie plagen sollten.
Godfrey spürte, dass sie sich in einigen Dingen noch nicht verziehen hatte und ihr Schmerz peinigte ihre Seele, es marterte ihr ansonsten heiteres Gemüt, ein Vulkan aus Zorn kochte in ihr, die Unzufriedenheit ihrer Entscheidungen und Handlungen und bei Gott, Godfrey konnte sie verstehen, doch da sie das Gespräch nicht suchte, konnte er nur für sie beten und die Himmlischen bitten, ihr Kraft zu senden.

Und als er die heilige Schrift ihr unter das Kissen schob, wohl wissend, dass sie ihm ein stetes Ruhekissen war, realisierte er stockend, dass ihrer beiden Gesichter nah waren, ihre feinen Wimpern hatten seine Wange gestreichelt, so dass es ihm heiß und kalt durch die alten Knochen fuhr, ein Wink des Schicksals nur, ein Hauch von Mut, ein Wimpernschlag von Zufall, eine Haaresbreite von Glück und ihre Lippen würden einander berühren...
...doch Godfrey biss sich auf seine Unterlippe und unendlich behutsam erhob er sich, sein Auge ruhte auf der Schlafenden, sein Herz begann wieder leiser und langsamer zu schlagen und Stolz, tiefe Zuneigung und Sorge schimmerten in seinem Blick, als er die Kerze in seinem Zelt ausblies, nachdem er der kampferfahrenen Jägerin noch einen gescheideten Dolch neben das Bett gelegt hatte, zusammen mit einem Tonbecher Wasser.

Leise und bedächtigen Schrittes entfernte er sich von dem Zelt, welches er wieder vorsichtig zugeknöpft hatte und sein Heil suchte er im Gebet.
Er war nun Jäger, nicht länger ein Mann.
Oder schloss es sich am Ende doch nicht aus?