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The Big Guns
Danke danke
So, hier zunächst der nächste Teil. Achtung! Ich habe ein wenig recyclet, da ich finde, dass diese Story unbedingt mit rein musste. Könnte euch also in Abstrichen eventuell bekannt vorkommen 
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Mit geröteten Augen erwache ich aus meinem unruhigen Schlaf. Draußen ist es noch dunkel. Ich hatte das erste Mal seit Monaten einen Traum. Aber, wie immer, habe ich keine Ahnung, worum es genau ging. Ich weiß nur, dass Sandra drin vorkam. Sie hatte ihre Haare offen getragen, die wie perfekte Wellen in einem Bergsee im Wind wehten. Sie trug mein Lieblings-T-Shirt (ein rotes Bandshirt, auf dem in weißen Buchstaben NOFX steht) und hatte mich angelächelt. Aber ich konnte mich nicht bewegen, egal wie sehr ich ihr mit meinen Händen übers kantige, jugendliche und mit Sommersprossen verzierte Gesicht streicheln wollte. Egal, wie sehr sie mich mit ihren stechenden grünen Augen anstierte und mehr oder weniger etwas von mir verlangte, was ich ums Verrecken nicht tun konnte. Mehr erinnere ich gerade nicht.
Ich rolle seitlich über die Bettkante und lande unter lautem Gefluche in einem Klamottenberg, in welchem ich erst einmal ein paar Minuten liegen bleibe. Sie hat es nicht besser verdient, oder? Ich habe alles richtig gemacht. Okay, die Wortwahl war vielleicht ein bisschen harsch, aber ich hatte mich nur verteidigt. Sie hat angefangen mit dem ganzen Vorwurfs-Scheiß. Völlig unbegründet. Meine Situation ist absolut schwierig und...
Fuck, sie hat Recht.
Nein, hat sie nicht. Bullshit. Ich bin alt genug, um zu wissen, was gut für mich ist. Auf die Schnepfe ist geschissen, auf ihren behinderten Macker gleich mit. Sie hat es sich total versaut mit mir. Mit sich selbst. Mit allem. Ich werde nie wieder angekrochen kommen, die soll sehen, wo sie mit ihrer Scheißtour hinkommen wird. Nicht sonderlich weit, das weiß ich jetzt schon. Sie wird in einer Sackgasse landen, ohne Ausweg, ich werde der Einzige sein, der ihr helfen kann. Aber dann bin ich bereits über alle Berge, weg von ihr, weg von hier, weg von diesem Drecksloch.
Aber bevor ich diese wirklich sehr anspruchsvolle Aufgabe in die Tat umsetzen kann, muss ich erstmal was essen. Unter Zuhilfenahme meiner Bettkante, an der ich mich mit meinen Händen abstütze, stehe ich auf und wanke langsam zum Kühlschrank. Tür auf. Leer. Fuck. Tür zu. Ich streife mir meinen allerfeinsten Bademantel über, ziehe meine besten Bio-Latschen an, stopfe den Haustür- und den Wohnungsschlüssel in meine Pyjamahosentasche und stapfe die Treppen hinunter. Wenn man aus der Haustür heraustritt, kommt man linker Hand an einer kleinen Bäckerei vorbei. Der Typ, der tagtäglich hinterm Tresen steht und mich mit Futter versorgt, wenn mein Kühlschrank leer ist, heißt Stavros und ist Grieche. Er ist circa vierzig Jahre alt, mit seiner Familie vor fünf Jahren nach Deutschland eingewandert und cool drauf. Die Stammkundschaft von „Stavros's (sic) Bäckerei und Stehcafé“ sind neben mir zwei ältere Herrschaften, die hier unter Einfluss von literweise Holsten Pilsener über die Schlagzeilen der Bild-Zeitung diskutieren. Und zwar genauso eloquent, wie ihr es vermuten würdet:
„Die Olle von Big Brother (ausgesprochen wie 'Bick Brasa') hat schon wieder geworfen, ne?“
„Ach nee?“
„Ja doch.“
„Ach du Scheiße, gibt’s dann auch 'ne Fernsehshow über sie und ihr neues Kind oder was?“
„Schätz' ma' ja.“
„Geht ja gar nich'!“
„Die Alte vertickt quasi ihre Familie über Fernsehen! Würdest du das machen mit Ulrike, sach mal?“
„Nee! Ma' ganz davon ab, dass die Olle eh keiner im Fernsehen drin sehen möchte.“
„Ulrike, ne?“
„Ja. Ha ha!“
Währenddessen dudelt im Hintergrund das Beste aus den 90ern, 2000ern und von heute. Sprich: Pop-Kacke, die ich verabscheue. Aber egal, ich will nur ein paar Brötchen holen und in meiner Bude verspeisen. Ist jetzt nicht so, dass ich irgendwas „zum hier essen“ bestellen würde.
Mit einem breiten Grinsen begrüßt mich Stavros. Die Uhr, die an der Wand hinter ihm hängt, sagt 7 Uhr und ein paar Zerkrümelte. Also mitten in der Nacht. Und die beiden Typen sitzen jetzt schon hier und saufen ihr HoPiHaLiDo (Abkürzung für „Holsten Pilsener, Halber Liter-Dose“). Igitt. Ich schaue mir die Auslage an. Franzbrötchen, Croissants, Baguettes, Kaiserbrötchen, Weltmeisterbrötchen, alles was des Brötchen-Fans Herz begehrt.
„Danny!“, sagt Stavros mit einer gewissen Melodie in der recht tiefen Bariton-Stimme. „Gute' Morgen!“
„Moin moin.“, grüße ich halbmüde zurück.
„Wie immer oder willst diesmal was anders?“, fragt Stavros in gebrochenem Deutsch.
„Nee nee, gib' mal bitte wie immer.“, antworte ich knapp.
„Also zwei Franz, drei Croissants, ne?“, übersetzt Stavros mein „Wie immer“.
„Richtig.“, bestätige ich, krame vier Euro aus meiner Pyjamahose und drück sie ihm in die Hand, „Passt so.“ murmelnd. Die beiden Dosenbier-Trinker haben derweil ein neues Thema ausgebuddelt. Anscheinend hat ein Mädel vorgehabt, ihre Freunde über Facebook zu ihrem sechzehnten Geburtstag einzuladen. Dooferweise hatte sie die Einladung aus Versehen nicht „privat“, sondern „öffentlich“ gemacht. Und jetzt hatten sich über 8000 Leute angekündigt, die Larissas Geburtstag feiern wollten. Und das war in Bramfeld, also circa eine Viertelstunde bis zwanzig Minuten von mir entfernt. Hmmm... Ich überlege, ob man dorthin 'ne Tour starten könnte. Ich sollte nachher mal Thomas anrufen. Aber erstmal recherchieren, wann diese Party überhaupt steigt.
Ein Ziel vor Augen (ein absolut unwichtiges zwar, aber ein Ziel), laufe ich, mein Frühstück in einem Papiertütchen vor mir her tragend, das Treppenhaus hoch, zurück in meine Wohnung, pflanze mich im Schneidersitz auf mein Bett und stelle den Laptop halbwegs gerade auf meine Knie. Larissas Geburtstag findet erst in drei Wochen statt. Das arme Mädel. Sie hat die Polizei eingeschaltet, damit ihr Haus nicht von der übergroßen Partymeute in Stücke gerissen wird. Aber selbst Schuld, ganz ehrlich. Obwohl: Sie ist fünfzehn Jahre alt. Das hätte jedem passieren können in dem Alter, gerade wenn man noch nicht ganz plietsch ist mit dem Internet. Und da sowohl das Internet als auch die echte Welt voller Arschlöcher ist, hätte ich an ihrer Stelle jetzt auch Angst um mein Haus. Ich beschließe, nicht zu ihrer Party zu kommen. Ein Arschloch weniger macht bei 8000 Arschlöchern nicht unbedingt einen Riesenunterschied – aber immer noch besser als gar nix.
Warum denke ich eigentlich, dass alle Leute Arschlöcher sind? Es gibt definitiv Ausnahmen. Aber ich habe eine Theorie: Im Prinzip kommt jeder als selbstgefälliges Stück Scheiße auf die Welt. Als Baby braucht man alle Aufmerksamkeit, lenkt selbige von seinen anderen Geschwistern auf sich selbst – logisch, weil man ja ansonsten eingeht. Danach (also nach der unabwendbaren und wichtigen „Selbstgefälliges Stück Scheiße“-Phase) bestimmen das Umfeld, die Eltern, die Leute die man kennt und die Sachen die man sieht, ob man zu einem guten, netten Menschen oder zu einer Arschgeige wird. Ich reihe mich eher in letztere Kategorie ein. Obwohl ich auch durchaus nett sein kann. Aber es kommt selten vor. Arschloch sein ist für mich Selbstverteidigung. Wer besser bescheißt und andere in den Boden stampft, gewinnt. Meistens, zumindest. So läuft das halt. Und ich kann nichts dagegen machen, so gerne ich die Leute nicht behandeln möchte wie ein Asi. Es tut mir zumeist leid.
Und da es mir leidtut, kann ich nicht ganz so schlimm sein, oder?
Kein Plan. Ich klappe den Laptop zusammen, lege ihn neben mein Bett und bleibe für ein paar Minuten liegen. Auf dem Rücken liegend, immer noch den Bademantel tragend, futter ich mir mein Frühstück, das ich strategisch geschickt direkt neben mich platziert hatte. Langeweile macht sich breit. Meine Augen schließen sich. Und plötzlich ist es hell draußen und mein Handy klingelt. Fuck, wie lange war ich weg? Egal, ich muss mein Handy im Klamottenberg suchen. Ich schmeiße die Pullis, T-Shirts, Boxershorts quer durch die Bude, bis ich wieder die Jeans finde, in deren Hosentasche das Handy versteckt ist. Ich kenne die Nummer nicht, gehe aber dennoch ran.
„Hallo?“, melde ich mich.
„Herr Schandelorz?“, meldet sich eine freundliche Frauenstimme zurück.
„Jawohl, am Apparat.“
„Ach, sehr gut. Meine Name ist Katja Junge von FPS Personaldienstleistungen.“, sagt sie. Eine Zeitarbeitsfirma. Normalerweise lehne ich bei sowas direkt ab, da die meisten Jobs, die sie anbieten, totale Scheiße sind. Aber ich kann nicht mehr länger zuhause untätig herumgammeln. Also werde ich dieses Mal nett sein.
„Wir haben Ihr Profil auf der Website der Arbeitsagentur gesehen und da steht, dass Sie sich besonders für Bürojobs interessieren würden, richtig?“, fährt Frau Junge fort.
„Ja, natürlich.“, sage ich.
„Sehr gut, dann kann ich Ihnen sogar eine Stelle anbieten. Der Kunde sucht nach Call-Center-Agents, die zwischendrin auch etwas Backoffice machen, also Akten sortieren und so fort. Hätten Sie prinzipiell Interesse daran?“
Letzte Gelegenheit, „Nein“ zu sa... „Ja, natürlich. Also ich bin für alles offen, so ist es nicht.“, unterbreche ich meinen Schweinehund.
„Ah sehr gut! Wann hätten Sie denn Zeit, um dort ein Bewerbungsgespräch wahrzunehmen?“
„Jederzeit.“
„Direkt morgen um 9? Wäre erstmal nur ein Probetag.“
„Klar.“
„Super, das freut mich. Also, schauen Sie sich das da ganz in Ruhe an. Das ist ein Dienstleister, der sich vor allem auf Papierherstellung und -verkauf spezialisiert hat. Also: Sie schauen sich das einfach an, und wenn es Ihnen gefällt, dann melden Sie sich einfach nochmal unter dieser Nummer, mit der ich Sie angerufen habe. Dann machen wir den Vertrag, ne? Adresse und weitere Infos schicke ich Ihnen dann gleich nochmal per E-Mail, okay?“, überfährt mich Frau Junge mit ihrem Wortschwall. Keine Chance, das Ruder rumzureißen. Ich bejahe freundlich, bedanke mich, verabschiede mich und lege auf.
Kacke, direkt morgen ein Bewerbungsgespräch. Papierherstellung und -verkauf? Was kann man sich denn bitte darunter vorstellen? Abgefahren. Weben und verkaufen die etwa Klopapier? Backoffice? Akten sortieren? Call-Center? So viele Sachen auf einmal, die jedem Normalsterblichen ein sofortigen Hirnschlag verpassen könnten. Egal, ich werde morgen mit offenen Armen und Ohren hinein spazieren und sehen, was passiert. Wenn das nach normalem Zeitfirmentarif läuft, dann kriege ich circa 1200 Euro im Monat. Das wäre okay. Etwas unzureichend, aber besser als das ALG auf alle Fälle. Also schlage ich den Rest dieses Tages tot mit einem Telefongespräch mit meiner Mutter, die sich sehr um meine Gesundheit sorgt und am liebsten vorbeikommen will, um mal aufzuräumen. Da meine Eltern in Kiel wohnen und ich ihnen den Weg ersparen will, sage ich, dass alles gut wäre und Sandra sich gut um den ganzen Scheiß hier kümmern würde. Ich bring's momentan nicht über's Herz, meiner Mutter zu erzählen, dass mein einziger Fixpunkt neben Thomas in dieser beschissenen Stadt weg ist und nicht wieder zurückkommt. Immer, wenn sie mit Sandra reden will, sage ich, dass sie gerade weg „auf Schicht“ wäre. Was sogar stimmt, da sie als Kellnerin arbeitete, als sie noch zu den „Guten“ gehörte. Was sie jetzt macht – keine Ahnung, wahrscheinlich hockt sie auf ihrem Arsch und lässt ihren Fabian-Ficker alles für sie tun, wie sie es immer von mir erwartet hat. ••••••••.
Nach dem erquickenden Gespräch ziehe ich mir das Nachmittagsprogramm rein. Als „Two and a half men“ losgeht, penne ich ein. Zum Glück habe ich in weiser Voraussicht meinen Wecker auf 7 Uhr gestellt, kurz nach meinem Gespräch mit Frau Junge. Duschen, Zähne putzen, kacken, Hemd und Hose anziehen, das übriggebliebene Croissant von gestern reinschrauben und während des Mampfens noch einmal schnell nachsehen, wo zum Geier ich überhaupt hinfaLANGENHORN?
Motherfucking Longhorn. Oh mein Gott. Zur Erklärung: Motherfucking Longhorn ist der randigste und ranzigste Randbezirk Hamburgs. Eine Gewerbefläche so groß wie mein Arsch, vielleicht zwei drei Einfamilienhäuser und irgendwo noch einen ein Edeka - sonst gibt es NICHTS in motherfucking Longhorn. Motherfucking Longhorn lässt selbst Bezirke wie Barsbüttel und Berne aussehen wie New York und... New Jersey. Okay, schlechter Vergleich, aber ich denk mal, jeder weiß worauf ich hinaus will. Motherfucking Longhorn ist aber zu meiner Erleichterung nur 15 Bus- und Bahnminuten von meiner Bude entfernt. Also merke ich mir so gut es geht die Wegbeschreibung aus dem Internet und renne los. Bus. S-Bahn bis Ohlsdorf. U-Bahn bis (Mutterficking) Langenhorn Markt. Einen fünfminütigen Fußmarsch und eine Zigarette später komme ich endlich an. Die Hausnummer ist 15, laut meiner Informationen. Ich schaue also von dem Zettel, auf dem ich die wichtigsten Sachen aufgeschrieben hatte, hinauf zu einem baufälligen, kackbraunen Klotz, der mitten in einem Industriegebiet steht. Die Fassade ist teilweise verkleidet mit blauen Alu-Lamellen, aber größenteils liegt der Putz frei. Ein paar Gerüste sind drumherum aufgebaut, allerdings arbeitet niemand da. Wat Wunder, ist ja auch motherfucking Longhorn. Hier will keiner arbeiten. Ich latsche also in Richtung der Eingangstür. Es ist eine vergilbte Glastür, durch deren leicht angeknackste und verdreckte Scheibe man kann kaum in diesen bekackten Bunker hinein schauen kann. Dafür hängt ein Zettel an ebenjener Tür, auf dem handschriftlich die folgenden Worte verfasst wurden:
Die Eingangstür ist defekt. Bewerber bitte durch Hintereingang in der Eingangsbereich melden! DanKE!
Nach einem ungefähr zweiminütigen Lachanfall begebe ich mir also hinter dem Gebäude zu der Hintereingang in die Eingangbereich und so. Der Gang zum Empfang hin kommt mir vor wie der Gang zur Schlachtbank. Der Flur ist durch und durch dunkelgelb. Die Wände, die Decke, selbst der PVC-Boden. Dunkelgelb wie die Glasscheiben des Palastes der Republik (Rest in Pieces). Vorbei an verschlossenen Stahltüren, die es aussehen lassen, als würden hinter ihnen Höchstschwerverbrecher eingesperrt sein wie Charles Manson, Adolf Hitler und diese Katzenberg-Fotze oder wie auch immer sie heißt. Eine weißlackierte Doppeltür aus Stahl scheint der Zugang zum Innenhof der Call-Center-Hölle zu sein, denn groß und breit steht in schwarzen Lettern auf der von mir aus rechten Tür in Comic Sans-Schriftart „Unionpaper“. Örgs.
Ich drücke die Klingel, die links neben ebenjener Tür ist. Ein Dröhnen ertönt drinnen, dann geht die Tür wie von Geisterhand auf. Also eher von Menschenhand, denn eine junge Dame hat sie mir geöffnet. Sie schaut mich treudoof an und das Erste, was aus ihrem Mund kommt, ist: „Bewerber?“
„Ja guten Tag auch.“, entgegne ich, einen gut gelaunten Menschen mimend inklusive des breiten Grinsens.
„Bewerber?“, wiederholt sie ihre Frage, während ich ungefragt eintrete.
„Öh. Ja.“, sage ich und jetzt, wo ich „drin“ bin, kann ich einen genaueren Blick auf alles werfen. Der Eingangsbereich ist auf jeden Fall freundlicher gestaltet als der Weg dorthin. Dunkelgrüner Teppichboden, allem Anschein nach frisch gestrichene, weiße Wände und ein circa drei oder vier Meter langer Tresen, hinter dem zwei Arbeitsplätze inklusive PCs versteckt sind. Einer für die Türöffnerin, einer für ihre blutjunge, überfordert drein guckende Kollegin. Vorne auf dem Tresen prangert auf einem Schild mit blauem Hintergrund in etwas professioneller wirkender Manier (soll heißen: Nicht in Comic Sans) in weißen Buchstaben wieder der Name der Firma, dieses Mal mit „KG“ dahinter. Kommanditgesellschaft also, okay. Aber nur, weil der Empfang leicht seriöser wirkt als The Yellow Mile, heißt das nicht, dass dieses Unternehmen im Allgemeinen soweit seriös wirkt.
Während die blutjunge, Bambi-äugige Kollegin noch ganz „normal“ (T-Shirt, Rock, ein bisschen Schminke im Gesicht – normal halt) wirkt, sieht ihre Kollegin aus wie eine Mischung aus Schackäline aus dem „Frisörstudio Wumpe und Nulpe“ und der typischen Hot Topic- oder Colours-Kundin. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt mit Glitzerschrift, welche "Punk is dead!" sagt, dazu einen Jeans-Minirock mit einem Glitzer-Totenkopf auf der rechten Arschbacke (welche genauso voluminös ist wie die linke Arschbacke welche wiederum genauso voluminös ist wie der Rest ihres dicken Körpers), hat blonde Haare mit blauen, pinken und schwarzen Strähnchen drin (Holy shit, dude...) und komplettiert diese Katastrophe durch aller-, aller-, allerfeinstes Nutten-Make-Up. Straight outta Süderstraße, Nigga!
Zum gefühlt zehntausendsten Male fragt sie „Sie sind Bewerber, ne?“
Ich nicke.
„Wegen Bewerbung für Call-Center, ne?“
Nein, als Bewerber bin ich hier wegen des coolen Ambientes und wegen der leckeren Cocktails NATÜRLICH BIN ICH HIER WEGEN DER SCHEISS-BEWERBUNG DU DUMME KUH! Statt diese Wortsalve loszulassen, entschließe ich mich, wieder zu nicken. Zweimal.
„Gut, ich hol mal...“, sie stockt, „Ich... ich hol mal.“
Okay, sie geht also mal holen. Währenddessen tausche ich freundliche Blicke mit Bambiauge aus, die ab und an lächelnd über ihren Monitor zu mir rüberschaut. Sie ist kein Model, aber hübsch ist sie trotzdem meiner Meinung nach. Große braune Augen, schmales Gesicht, allem Anschein nach ein bisschen Babyspeck am Körper, aber sonst relativ schlank. Sie wirft alle paar Sekunden ihre langen blonden Haare zurück über die Schultern, damit sie ihr nicht die ganze Zeit vorm Gesicht rumhängen, während sie... irgendwas in den PC eintippt.
Unsere traute Zweisamkeit wird jäh gestört durch die Rückkehr von Infotresen-Tussi und ihrer Chefin, die sie mal geholt hat. Die Chefin sieht mindestens genauso schlimm aus wie ihre Untergebene, nur ungefähr zwanzig Kilo schwerer und ohne die farbigen Strähnchen (dafür mit schön scheißiger, dauergewellter Vokuhila-Frise). Der Verdacht, dies könnte ein Familienbetrieb sein, weil die beiden sich von Aussehen und Stil her so ähneln, beschleicht mich und verbeißt sich tief in meinem Stammhirn.
Wir latschen also durch einer Tür durch einen laaangen dunkelgelben Gang, bevor wir im Call-Center-Bereich ankommen. Und lasst mich euch sagen: Ich habe bis jetzt in einem Bundeswehr-Bunker ohne Klimaanlage, einem Hafenbüro ohne Klimaanlage, das zur Sonnenseite hin gelegen war, und in einem im Souterrain gelegenen Büro gearbeitet, wo man konsequent auf Sicherheitsvorkehrungen schiss und wo bis heute Unfälle am laufenden Meter passieren, weil mal wieder jemand über ein Kabel gestolpert ist – ach ja, und ohne Klimaanlage.
All diese Dinge waren das verfickte Hotel Atlantic im Gegensatz zu dem, was mir hier in Augen, Ohren, Nase und Hirnzellen sticht.
Das Call-Center befindet sich in einem Raum, der circa zehn Meter lang, drei Meter hoch und - wenn's hochkommt - fünf Meter breit ist. In dieser weißwändigen, blaubödigen "Röhre" sitzen und schwitzen zwanzig Leute, die nicht telefonieren sondern verdammt nochmal brüllen. Es gibt keine Trennwände zwischen den Plätzen, die PCs, Headsets, Tische, Mäuse - alles ist verstaubter als meine verdammte Wohnung, es gibt ein – E-I-N – Fenster, das man nur auf Kipp aufmachen kann und in den oberen Ecken des Raumes setzt schon langsam an den weißen Putzwänden der schwärzliche Pilz an. Oh. Mein. Gott.
Ich sehe hier auch den einzigen Mitbewerber namens Ingo. Ingo reicht mir vorsichtig die Hand. Er ist circa fünfundvierzig, Brillenträger und ich schätze, er hat eine Ausbildung, Studium oder ähnliches, aber findet einfach keinen Job. Er ist aus genau dem gegenteiligen Grund hier wie ich - ich bin hier nur, weil mich die Langeweile zuhause umbringt. Er kriegt keinen Job. Deshalb muss er die beschissensten Drecksangebote nehmen, die er gerade bekommt. Es ist ungerecht und ich fühle mich in seiner Gegenwart ein bisschen schlecht bei dem Gedanken, nur wegen „ein bisschen mehr Kohle“ hier zu sein.
Aber genug von ihm, denn er ist eh nach nicht einmal fünf Minuten weg, weil selbst dieser Job ihm zu beschissen ist. Mir noch nicht. Ich bin furchtbare Arbeitsbedingungen gewöhnt. Also denk' ich „Fuck it. 8,50 Euro die Stunde! Ich steh' auf Kohle!“. Also setze ich mich auf einen der vergilbten Bürostühle an einen der Tische, nun der dicken Chefin gegenüber sitzend. Die dicke Mutti weist mich ein und erzählt mir, was für ein unglaubliches, geniales und fantastisches Produkt mich dazu bewegen soll, eine halbe Stunde lang hin- und wieder zurückzutingeln nach motherfucking Longhorn. Wie war das noch? Papierherstellung und -verkauf?
Kassenrollen.
Ja. Kassenrollen. Diese Belege, die ich mir nur geben lasse, um sie danach in den Müll zu schmeißen. Ja, genau die. Ich soll mich jeden verdammten Tag in die Bahn setzen, Verspätungen ertragen, zwei bis drei Kippen rauchen und dabei denken "YEEEAAAH! GEIL! KASSENROLLEN! ICH VERTICKE KASSENROLLEN! YEEEAAAH!".
Mein Kopf filtert bereits jetzt schon die wirklich wichtigen Informationen aus ihrem selbstgefälligen Gelaber („Bla bla bla Ein Produkt, hinter dem man richtig stehen kann bla bla bla immer rollenweise verkaufen und vergiss dabei nicht die Reinigungskarten für's EC-Gerät bla bla bla Jabba der Hutte braucht mehr Kuchen ho ho ho!“), das sie mir in ihrer sonoren, gelangweilt wirkenden Stimme vorbetet. Als ob's noch nicht peinlich oder beschämend oder beides genug wäre, dass man verfickte Kassenrollen verkauft, darf man - abgesehen von einer halbstündigen Mittagspause - offiziell keine Pause machen.
Jo, is' richtig.
Ich bin Raucher. Ich muss, so doof das klingt, wenigstens alle zwei Stunden raus und eine rauchen, und eventuell dabei mit den Kollegen über die dümmsten Kunden schnacken. Sonst bin ich nicht 100-prozentig dienstfähig. Aber ich darf diesen verschwitzten, verschimmelten, verstaubten Raum höchstens verlassen, um zu essen und um zu scheißen, wenn ich das richtig verstehe. Geil. Richtig geil.
„Wenn Sie mögen, können Sie sich noch etwas in den Räumlichkeiten umschauen – und dann setze ich Sie gleich mal neben einen Kollegen, um mal reinzuhören, ne?“, schlägt sie vor.
Ich nicke und schaue mich um. Da ich pinkeln muss, folge ich einem provisorisch aufgehängten Schild, auf dem „WC“ steht, darunter ein Pfeil, der in die Richtung des dunkelgelben Gangs zeigt. Ich folge dem Pfeil also und hier bemerke ich, dass es ein Klo für zwanzig Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gibt. Ernsthaft? Zusätzlich vergeht mir die Freude am pissen schneller, als mir und meiner Blase lieb ist, denn die drei Kloschüsseln haben zusammen mehr Bremsspuren als der Nürburgring. Zudem gibt es rein vom Ding her keine Möglichkeit, um sich die Hände abzutrocknen, abgesehen von einem ollen dreckigen Handtuch, das links neben dem ehemals weißen, jetzt überwiegend gelblichen Waschbecken an einem rostigen Nagel in der Wand hängt. Zudem gibt mir der beißende Nikotingeruch hier eine gewisse Vermutung, wie die Raucher sich hier mit den beschissenen Bedingungen versuchen zu arrangieren.
Also fasse ich in meinem Kopf zusammen:
- Das Büro ist ein Drecksloch.
- Das Klo ist ekelhaft.
- Die Leute pöbeln sich gegenseitig lautstark ins Ohr weil's keine Trennwände gibt.
- Die Infodame ist dumm wie Brot.
- Es gibt keine richtigen Pausen.
- Prinzipiell gibt es auch keinen Zufluchtsort.
- Selbst die Mittagspause ist ein schlechter Scherz WEIL ES IN MOTHERFUCKING LONGHORN NICHTMAL EIN MACDONALDS GIBT! Nichtmal 'ne Tankstelle oder einen Bäcker oder sowas in der Art. Zumindest bin ich an nix vorbeigekommen, was dem nahe käme.
Jo, bis jetzt ist die Checkliste für einen beschissenen Arbeitsplatz perfekt. Fehlt nur noch, dass die Arbeit an sich beschissen ist. Denn man kommt ja irgendwohin, um dort zumindest ein bisschen Spaß am Job zu haben, nicht wahr?
Ich begebe mich also zurück zur Chefin, die mich dann noch einmal „richtig einweisen“ will. O-Ton:
„Naja, also Kassenrollen braucht halt jeder, ne? Und wir haben ausschließlich Bestandskunden. Also du fragst immer nach dem Gerät, was die verwenden und nach der Dicke der Rollen, die die da haben. Wenn die genug haben, versuchste, ihnen diese EC-Kartenleser-Reinigungskarten anzudrehen.“
Von den Teilen hatte ich sogar schon einmal gehört während meiner Speditionskaufmanns-Ausbildung. Die sind in Alkohol getränkt und sollen einmal durch den EC-Schlitz gezogen werden, damit er sauber ist. Was nicht gesagt wird von der dicken Mutti: Nach der dritten Benutzung dieser Reinigungskarte geht das EC-Kartenlesegerät eventuell kaputt. Super Produkt!
„Also, das ist halt immer wichtig, ne? Ach so: Es gibt hier auch 'ne Quote: Also du solltest schon 200 Rollen am Tag verkaufen. Weil, wenn das Team - also alle die hier sitzen - zusammen nicht eine bestimmte Zahl verkauft, da kann nur einer hinterherhinken – und joa, da kann's schonmal sein, dass wir hier bis 20 Uhr sitzen, ne? Aber mach dir mal keinen Kopf darüber.“
Nööö mach dir mal bloß keinen Kopf darum, dass das ganze Team dafür büßen darf wenn du verkackst und dich eventuell dafür hassen könnte! Code Red! Code Red!
„Das wird schon, ne? Und wunder dich nicht: Du kriegst auch 'n E-Mail-Konto, womit dich die Chefetage kontaktieren kann. Da kriegste dann Nachrichten über den Status und so.“
Ja, kein verfickter Scheiß, Captain Offensichtlich. Ich dachte, ich bekäme dann Morsestreifen zugesendet.
Sie setzt mich also in die letzte Reihe der Röhre neben einen Mann namens Rolf. Zwischen den Kundengesprächen erklärt er mir die Benutzeroberfläche und auch ein bisschen von seiner Lebensgeschichte:
- 35 Jahre alt
- hatte einen Motorradunfall und hat dementsprechend eine künstliche Hüfte.
- arbeitet hier seit drei Monaten.
- kommt fast niemals auf seine Quote (ich meine: Kein Wunder... KASSENROLLEN. HALLO?).
- hat Schiss um seinen Job, bekommt aber kaum bis gar nicht Feedback vom "Chef" (dazu gleich mehr).
- hat KfZ-Mechaniker gelernt, kann wegen seiner Hüfte den Beruf aber nicht mehr ausführen und hat drei Kinder zu ernähren. Ergo: Er muss jeden Piss-Job annehmen, den er kriegen kann.
Dem deutschen Arbeitsmarkt ging es nie so gut und so.
Die Benutzeroberfläche ist recht simpel gestrickt: Ein Telefon samt Headset ist verbunden mit einem PC. Auf dem Monitor dieses PCs sieht man dann die Nummer, die man anruft, den Kunden, der zu dieser Nummer gehört, und seine Bestellungen, allesamt zeitlich geordnet. In einer Maske, die aufklappt, sobald der Kunde interessiert ist, gibt man dann das Gerät des Kunden ein (d.h. Die Kasse/das EC-Gerät) und wie viele Rollen dafür bestellt werden. Ist alles fertig, klickt man auf den Button „Abschicken“ und das Ganze wird im System registriert. Sollte der Kunde sich anders entscheiden oder „Nein und ruft nie wieder an ihr •••••••!“ sagen, legt man den nächsten Anruf auf zwei Wochen später. Kann ja sein, dass der Kunde dann was will, erklärt mir Rolf. Aha.
Er zeigt mir also nach der kurzen (dritten) Einweisung, wie ein typischer Anruf vonstatten geht:
„Ja, guten Tag. Rolf Stauf hier von Unionpaper. Bin ich da richtig bei der Falken-Apotheke in Lüneburg? Ja, Sie hatten sich ja vor kurzem bei uns EC-Geräterollen bestellt und ich wollte fragen ob von Ihrer Seite momentan Bedarf besteht?“
Hier fällt bei mir der Groschen, wer oder was mit „Bestandskunden“ gemeint ist. Man sieht, wie gesagt, auf dem Monitor die Daten des Kunden inklusive seiner Bestellhistorie. Diese Apotheke hatte im Jahre 2004 ein Packen Kassenrollen bei dem Verein bestellt. Zwei. Tausend. Vier. Danach bestand null Kontakt von den Kollegen aus. Bestandskunden!
„Nein? Okay, gut. Wie sieht's aus mit EC-Kartenleser-Reinigungsdisks? Brauchen Sie nicht? Naja, also normalerweise lagert sich ja imemr Schmutz ab im Kartenleser. Und damit können Sie das dann reinigen. Ist eingepackt wie ein Brillentuch, also hermetisch versiegelt, ne? Und das ist in Alkohol getränkt.“
Wie ein Brillentuch halt, ne?
„Und das ziehen Sie einmal durch den Slot und das Gerät ist wieder sauber. Brauchen Sie nicht? Okay, alles klar, danke für Ihre Zeit. Tschüß!“
Die dicke Mutti schreit von ihrem Platz aus Rolf zu: „Haste auch gefragt ob die 'ne Kasse haben? Hätt'ste dann ja vielleicht noch 'n paar von den Rollen verticken können! Naja, jetzt's eh zu spät. Mensch, Rolf!“
Rolf schluckt einmal kurz und auf seinem leicht aufgedunsenen Gesicht zeigt sich eine gute Miene zum bösen Spiel. Er grinst künstlich und sagt: „Naja, der Ton ist hier sehr... ehrlich.“ Ich nicke. Was soll ich schon groß dazu sagen?
Vier oder fünf Anrufe später hat Rolf endlich jemanden dran, der die blöde Scheiße auch kaufen würde. Rolf ist kurz darauf der glücklichste Mensch der Welt: Er hat 100 Kassenrollen (Preis: 2,80 pro Stück) und 20 EC-Leser-Reinigungs-Dingsens (Preis: 4 Euro pro Stück) verkauft. Im Internet kriegst du genau dieselben Produkte für 50 (Kassenrollen) bzw. 90 Cent (EC-Karten-Reiniger-Scheiße). Ich weiß das, ich musste für meinen damaligen Betrieb so 'ne Teile bestellen (die im Endeffekt kaum bis gar nicht benutzt worden sind). Aber man kriegt ja bei der Bestellung noch eine riesige Ladung Rollen und Karten gratis obendrauf. Also läppert das sich, oder? Naja, nur wenn man ihnen seine Kontodaten gibt und sie das Geld direkt einziehen dürfen. Wenn man's per Nachnahme bzw. per Rechnung bezahlen willt, kommen noch 15 Euro Verpackung und Versand obendrauf. Nur für die Rollen, für die Karten-Reiniger erhebt Unionpaper keine Versandkosten. Nur 3 Euro Verpackung. Wie verfickt großzügig! Fast 300 Euro für etwas, was man für 50 Euro bei der Metro bekommen kann. Aber der Gratis-Scheiß kriegt jeden rum!
Während Rolf sich also freut, winkt mich die dicke Mutti zu sich rüber und fragt, was ich so denke bis jetzt. Es ist 10:40, ich bin seit fast zwei Stunden hier, darf keine rauchen gehen und will das Klo nicht benutzen. Was sagt man also?
„Naaa, ich möchte erstmal noch 'n bisschen gucken bevor ich mich entscheide.“, wiesel ich mich heraus und kriege also einen neuen Platz zum Zuhören neben einer Frau namens Katja zugeteilt. Wir schütteln Hände, sie schaut mich entgeistert an. Also, bis ich merke, dass das ihr normaler Blick ist, denke ich, sie wäre entgeistert. Aber nein: Das ist ihr normaler Blick. Ich kann's nicht oft genug für mich selbst betonen. Die Alte ist völlig gaga in der Birne von der ganzen Call-Center-Scheiße.
Sie spricht mit gedämpfter Stimme, zumindest außerhalb der Kundengespräche. Die Kunden dagegen blökt sie mit einem fröhlichen „JAAA GUTEN TAG KATJA SOUNDSO HIER VON UNIONPAPER!!!“ aus ihrer Lethargie. Sie arbeitet seit 5 Jahren hier und man merkt's: Sie ist völlig geistesabwesend, spricht verwirrtes Zeug zu mir, dem Kunden und sich selbst, schaut fast panisch zur dicken Mutti, ob sie irgendwas falsch gemacht hat und schaut ebenso panisch in ihr Outlook-E-Mail-Postfach.
Dort bekommt sie ständig Nachrichten von einem Herrn Arnold Nimbus geschickt. Sie hat heute (in den letzten zwei Stunden wohlgemerkt!) nichts verkauft. Und Arnold gefällt das nicht. Arnold schickt so aufbauende Mails á la:
„Na, immer noch nix verkauft?“
„Wird langsam Zeit, das du die Kunden mal gewinnst statt sie abzuschrecken.“
„Komm schon, da muss doch irgendwann was gehen.“
„Gleich ist Mittag und ich seh' bei dir immer noch 'ne Null. Was ist denn da los?“
Als ich frage, ob Arnold der Chef sei, sagt sie „Glaub' schon.“.
Und mir fällt auf, dass sich Arnold Nimbus ein bisschen anhört wie Anonymus. Hm. Ist wohl ein glücklicher Zufall, oder?
Um 11 Uhr sagt die Mutti: „So, wie sieht's aus? Willste dann mal selber ran?“
Ich, mangels besserer Dinge, die ich mit meiner Zeit anfangen kann, sage: „Ja, okay.“
Sie richtet ruckzuck alles an einem leeren Platz ein. Ich setze mich hin, schnappe mir das Headset und fange an. Ich bekomme einen Gesprächsleitfaden zugesteckt und eine Preisliste von dem Blödsinn, den ich hier verballer.
Die ersten Anrufe sind Nieten á la „Ja moin, hier ist Daniel Schandelorz von Unionpaper!“ „Nee, kein Interesse.“ „Okay, tschüß!“. Ich schließe sie negativ ab und lege den Anruf auf drei Monate später (weil „Vielleicht haben die da ja wieder Bedarf.“ Ja, solange sie bis dahin nicht wissen, was ein Schreibwaren-Discounter ist...). Nach vier Calls habe ich schon keinen Bock mehr.
Dann macht es PLING. Ich ignorier's.
Drei weitere Calls später. PLING. Ich ignorier's immer noch gekonnt.
11:45 Uhr. Es PLINGt mal wieder. Genervt öffne ich das E-Mail-Postfach und falle aus allen Wolken:
„Na, immer noch nix verkauft?“
„Wird langsam Zeit, das du die Kunden mal gewinnst statt sie abzuschrecken.“
„Komm schon, da muss doch irgendwann was gehen.“
„Gleich ist Mittag und ich seh' bei dir immer noch 'ne Null. Was ist denn da los?“
Absender bei allen Mails: Arnold Nimbus.
Dieselben verdammten Mails, die die Kollegin vor mir schon gekriegt hat.
Holy - fucking - shit.
Ich gehe zur dicken Mutti und sag ihr, dass ich den Probetag hier beende, da ich denke, dass das hier nix für mich ist. Das Produkt und so, ich kann das nicht. Kann nicht jeden Morgen eine halbe Stunde hierher fahren für Kassenrollen und meeeeh so ein bisschen Druck herrscht hier ja auch und vorher hatte ich zwar auch Druck gehabt im Job und so aber ich bin anderes gewohnt blablabla.
Kurz: Ich wiesel mich gekonnt heraus.
An der frischen Luft angekommen, rauche ich kurz hintereinander drei Zigaretten, rufe die Zeitarbeitsfirma an, die mich zu diesen Drecksladen vermittelt hat und will klar Schiff machen. Alles erzählen. Alle anrufen: RTL, ZDF, Sandra, Thomas - nur um allen zu erzählen, was für ein Scheißladen das ist.
Was ich als Grund angebe, dass ich hier nicht arbeiten will, ist:
Das Produkt und so, ich kann das nicht. Kann nicht jeden Morgen eine halbe Stunde hierher fahren für Kassenrollen und meeeeh so ein bisschen Druck herrscht hier ja auch und vorher hatte ich zwar auch Druck gehabt im Job und so aber ich bin anderes gewohnt blablabla.
Kurz: Ich wiesel mich gekonnt heraus. Schon wieder.
Kein Wort über den Schimmel, das Klo, den anonymen Chef, der die Leute stalkt. Nichts. Ich latsche zurück zur Bahn, steige ein, setze mich in eine freie Vierer-Sitzgruppe und als die Bahn losfährt denke ich mir: Warum wird links und rechts eigentlich die Call Center-Branche so verteidigt, wenn es immer noch so Läden gibt wie den hier?
Dann doch lieber zuhause langweilen und einen neuen Ausbildungsplatz suchen. Wenigstens ist da die Gefahr einer Schimmelpilz-Erkrankung geringer für mich. Wie es bei den anderen Leuten aussieht, die dort immer noch arbeiten...
Weiß ich nicht.
Und irgendwie macht mich das traurig, wenn ich so recht darüber nachdenke. Selbst zuhause lässt mich der Gedanke einfach nicht los, dass dort Leute gnadenlos ausgenutzt und zusammengepfercht werden wie Schweine. Abgefuckt. Richtig richtig abgefuckt. Ich gehe zur Dönerbude, die direkt neben Stavros' Laden ist, hole mir mein Mittagessen, setze mich zuhause vor den Fernseher und habe die Idee mit der Ausbildungsplatzsuche schneller vergessen, als mir lieb ist.
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Im nächsten Kapitel gibt es dann endlich wieder Party-Wahnsinn, ich verspreche es 
Edith: Gefixte Fassung. Danke Lynx
Geändert von T.U.F.K.A.S. (28.06.2011 um 17:04 Uhr)
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