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Thema: Mid-Twen-Crisis - Ein semi-autobiografischer Slacker-Roman

Hybrid-Darstellung

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  1. #1
    Nächster Teil kommt morgen. Solange solltet ihr wissen, welche Songs ich im Hintergrund höre bzw. welche Songs die Atmosphäre perfekt einfangen. Würde ich das Ding verfilmen, wären die wohl dabei

    1. Noisia - Groundhog
    2. Jimmy Eat World - Crush
    3. The Folk Implosion - Insinuation
    4. Faith No More - Midlife Crisis
    5. Royal Republic - Underwear
    6. Danko Jones - Tonight Is Fine
    7. Bush - Glycerine
    8. Semisonic - Closing Time
    9. Kettcar - Balkon Gegenüber
    10. Skrillex - Rock'n'Roll Will Take You To The Mountain
    11. Andrew W.K. - She Is Beautiful
    12. Boys Noize - Jeffer
    13. LCD Soundsystem - All My Friends
    14. The Gaslight Anthem - She Loves You
    15. The Chemical Brothers - Do It Again
    16. Madsen - Nachtbaden
    17. Frank Turner - Reasons Not To Be An Idiot

    So doer so ähnlich, ja

    Und gebt mal bitte ein bisschen mehr Feedback. Ich weiß, dass mehr als zwei Leute das lesen, aber kein Schwein meldet sich mal zu Wort und/oder kritisiert Scheiß

    Und danke an lucky, nebenbei

    Geändert von T.U.F.K.A.S. (27.06.2011 um 17:19 Uhr)

  2. #2
    Zitat Zitat von steel Beitrag anzeigen
    [...] Und gebt mal bitte ein bisschen mehr Feedback. Ich weiß, dass mehr als zwei Leute das lesen, aber kein Schwein meldet sich mal zu Wort und/oder kritisiert Scheiß [...]
    Tjoh, is geil. o.o'
    Weil das aber für eine richtige Kritik nicht reicht, und ich auch nicht wirklich etwas auszusetzen / anzumerken habe, habe ich mich bisher etwas zurückgehalten.
    Mach doch mal irgendwas stilistisch richtig falsch, nimm die Logik aus der Story oder hau derbe Grammatikfehler rein, damit man auch mal was zu kritisieren hat. o.o'

  3. #3
    Ich finde es großartig. Punkt.

    Okay, das kommt jetzt vielleicht massiv pussyhaft rüber, aber: Die Szene, in der Sandra und Danny im Cafe reden und wie er dann abhaut...hat mich tatsächlich berührt, wenn man es so sagen kann, oder besser, ich hatte spontan das Bedürfnis, eine Träne zu verdrücken.
    Jo, klingt wirklich massiv pussyhaft. Aber warum ich das sein darf, wissen wir beide

    Auch sonst...dein Schreibstil ist sehr anschaulich und toll und...glaubwürdig, also ich würds kaufen. Für Geld. Ernsthaft.

  4. #4
    Danke danke So, hier zunächst der nächste Teil. Achtung! Ich habe ein wenig recyclet, da ich finde, dass diese Story unbedingt mit rein musste. Könnte euch also in Abstrichen eventuell bekannt vorkommen

    _________________________________________________________________
    Mit geröteten Augen erwache ich aus meinem unruhigen Schlaf. Draußen ist es noch dunkel. Ich hatte das erste Mal seit Monaten einen Traum. Aber, wie immer, habe ich keine Ahnung, worum es genau ging. Ich weiß nur, dass Sandra drin vorkam. Sie hatte ihre Haare offen getragen, die wie perfekte Wellen in einem Bergsee im Wind wehten. Sie trug mein Lieblings-T-Shirt (ein rotes Bandshirt, auf dem in weißen Buch­staben NOFX steht) und hatte mich angelächelt. Aber ich konnte mich nicht bewegen, egal wie sehr ich ihr mit meinen Händen übers kantige, jugendliche und mit Sommersprossen verzierte Gesicht streicheln wollte. Egal, wie sehr sie mich mit ihren stechenden grünen Augen anstierte und mehr oder weniger etwas von mir verlangte, was ich ums Verrecken nicht tun konnte. Mehr erinnere ich gerade nicht.

    Ich rolle seitlich über die Bettkante und lande unter lautem Gefluche in einem Klamottenberg, in welchem ich erst einmal ein paar Minuten liegen bleibe. Sie hat es nicht besser verdient, oder? Ich habe alles richtig gemacht. Okay, die Wortwahl war vielleicht ein bisschen harsch, aber ich hatte mich nur verteidigt. Sie hat angefangen mit dem ganzen Vorwurfs-Scheiß. Völlig unbegründet. Meine Situation ist absolut schwierig und...

    Fuck, sie hat Recht.

    Nein, hat sie nicht. Bullshit. Ich bin alt genug, um zu wissen, was gut für mich ist. Auf die Schnepfe ist geschissen, auf ihren behinderten Macker gleich mit. Sie hat es sich total versaut mit mir. Mit sich selbst. Mit allem. Ich werde nie wieder angekrochen kommen, die soll sehen, wo sie mit ihrer Scheißtour hinkommen wird. Nicht sonderlich weit, das weiß ich jetzt schon. Sie wird in einer Sackgasse landen, ohne Ausweg, ich werde der Einzige sein, der ihr helfen kann. Aber dann bin ich bereits über alle Berge, weg von ihr, weg von hier, weg von diesem Drecksloch.

    Aber bevor ich diese wirklich sehr anspruchsvolle Aufgabe in die Tat umsetzen kann, muss ich erstmal was essen. Unter Zuhilfenahme meiner Bettkante, an der ich mich mit meinen Händen abstütze, stehe ich auf und wanke langsam zum Kühlschrank. Tür auf. Leer. Fuck. Tür zu. Ich streife mir meinen allerfeinsten Bademantel über, ziehe meine besten Bio-Latschen an, stopfe den Haustür- und den Wohnungsschlüssel in meine Pyjamahosentasche und stapfe die Treppen hinunter. Wenn man aus der Haustür heraustritt, kommt man linker Hand an einer kleinen Bäckerei vorbei. Der Typ, der tagtäglich hinterm Tresen steht und mich mit Futter versorgt, wenn mein Kühlschrank leer ist, heißt Stavros und ist Grieche. Er ist circa vierzig Jahre alt, mit seiner Familie vor fünf Jahren nach Deutschland eingewandert und cool drauf. Die Stammkundschaft von „Stavros's (sic) Bäckerei und Stehcafé“ sind neben mir zwei ältere Herrschaften, die hier unter Einfluss von literweise Holsten Pilsener über die Schlagzeilen der Bild-Zeitung diskutieren. Und zwar genauso eloquent, wie ihr es vermuten würdet:
    „Die Olle von Big Brother (ausgesprochen wie 'Bick Brasa') hat schon wieder geworfen, ne?“
    „Ach nee?“
    „Ja doch.“
    „Ach du Scheiße, gibt’s dann auch 'ne Fernsehshow über sie und ihr neues Kind oder was?“
    „Schätz' ma' ja.“
    „Geht ja gar nich'!“
    „Die Alte vertickt quasi ihre Familie über Fernsehen! Würdest du das machen mit Ulrike, sach mal?“
    „Nee! Ma' ganz davon ab, dass die Olle eh keiner im Fernsehen drin sehen möchte.“
    „Ulrike, ne?“
    „Ja. Ha ha!“
    Währenddessen dudelt im Hintergrund das Beste aus den 90ern, 2000ern und von heute. Sprich: Pop-Kacke, die ich verabscheue. Aber egal, ich will nur ein paar Brötchen holen und in meiner Bude verspeisen. Ist jetzt nicht so, dass ich irgendwas „zum hier essen“ bestellen würde.
    Mit einem breiten Grinsen begrüßt mich Stavros. Die Uhr, die an der Wand hinter ihm hängt, sagt 7 Uhr und ein paar Zerkrümelte. Also mitten in der Nacht. Und die beiden Typen sitzen jetzt schon hier und saufen ihr HoPiHaLiDo (Abkürzung für „Holsten Pilsener, Halber Liter-Dose“). Igitt. Ich schaue mir die Auslage an. Franzbrötchen, Croissants, Baguettes, Kaiserbrötchen, Weltmeisterbrötchen, alles was des Brötchen-Fans Herz begehrt.
    „Danny!“, sagt Stavros mit einer gewissen Melodie in der recht tiefen Bariton-Stimme. „Gute' Morgen!“
    „Moin moin.“, grüße ich halbmüde zurück.
    „Wie immer oder willst diesmal was anders?“, fragt Stavros in gebrochenem Deutsch.
    „Nee nee, gib' mal bitte wie immer.“, antworte ich knapp.
    „Also zwei Franz, drei Croissants, ne?“, übersetzt Stavros mein „Wie immer“.
    „Richtig.“, bestätige ich, krame vier Euro aus meiner Pyjamahose und drück sie ihm in die Hand, „Passt so.“ murmelnd. Die beiden Dosenbier-Trinker haben derweil ein neues Thema ausgebuddelt. Anscheinend hat ein Mädel vorgehabt, ihre Freunde über Facebook zu ihrem sechzehnten Geburtstag einzuladen. Doofer­weise hatte sie die Einladung aus Versehen nicht „privat“, sondern „öffentlich“ gemacht. Und jetzt hatten sich über 8000 Leute angekündigt, die Larissas Geburtstag feiern wollten. Und das war in Bramfeld, also circa eine Viertelstunde bis zwanzig Minuten von mir entfernt. Hmmm... Ich überlege, ob man dorthin 'ne Tour starten könnte. Ich sollte nachher mal Thomas anrufen. Aber erstmal recherchieren, wann diese Party überhaupt steigt.

    Ein Ziel vor Augen (ein absolut unwichtiges zwar, aber ein Ziel), laufe ich, mein Frühstück in einem Papier­tütchen vor mir her tragend, das Treppenhaus hoch, zurück in meine Wohnung, pflanze mich im Schneider­sitz auf mein Bett und stelle den Laptop halbwegs gerade auf meine Knie. Larissas Geburtstag findet erst in drei Wochen statt. Das arme Mädel. Sie hat die Polizei eingeschaltet, damit ihr Haus nicht von der über­großen Partymeute in Stücke gerissen wird. Aber selbst Schuld, ganz ehrlich. Obwohl: Sie ist fünfzehn Jahre alt. Das hätte jedem passieren können in dem Alter, gerade wenn man noch nicht ganz plietsch ist mit dem Internet. Und da sowohl das Internet als auch die echte Welt voller Arschlöcher ist, hätte ich an ihrer Stelle jetzt auch Angst um mein Haus. Ich beschließe, nicht zu ihrer Party zu kommen. Ein Arschloch weniger macht bei 8000 Arschlöchern nicht unbedingt einen Riesenunterschied – aber immer noch besser als gar nix.

    Warum denke ich eigentlich, dass alle Leute Arschlöcher sind? Es gibt definitiv Ausnahmen. Aber ich habe eine Theorie: Im Prinzip kommt jeder als selbstgefälliges Stück Scheiße auf die Welt. Als Baby braucht man alle Aufmerksamkeit, lenkt selbige von seinen anderen Geschwistern auf sich selbst – logisch, weil man ja ansonsten eingeht. Danach (also nach der unabwendbaren und wichtigen „Selbstgefälliges Stück Scheiße“-Phase) bestimmen das Umfeld, die Eltern, die Leute die man kennt und die Sachen die man sieht, ob man zu einem guten, netten Menschen oder zu einer Arschgeige wird. Ich reihe mich eher in letztere Kategorie ein. Obwohl ich auch durchaus nett sein kann. Aber es kommt selten vor. Arschloch sein ist für mich Selbstverteidigung. Wer besser bescheißt und andere in den Boden stampft, gewinnt. Meistens, zumindest. So läuft das halt. Und ich kann nichts dagegen machen, so gerne ich die Leute nicht behandeln möchte wie ein Asi. Es tut mir zumeist leid.

    Und da es mir leidtut, kann ich nicht ganz so schlimm sein, oder?

    Kein Plan. Ich klappe den Laptop zusammen, lege ihn neben mein Bett und bleibe für ein paar Minuten liegen. Auf dem Rücken liegend, immer noch den Bademantel tragend, futter ich mir mein Frühstück, das ich strategisch geschickt direkt neben mich platziert hatte. Langeweile macht sich breit. Meine Augen schließen sich. Und plötzlich ist es hell draußen und mein Handy klingelt. Fuck, wie lange war ich weg? Egal, ich muss mein Handy im Klamottenberg suchen. Ich schmeiße die Pullis, T-Shirts, Boxershorts quer durch die Bude, bis ich wieder die Jeans finde, in deren Hosentasche das Handy versteckt ist. Ich kenne die Nummer nicht, gehe aber dennoch ran.
    „Hallo?“, melde ich mich.
    „Herr Schandelorz?“, meldet sich eine freundliche Frauenstimme zurück.
    „Jawohl, am Apparat.“
    „Ach, sehr gut. Meine Name ist Katja Junge von FPS Personaldienstleistungen.“, sagt sie. Eine Zeitarbeitsfirma. Normalerweise lehne ich bei sowas direkt ab, da die meisten Jobs, die sie anbieten, totale Scheiße sind. Aber ich kann nicht mehr länger zuhause untätig herumgammeln. Also werde ich dieses Mal nett sein.
    „Wir haben Ihr Profil auf der Website der Arbeitsagentur gesehen und da steht, dass Sie sich besonders für Bürojobs interessieren würden, richtig?“, fährt Frau Junge fort.
    „Ja, natürlich.“, sage ich.
    „Sehr gut, dann kann ich Ihnen sogar eine Stelle anbieten. Der Kunde sucht nach Call-Center-Agents, die zwischendrin auch etwas Backoffice machen, also Akten sortieren und so fort. Hätten Sie prinzipiell Interesse daran?“
    Letzte Gelegenheit, „Nein“ zu sa... „Ja, natürlich. Also ich bin für alles offen, so ist es nicht.“, unterbreche ich meinen Schweinehund.
    „Ah sehr gut! Wann hätten Sie denn Zeit, um dort ein Bewerbungsgespräch wahrzunehmen?“
    „Jederzeit.“
    „Direkt morgen um 9? Wäre erstmal nur ein Probetag.“
    „Klar.“
    „Super, das freut mich. Also, schauen Sie sich das da ganz in Ruhe an. Das ist ein Dienstleister, der sich vor allem auf Papierherstellung und -verkauf spezialisiert hat. Also: Sie schauen sich das einfach an, und wenn es Ihnen gefällt, dann melden Sie sich einfach nochmal unter dieser Nummer, mit der ich Sie angerufen habe. Dann machen wir den Vertrag, ne? Adresse und weitere Infos schicke ich Ihnen dann gleich nochmal per E-Mail, okay?“, überfährt mich Frau Junge mit ihrem Wortschwall. Keine Chance, das Ruder rumzureißen. Ich bejahe freundlich, bedanke mich, verabschiede mich und lege auf.

    Kacke, direkt morgen ein Bewerbungsgespräch. Papierherstellung und -verkauf? Was kann man sich denn bitte darunter vorstellen? Abgefahren. Weben und verkaufen die etwa Klopapier? Backoffice? Akten sortieren? Call-Center? So viele Sachen auf einmal, die jedem Normalsterblichen ein sofortigen Hirnschlag verpassen könnten. Egal, ich werde morgen mit offenen Armen und Ohren hinein spazieren und sehen, was passiert. Wenn das nach normalem Zeitfirmentarif läuft, dann kriege ich circa 1200 Euro im Monat. Das wäre okay. Etwas unzureichend, aber besser als das ALG auf alle Fälle. Also schlage ich den Rest dieses Tages tot mit einem Telefongespräch mit meiner Mutter, die sich sehr um meine Gesundheit sorgt und am liebsten vorbei­kommen will, um mal aufzuräumen. Da meine Eltern in Kiel wohnen und ich ihnen den Weg ersparen will, sage ich, dass alles gut wäre und Sandra sich gut um den ganzen Scheiß hier kümmern würde. Ich bring's momentan nicht über's Herz, meiner Mutter zu erzählen, dass mein einziger Fixpunkt neben Thomas in dieser beschissenen Stadt weg ist und nicht wieder zurückkommt. Immer, wenn sie mit Sandra reden will, sage ich, dass sie gerade weg „auf Schicht“ wäre. Was sogar stimmt, da sie als Kellnerin arbeitete, als sie noch zu den „Guten“ gehörte. Was sie jetzt macht – keine Ahnung, wahrscheinlich hockt sie auf ihrem Arsch und lässt ihren Fabian-Ficker alles für sie tun, wie sie es immer von mir erwartet hat. ••••••••.

    Nach dem erquickenden Gespräch ziehe ich mir das Nachmittagsprogramm rein. Als „Two and a half men“ losgeht, penne ich ein. Zum Glück habe ich in weiser Voraussicht meinen Wecker auf 7 Uhr gestellt, kurz nach meinem Gespräch mit Frau Junge. Duschen, Zähne putzen, kacken, Hemd und Hose anziehen, das übriggebliebene Croissant von gestern reinschrauben und während des Mampfens noch einmal schnell nachsehen, wo zum Geier ich überhaupt hinfaLANGENHORN?

    Motherfucking Longhorn. Oh mein Gott. Zur Erklärung: Motherfucking Longhorn ist der randigste und ranzigste Randbezirk Hamburgs. Eine Gewerbefläche so groß wie mein Arsch, vielleicht zwei drei Einfami­lienhäuser und irgendwo noch einen ein Edeka - sonst gibt es NICHTS in motherfucking Longhorn. Mother­fucking Longhorn lässt selbst Bezirke wie Barsbüttel und Berne aussehen wie New York und... New Jersey. Okay, schlechter Vergleich, aber ich denk mal, jeder weiß worauf ich hinaus will. Motherfucking Longhorn ist aber zu meiner Erleichterung nur 15 Bus- und Bahnminuten von meiner Bude entfernt. Also merke ich mir so gut es geht die Wegbeschreibung aus dem Internet und renne los. Bus. S-Bahn bis Ohlsdorf. U-Bahn bis (Mutterficking) Langenhorn Markt. Einen fünfminütigen Fußmarsch und eine Zigarette später komme ich endlich an. Die Hausnummer ist 15, laut meiner Informationen. Ich schaue also von dem Zettel, auf dem ich die wichtigsten Sachen aufgeschrieben hatte, hinauf zu einem baufälligen, kackbraunen Klotz, der mitten in einem Industriegebiet steht. Die Fassade ist teilweise verkleidet mit blauen Alu-Lamellen, aber größenteils liegt der Putz frei. Ein paar Gerüste sind drumherum aufgebaut, allerdings arbeitet niemand da. Wat Wunder, ist ja auch motherfucking Longhorn. Hier will keiner arbeiten. Ich latsche also in Richtung der Eingangstür. Es ist eine vergilbte Glastür, durch deren leicht angeknackste und verdreckte Scheibe man kann kaum in diesen bekackten Bunker hinein schauen kann. Dafür hängt ein Zettel an ebenjener Tür, auf dem handschriftlich die folgenden Worte verfasst wurden:

    Die Eingangstür ist defekt. Bewerber bitte durch Hintereingang in der Eingangsbereich melden! DanKE!

    Nach einem ungefähr zweiminütigen Lachanfall begebe ich mir also hinter dem Gebäude zu der Hinter­eingang in die Eingangbereich und so. Der Gang zum Empfang hin kommt mir vor wie der Gang zur Schlachtbank. Der Flur ist durch und durch dunkelgelb. Die Wände, die Decke, selbst der PVC-Boden. Dunkelgelb wie die Glasscheiben des Palastes der Republik (Rest in Pieces). Vorbei an verschlossenen Stahltüren, die es aussehen lassen, als würden hinter ihnen Höchstschwerverbrecher eingesperrt sein wie Charles Manson, Adolf Hitler und diese Katzenberg-Fotze oder wie auch immer sie heißt. Eine weißlackierte Doppeltür aus Stahl scheint der Zugang zum Innenhof der Call-Center-Hölle zu sein, denn groß und breit steht in schwarzen Lettern auf der von mir aus rechten Tür in Comic Sans-Schriftart „Unionpaper“. Örgs.

    Ich drücke die Klingel, die links neben ebenjener Tür ist. Ein Dröhnen ertönt drinnen, dann geht die Tür wie von Geisterhand auf. Also eher von Menschenhand, denn eine junge Dame hat sie mir geöffnet. Sie schaut mich treudoof an und das Erste, was aus ihrem Mund kommt, ist: „Bewerber?“
    „Ja guten Tag auch.“, entgegne ich, einen gut gelaunten Menschen mimend inklusive des breiten Grinsens.
    „Bewerber?“, wiederholt sie ihre Frage, während ich ungefragt eintrete.
    „Öh. Ja.“, sage ich und jetzt, wo ich „drin“ bin, kann ich einen genaueren Blick auf alles werfen. Der Ein­gangsbereich ist auf jeden Fall freundlicher gestaltet als der Weg dorthin. Dunkelgrüner Teppichboden, allem Anschein nach frisch gestrichene, weiße Wände und ein circa drei oder vier Meter langer Tresen, hinter dem zwei Arbeitsplätze inklusive PCs versteckt sind. Einer für die Türöffnerin, einer für ihre blutjunge, überfordert drein guckende Kollegin. Vorne auf dem Tresen prangert auf einem Schild mit blauem Hinter­grund in etwas professioneller wirkender Manier (soll heißen: Nicht in Comic Sans) in weißen Buchstaben wieder der Name der Firma, dieses Mal mit „KG“ dahinter. Kommanditgesellschaft also, okay. Aber nur, weil der Empfang leicht seriöser wirkt als The Yellow Mile, heißt das nicht, dass dieses Unternehmen im Allgemeinen soweit seriös wirkt.

    Während die blutjunge, Bambi-äugige Kollegin noch ganz „normal“ (T-Shirt, Rock, ein bisschen Schminke im Gesicht – normal halt) wirkt, sieht ihre Kollegin aus wie eine Mischung aus Schackäline aus dem „Frisör­studio Wumpe und Nulpe“ und der typischen Hot Topic- oder Colours-Kundin. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt mit Glitzerschrift, welche "Punk is dead!" sagt, dazu einen Jeans-Minirock mit einem Glitzer-Totenkopf auf der rechten Arschbacke (welche genauso voluminös ist wie die linke Arschbacke welche wiederum genauso voluminös ist wie der Rest ihres dicken Körpers), hat blonde Haare mit blauen, pinken und schwar­zen Strähnchen drin (Holy shit, dude...) und komplettiert diese Katastrophe durch aller-, aller-, allerfeinstes Nutten-Make-Up. Straight outta Süderstraße, Nigga!

    Zum gefühlt zehntausendsten Male fragt sie „Sie sind Bewerber, ne?“
    Ich nicke.
    „Wegen Bewerbung für Call-Center, ne?“
    Nein, als Bewerber bin ich hier wegen des coolen Ambientes und wegen der leckeren Cocktails NATÜRLICH BIN ICH HIER WEGEN DER SCHEISS-BEWERBUNG DU DUMME KUH! Statt diese Wortsalve loszulassen, entschließe ich mich, wieder zu nicken. Zweimal.
    „Gut, ich hol mal...“, sie stockt, „Ich... ich hol mal.“
    Okay, sie geht also mal holen. Währenddessen tausche ich freundliche Blicke mit Bambiauge aus, die ab und an lächelnd über ihren Monitor zu mir rüberschaut. Sie ist kein Model, aber hübsch ist sie trotzdem meiner Meinung nach. Große braune Augen, schmales Gesicht, allem Anschein nach ein bisschen Babyspeck am Körper, aber sonst relativ schlank. Sie wirft alle paar Sekunden ihre langen blonden Haare zurück über die Schultern, damit sie ihr nicht die ganze Zeit vorm Gesicht rumhängen, während sie... irgendwas in den PC eintippt.
    Unsere traute Zweisamkeit wird jäh gestört durch die Rückkehr von Infotresen-Tussi und ihrer Chefin, die sie mal geholt hat. Die Chefin sieht mindestens genauso schlimm aus wie ihre Untergebene, nur ungefähr zwanzig Kilo schwerer und ohne die farbigen Strähnchen (dafür mit schön scheißiger, dauergewellter Vokuhila-Frise). Der Verdacht, dies könnte ein Familienbetrieb sein, weil die beiden sich von Aussehen und Stil her so ähneln, beschleicht mich und verbeißt sich tief in meinem Stammhirn.

    Wir latschen also durch einer Tür durch einen laaangen dunkelgelben Gang, bevor wir im Call-Center-Bereich ankommen. Und lasst mich euch sagen: Ich habe bis jetzt in einem Bundeswehr-Bunker ohne Klimaanlage, einem Hafenbüro ohne Klimaanlage, das zur Sonnenseite hin gelegen war, und in einem im Souterrain gelegenen Büro gearbeitet, wo man konsequent auf Sicherheitsvorkehrungen schiss und wo bis heute Unfälle am laufenden Meter passieren, weil mal wieder jemand über ein Kabel gestolpert ist – ach ja, und ohne Klimaanlage.

    All diese Dinge waren das verfickte Hotel Atlantic im Gegensatz zu dem, was mir hier in Augen, Ohren, Nase und Hirnzellen sticht.

    Das Call-Center befindet sich in einem Raum, der circa zehn Meter lang, drei Meter hoch und - wenn's hochkommt - fünf Meter breit ist. In dieser weißwändigen, blaubödigen "Röhre" sitzen und schwitzen zwanzig Leute, die nicht telefonieren sondern verdammt nochmal brüllen. Es gibt keine Trennwände zwischen den Plätzen, die PCs, Headsets, Tische, Mäuse - alles ist verstaubter als meine verdammte Wohnung, es gibt ein – E-I-N – Fenster, das man nur auf Kipp aufmachen kann und in den oberen Ecken des Raumes setzt schon langsam an den weißen Putzwänden der schwärzliche Pilz an. Oh. Mein. Gott.

    Ich sehe hier auch den einzigen Mitbewerber namens Ingo. Ingo reicht mir vorsichtig die Hand. Er ist circa fünfundvierzig, Brillenträger und ich schätze, er hat eine Ausbildung, Studium oder ähnliches, aber findet einfach keinen Job. Er ist aus genau dem gegenteiligen Grund hier wie ich - ich bin hier nur, weil mich die Langeweile zuhause umbringt. Er kriegt keinen Job. Deshalb muss er die beschissensten Drecksangebote nehmen, die er gerade bekommt. Es ist ungerecht und ich fühle mich in seiner Gegenwart ein bisschen schlecht bei dem Gedanken, nur wegen „ein bisschen mehr Kohle“ hier zu sein.

    Aber genug von ihm, denn er ist eh nach nicht einmal fünf Minuten weg, weil selbst dieser Job ihm zu beschissen ist. Mir noch nicht. Ich bin furchtbare Arbeitsbedingungen gewöhnt. Also denk' ich „Fuck it. 8,50 Euro die Stunde! Ich steh' auf Kohle!“. Also setze ich mich auf einen der vergilbten Bürostühle an einen der Tische, nun der dicken Chefin gegenüber sitzend. Die dicke Mutti weist mich ein und erzählt mir, was für ein unglaubliches, geniales und fantastisches Produkt mich dazu bewegen soll, eine halbe Stunde lang hin- und wieder zurückzutingeln nach motherfucking Longhorn. Wie war das noch? Papierherstellung und -verkauf?

    Kassenrollen.
    Ja. Kassenrollen. Diese Belege, die ich mir nur geben lasse, um sie danach in den Müll zu schmeißen. Ja, genau die. Ich soll mich jeden verdammten Tag in die Bahn setzen, Verspätungen ertragen, zwei bis drei Kippen rauchen und dabei denken "YEEEAAAH! GEIL! KASSENROLLEN! ICH VERTICKE KASSENROLLEN! YEEEAAAH!".

    Mein Kopf filtert bereits jetzt schon die wirklich wichtigen Informationen aus ihrem selbstgefälligen Gelaber („Bla bla bla Ein Produkt, hinter dem man richtig stehen kann bla bla bla immer rollenweise verkaufen und vergiss dabei nicht die Reinigungskarten für's EC-Gerät bla bla bla Jabba der Hutte braucht mehr Kuchen ho ho ho!“), das sie mir in ihrer sonoren, gelangweilt wirkenden Stimme vorbetet. Als ob's noch nicht peinlich oder beschämend oder beides genug wäre, dass man verfickte Kassenrollen verkauft, darf man - abge­sehen von einer halbstündigen Mittagspause - offiziell keine Pause machen.
    Jo, is' richtig.
    Ich bin Raucher. Ich muss, so doof das klingt, wenigstens alle zwei Stunden raus und eine rauchen, und eventuell dabei mit den Kollegen über die dümmsten Kunden schnacken. Sonst bin ich nicht 100-prozentig dienstfähig. Aber ich darf diesen verschwitzten, verschimmelten, verstaubten Raum höchstens verlassen, um zu essen und um zu scheißen, wenn ich das richtig verstehe. Geil. Richtig geil.

    „Wenn Sie mögen, können Sie sich noch etwas in den Räumlichkeiten umschauen – und dann setze ich Sie gleich mal neben einen Kollegen, um mal reinzuhören, ne?“, schlägt sie vor.
    Ich nicke und schaue mich um. Da ich pinkeln muss, folge ich einem provisorisch aufgehängten Schild, auf dem „WC“ steht, darunter ein Pfeil, der in die Richtung des dunkelgelben Gangs zeigt. Ich folge dem Pfeil also und hier bemerke ich, dass es ein Klo für zwanzig Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gibt. Ernsthaft? Zusätzlich vergeht mir die Freude am pissen schneller, als mir und meiner Blase lieb ist, denn die drei Klo­schüsseln haben zusammen mehr Bremsspuren als der Nürburgring. Zudem gibt es rein vom Ding her keine Möglichkeit, um sich die Hände abzutrocknen, abgesehen von einem ollen dreckigen Handtuch, das links neben dem ehemals weißen, jetzt überwiegend gelblichen Waschbecken an einem rostigen Nagel in der Wand hängt. Zudem gibt mir der beißende Nikotingeruch hier eine gewisse Vermutung, wie die Raucher sich hier mit den beschissenen Bedingungen versuchen zu arrangieren.

    Also fasse ich in meinem Kopf zusammen:
    • Das Büro ist ein Drecksloch.
    • Das Klo ist ekelhaft.
    • Die Leute pöbeln sich gegenseitig lautstark ins Ohr weil's keine Trennwände gibt.
    • Die Infodame ist dumm wie Brot.
    • Es gibt keine richtigen Pausen.
    • Prinzipiell gibt es auch keinen Zufluchtsort.
    • Selbst die Mittagspause ist ein schlechter Scherz WEIL ES IN MOTHERFUCKING LONGHORN NICHTMAL EIN MACDONALDS GIBT! Nichtmal 'ne Tankstelle oder einen Bäcker oder sowas in der Art. Zumindest bin ich an nix vorbeigekommen, was dem nahe käme.


    Jo, bis jetzt ist die Checkliste für einen beschissenen Arbeitsplatz perfekt. Fehlt nur noch, dass die Arbeit an sich beschissen ist. Denn man kommt ja irgendwohin, um dort zumindest ein bisschen Spaß am Job zu haben, nicht wahr?

    Ich begebe mich also zurück zur Chefin, die mich dann noch einmal „richtig einweisen“ will. O-Ton:

    „Naja, also Kassenrollen braucht halt jeder, ne? Und wir haben ausschließlich Bestandskunden. Also du fragst immer nach dem Gerät, was die verwenden und nach der Dicke der Rollen, die die da haben. Wenn die genug haben, versuchste, ihnen diese EC-Kartenleser-Reinigungskarten anzudrehen.“

    Von den Teilen hatte ich sogar schon einmal gehört während meiner Speditionskaufmanns-Ausbildung. Die sind in Alkohol getränkt und sollen einmal durch den EC-Schlitz gezogen werden, damit er sauber ist. Was nicht gesagt wird von der dicken Mutti: Nach der dritten Benutzung dieser Reinigungskarte geht das EC-Kartenlesegerät eventuell kaputt. Super Produkt!

    „Also, das ist halt immer wichtig, ne? Ach so: Es gibt hier auch 'ne Quote: Also du solltest schon 200 Rollen am Tag verkaufen. Weil, wenn das Team - also alle die hier sitzen - zusammen nicht eine bestimmte Zahl verkauft, da kann nur einer hinterherhinken – und joa, da kann's schonmal sein, dass wir hier bis 20 Uhr sitzen, ne? Aber mach dir mal keinen Kopf darüber.“

    Nööö mach dir mal bloß keinen Kopf darum, dass das ganze Team dafür büßen darf wenn du verkackst und dich eventuell dafür hassen könnte! Code Red! Code Red!

    „Das wird schon, ne? Und wunder dich nicht: Du kriegst auch 'n E-Mail-Konto, womit dich die Chefetage kontaktieren kann. Da kriegste dann Nachrichten über den Status und so.“

    Ja, kein verfickter Scheiß, Captain Offensichtlich. Ich dachte, ich bekäme dann Morsestreifen zugesendet.

    Sie setzt mich also in die letzte Reihe der Röhre neben einen Mann namens Rolf. Zwischen den Kundengesprächen erklärt er mir die Benutzeroberfläche und auch ein bisschen von seiner Lebensgeschichte:

    • 35 Jahre alt
    • hatte einen Motorradunfall und hat dementsprechend eine künstliche Hüfte.
    • arbeitet hier seit drei Monaten.
    • kommt fast niemals auf seine Quote (ich meine: Kein Wunder... KASSENROLLEN. HALLO?).
    • hat Schiss um seinen Job, bekommt aber kaum bis gar nicht Feedback vom "Chef" (dazu gleich mehr).
    • hat KfZ-Mechaniker gelernt, kann wegen seiner Hüfte den Beruf aber nicht mehr ausführen und hat drei Kinder zu ernähren. Ergo: Er muss jeden Piss-Job annehmen, den er kriegen kann.


    Dem deutschen Arbeitsmarkt ging es nie so gut und so.

    Die Benutzeroberfläche ist recht simpel gestrickt: Ein Telefon samt Headset ist verbunden mit einem PC. Auf dem Monitor dieses PCs sieht man dann die Nummer, die man anruft, den Kunden, der zu dieser Nummer gehört, und seine Bestellungen, allesamt zeitlich geordnet. In einer Maske, die aufklappt, sobald der Kunde interessiert ist, gibt man dann das Gerät des Kunden ein (d.h. Die Kasse/das EC-Gerät) und wie viele Rollen dafür bestellt werden. Ist alles fertig, klickt man auf den Button „Abschicken“ und das Ganze wird im System registriert. Sollte der Kunde sich anders entscheiden oder „Nein und ruft nie wieder an ihr •••••••!“ sagen, legt man den nächsten Anruf auf zwei Wochen später. Kann ja sein, dass der Kunde dann was will, erklärt mir Rolf. Aha.

    Er zeigt mir also nach der kurzen (dritten) Einweisung, wie ein typischer Anruf vonstatten geht:

    „Ja, guten Tag. Rolf Stauf hier von Unionpaper. Bin ich da richtig bei der Falken-Apotheke in Lüneburg? Ja, Sie hatten sich ja vor kurzem bei uns EC-Geräterollen bestellt und ich wollte fragen ob von Ihrer Seite momentan Bedarf besteht?“

    Hier fällt bei mir der Groschen, wer oder was mit „Bestandskunden“ gemeint ist. Man sieht, wie gesagt, auf dem Monitor die Daten des Kunden inklusive seiner Bestellhistorie. Diese Apotheke hatte im Jahre 2004 ein Packen Kassenrollen bei dem Verein bestellt. Zwei. Tausend. Vier. Danach bestand null Kontakt von den Kollegen aus. Bestandskunden!

    „Nein? Okay, gut. Wie sieht's aus mit EC-Kartenleser-Reinigungsdisks? Brauchen Sie nicht? Naja, also normalerweise lagert sich ja imemr Schmutz ab im Kartenleser. Und damit können Sie das dann reinigen. Ist eingepackt wie ein Brillentuch, also hermetisch versiegelt, ne? Und das ist in Alkohol getränkt.“

    Wie ein Brillentuch halt, ne?

    „Und das ziehen Sie einmal durch den Slot und das Gerät ist wieder sauber. Brauchen Sie nicht? Okay, alles klar, danke für Ihre Zeit. Tschüß!“

    Die dicke Mutti schreit von ihrem Platz aus Rolf zu: „Haste auch gefragt ob die 'ne Kasse haben? Hätt'ste dann ja vielleicht noch 'n paar von den Rollen verticken können! Naja, jetzt's eh zu spät. Mensch, Rolf!“
    Rolf schluckt einmal kurz und auf seinem leicht aufgedunsenen Gesicht zeigt sich eine gute Miene zum bösen Spiel. Er grinst künstlich und sagt: „Naja, der Ton ist hier sehr... ehrlich.“ Ich nicke. Was soll ich schon groß dazu sagen?

    Vier oder fünf Anrufe später hat Rolf endlich jemanden dran, der die blöde Scheiße auch kaufen würde. Rolf ist kurz darauf der glücklichste Mensch der Welt: Er hat 100 Kassenrollen (Preis: 2,80 pro Stück) und 20 EC-Leser-Reinigungs-Dingsens (Preis: 4 Euro pro Stück) verkauft. Im Internet kriegst du genau dieselben Produkte für 50 (Kassenrollen) bzw. 90 Cent (EC-Karten-Reiniger-Scheiße). Ich weiß das, ich musste für meinen damaligen Betrieb so 'ne Teile bestellen (die im Endeffekt kaum bis gar nicht benutzt worden sind). Aber man kriegt ja bei der Bestellung noch eine riesige Ladung Rollen und Karten gratis obendrauf. Also läppert das sich, oder? Naja, nur wenn man ihnen seine Kontodaten gibt und sie das Geld direkt einziehen dürfen. Wenn man's per Nachnahme bzw. per Rechnung bezahlen willt, kommen noch 15 Euro Verpackung und Versand obendrauf. Nur für die Rollen, für die Karten-Reiniger erhebt Unionpaper keine Versandkosten. Nur 3 Euro Verpackung. Wie verfickt großzügig! Fast 300 Euro für etwas, was man für 50 Euro bei der Metro bekommen kann. Aber der Gratis-Scheiß kriegt jeden rum!

    Während Rolf sich also freut, winkt mich die dicke Mutti zu sich rüber und fragt, was ich so denke bis jetzt. Es ist 10:40, ich bin seit fast zwei Stunden hier, darf keine rauchen gehen und will das Klo nicht benutzen. Was sagt man also?
    „Naaa, ich möchte erstmal noch 'n bisschen gucken bevor ich mich entscheide.“, wiesel ich mich heraus und kriege also einen neuen Platz zum Zuhören neben einer Frau namens Katja zugeteilt. Wir schütteln Hände, sie schaut mich entgeistert an. Also, bis ich merke, dass das ihr normaler Blick ist, denke ich, sie wäre entgeistert. Aber nein: Das ist ihr normaler Blick. Ich kann's nicht oft genug für mich selbst betonen. Die Alte ist völlig gaga in der Birne von der ganzen Call-Center-Scheiße.
    Sie spricht mit gedämpfter Stimme, zumindest außerhalb der Kundengespräche. Die Kunden dagegen blökt sie mit einem fröhlichen „JAAA GUTEN TAG KATJA SOUNDSO HIER VON UNIONPAPER!!!“ aus ihrer Lethargie. Sie arbeitet seit 5 Jahren hier und man merkt's: Sie ist völlig geistesabwesend, spricht verwirrtes Zeug zu mir, dem Kunden und sich selbst, schaut fast panisch zur dicken Mutti, ob sie irgendwas falsch gemacht hat und schaut ebenso panisch in ihr Outlook-E-Mail-Postfach.

    Dort bekommt sie ständig Nachrichten von einem Herrn Arnold Nimbus geschickt. Sie hat heute (in den letzten zwei Stunden wohlgemerkt!) nichts verkauft. Und Arnold gefällt das nicht. Arnold schickt so aufbauende Mails á la:
    „Na, immer noch nix verkauft?“
    „Wird langsam Zeit, das du die Kunden mal gewinnst statt sie abzuschrecken.“
    „Komm schon, da muss doch irgendwann was gehen.“
    „Gleich ist Mittag und ich seh' bei dir immer noch 'ne Null. Was ist denn da los?“


    Als ich frage, ob Arnold der Chef sei, sagt sie „Glaub' schon.“.
    Und mir fällt auf, dass sich Arnold Nimbus ein bisschen anhört wie Anonymus. Hm. Ist wohl ein glücklicher Zufall, oder?

    Um 11 Uhr sagt die Mutti: „So, wie sieht's aus? Willste dann mal selber ran?“
    Ich, mangels besserer Dinge, die ich mit meiner Zeit anfangen kann, sage: „Ja, okay.“
    Sie richtet ruckzuck alles an einem leeren Platz ein. Ich setze mich hin, schnappe mir das Headset und fange an. Ich bekomme einen Gesprächsleitfaden zugesteckt und eine Preisliste von dem Blödsinn, den ich hier verballer.

    Die ersten Anrufe sind Nieten á la „Ja moin, hier ist Daniel Schandelorz von Unionpaper!“ „Nee, kein Interesse.“ „Okay, tschüß!“. Ich schließe sie negativ ab und lege den Anruf auf drei Monate später (weil „Vielleicht haben die da ja wieder Bedarf.“ Ja, solange sie bis dahin nicht wissen, was ein Schreibwaren-Discounter ist...). Nach vier Calls habe ich schon keinen Bock mehr.
    Dann macht es PLING. Ich ignorier's.
    Drei weitere Calls später. PLING. Ich ignorier's immer noch gekonnt.
    11:45 Uhr. Es PLINGt mal wieder. Genervt öffne ich das E-Mail-Postfach und falle aus allen Wolken:
    „Na, immer noch nix verkauft?“
    „Wird langsam Zeit, das du die Kunden mal gewinnst statt sie abzuschrecken.“
    „Komm schon, da muss doch irgendwann was gehen.“
    „Gleich ist Mittag und ich seh' bei dir immer noch 'ne Null. Was ist denn da los?“


    Absender bei allen Mails: Arnold Nimbus.
    Dieselben verdammten Mails, die die Kollegin vor mir schon gekriegt hat.
    Holy - fucking - shit.

    Ich gehe zur dicken Mutti und sag ihr, dass ich den Probetag hier beende, da ich denke, dass das hier nix für mich ist. Das Produkt und so, ich kann das nicht. Kann nicht jeden Morgen eine halbe Stunde hierher fahren für Kassenrollen und meeeeh so ein bisschen Druck herrscht hier ja auch und vorher hatte ich zwar auch Druck gehabt im Job und so aber ich bin anderes gewohnt blablabla.
    Kurz: Ich wiesel mich gekonnt heraus.

    An der frischen Luft angekommen, rauche ich kurz hintereinander drei Zigaretten, rufe die Zeitarbeitsfirma an, die mich zu diesen Drecksladen vermittelt hat und will klar Schiff machen. Alles erzählen. Alle anrufen: RTL, ZDF, Sandra, Thomas - nur um allen zu erzählen, was für ein Scheißladen das ist.

    Was ich als Grund angebe, dass ich hier nicht arbeiten will, ist:
    Das Produkt und so, ich kann das nicht. Kann nicht jeden Morgen eine halbe Stunde hierher fahren für Kassenrollen und meeeeh so ein bisschen Druck herrscht hier ja auch und vorher hatte ich zwar auch Druck gehabt im Job und so aber ich bin anderes gewohnt blablabla.
    Kurz: Ich wiesel mich gekonnt heraus. Schon wieder.

    Kein Wort über den Schimmel, das Klo, den anonymen Chef, der die Leute stalkt. Nichts. Ich latsche zurück zur Bahn, steige ein, setze mich in eine freie Vierer-Sitzgruppe und als die Bahn losfährt denke ich mir: Warum wird links und rechts eigentlich die Call Center-Branche so verteidigt, wenn es immer noch so Läden gibt wie den hier?

    Dann doch lieber zuhause langweilen und einen neuen Ausbildungsplatz suchen. Wenigstens ist da die Gefahr einer Schimmelpilz-Erkrankung geringer für mich. Wie es bei den anderen Leuten aussieht, die dort immer noch arbeiten...

    Weiß ich nicht.

    Und irgendwie macht mich das traurig, wenn ich so recht darüber nachdenke. Selbst zuhause lässt mich der Gedanke einfach nicht los, dass dort Leute gnadenlos ausgenutzt und zusammengepfercht werden wie Schweine. Abgefuckt. Richtig richtig abgefuckt. Ich gehe zur Dönerbude, die direkt neben Stavros' Laden ist, hole mir mein Mittagessen, setze mich zuhause vor den Fernseher und habe die Idee mit der Ausbildungs­platzsuche schneller vergessen, als mir lieb ist.
    _________________________________________________________________

    Im nächsten Kapitel gibt es dann endlich wieder Party-Wahnsinn, ich verspreche es

    Edith: Gefixte Fassung. Danke Lynx

    Geändert von T.U.F.K.A.S. (28.06.2011 um 16:04 Uhr)

  5. #5
    Sehr schön, es geht ja richtig was weiter! Ich finde, man bekommt immer mehr Bezug zu deiner Hauptperson, und die Welt um ihn herum nimmt richtig Form an. Irgendwie wird man immer mehr gefesselt, je mehr man liest, ohne dass man es richtig merkt. Und auch wenn man ab dem Anruf der Zeitarbeiteragentur als aufmerksamer Forenuser schon wusste, was wohl kommen wird, war die Stelle nicht weniger unterhaltsam als bei deinem Bericht damals.
    Und jetzt werde ich zwecks Kritik und so noch pingelig auf ein paar Sachen genauer eingehen.

    Zitat Zitat von steel Beitrag anzeigen
    Er ist circa vierzig Jahre alt, ist mit seiner Familie vor fünf Jahren nach Deutschland eingewandert und ist cool drauf.
    Die ganzen "ist"s kannst du dir hier eigentlich sparen. "Er ist circa vierzig Jahre, mit seiner Familie vor fünf Jahren nach Deutschland eingewandert und cool drauf."

    Zitat Zitat
    Ich bin reihe mich eher in letztere Kate­gorie ein.
    Lies das Zeug doch durch, bevor du es postest.

    Bei deiner Erzählung über die coole KG werden die Leser dann direkt angesprochen, was im Text vorher so nicht wirklich vorkam. Hast du Copy & Paste betrieben? Es ist zwar durchaus nicht unlogisch, da der Ich-Erzähler ja eigentlich irgendwem die Geschichte erzählen muss, aber da das direkte Ansprechen bisher nicht wirklich vorgekommen ist, passt es meiner Meinung nach nicht so ganz. Vor allem, weil es sich da plötzlich ziemlich häuft.

  6. #6
    Ah, der Tippfehler ist mir nicht aufgefallen beim nochmal Durchlesen. Hab noch einen gefunden und korrigier das gleich mal, danke

    Moment, Danny hat bereits den Leser direkt adressiert. Ein bisschen unterschwelliger zwar, aber das muss ich kurz mal erwähne Ziemlich am Anfang sagt er "Sorry, bin besoffen.". Also das Ding ist schon so geschrieben, als würde man es direkt jemandem erzählen. Aber hast Recht, ich hatte teilweise gecopypastet und neu verfasst aber einige Sachen fand ich zu köstlich und hab sie so gelassen. Hab das trotzdem mal umgeändert, damit es nciht ganz so offensichtlich rüberkommt

    Okay, ist gefixt.

    Ach ja, als Beweis:
    Zitat Zitat
    Sorry, ich bin besoffen. Da ist das mit dem Beschreiben so 'ne Sache für sich. Ich hoffe, ihr versteht mich bis jetzt. Ich schreie laut mit:
    Aber da heißt es "ihr" und nicht "du", also hattest du vom Ding her Recht

    Geändert von T.U.F.K.A.S. (28.06.2011 um 16:07 Uhr)

  7. #7
    Zitat Zitat
    Mehr erinnere ich gerade nicht.
    An mehr erinnere ich mich gerade nicht.

    Wäre jetzt das einizige, was ich in irgendeiner Form als Kritik anbringen könnte, auch wenns nur ein Hinweis ist. Ansonsten wieder tolles Kapitel, die Horror-KG-Story war mir zwar bekannt, aber die Idee, das mit einzubauen ist auf jeden Fall genial! Freue mich sehr, wenns weiter geht und bin echt gespannt, wie Dannys Weg verläuft!

  8. #8
    Technisch ist das jetzt etwas schwächer als die Vorgänger (die Rechtschreib- und Grammatikausrutscher häufen sich etwas), aber irgendwie passt das auch zum Stil der Erzählung im Ganzen, also will ich mich mal nicht beschweren.
    Ich glaub, ich hab bei meinem Probetag im Callcenter eine geschlagene halbe Stunde eher aufgehört, aber ansonsten konnte ich mich wieder sehr gut mit dem Hauptcharakter identifizieren. Tolle Sache! =)

    Beste Stelle:
    „...wo zum Geier ich überhaupt hinfaLANGENHORN?
    Solche Unterbrechungen eines Wortes in der Mitte habe ich ehrlich gesagt noch nie vorher so gesehen, dass sie mir gefallen haben, aber hier hat es endlich mal stilistisch gepasst und die Situation wirklich treffend herübergebracht - geil!

    Schlechteste Stelle:
    „Mit einem breiten Grinsen begrüßt mich Stavros. Die Uhr, die an der Wand hinter ihm hängt, sagt 7 Uhr und ein paar Zerkrümelte. Also mitten in der Nacht. Und die beiden Typen sitzen jetzt schon hier und saufen ihr HoPiHaLiDo (Abkürzung für „Holsten Pilsener, Halber Liter-Dose“). Igitt. Ich schaue mir die Auslage an. Franzbrötchen, Croissants, Baguettes, Kaiserbrötchen, Weltmeisterbrötchen, alles was des Brötchen-Fans Herz begehrt.
    „Danny!“, sagt Stavros mit einer gewissen Melodie in der recht tiefen Bariton-Stimme. „Gute' Morgen!““
    Zumindest für meine Ohren klingt es so, als würde Stavros schon vor dem Textblock eine Begrüßung murmeln - er begrüßt halt. Dass dann noch eine Begrüßung folgt, wirkt fehlt am Platze. (Nach mehrmaligem Durchlesen macht es Sinn, wäre aber schön, wenn man das irgendwie anders fassen könnte. ^^)

    Also ja, weiter so!
    Unter welchem Künstlernamen darf man sich das Epos denn mal abspeichern? Ist steel genehm oder gibt es da was anderes, was man als Autoren führen sollte?

  9. #9
    "steel" ist genehm Ich bumpe mal zwecks neuem Material bald.

  10. #10
    Erster Teil des neuen Outputs. Nächster Teil folgt morgen abend.
    ----------------------
    „Naja, ne. Also ich würde ja die voll so...“, fängt Takko an, zieht an seinem zweiten Joint heute und bläst mir Rauch ins Gesicht. „Verpfeifen, weißte. Das ist ja richtig furchtbar, was da abgeht, ne.“
    Ich sitze mit ihm hinterm Tresen von Film24, in meinem besten Gammelzwirn (= Pyjama, Bademantel, Ökolatschen), eine Kippe im Mund und eine halbleere Coladose in der rechten Hand. Ich hab auch schon zwei oder drei Züge von Takkos Tüten intus und mir ist ein bisschen schwindelig. Aber reden geht noch.
    „Eeeeeey...“, fange ich an. Kommt's mir nur so vor oder ist meine Stimme jetzt noch tiefer als sonst? Der Gedanke bringt mich zum lachen. Ich grinse über beide Backen und gacker mir den Arsch ab, Takko tut dasselbe ein paar Sekunden später.
    „Eeeeeeeey...“, wiederhole ich, diesmal noch tiefer und langgezogener. Jetzt kommen mir Tränen aus den Augen.
    „Hör auf, Junge. Hör auf!“, wimmert Takko und versucht, sich nicht in die Hose zu pinkeln vor lauter Gelächter.
    Nachdem der Lachflash abgeklungen ist, fange ich noch einmal von vorne an.
    „Ja. Voll die Kapitalisten-Nazi-...“, Takko reicht mir den Joint rüber, von dem zwei Züge nehme, bevor ich weiter rede und dabei Dampf aus dem Mund entweichen lasse, „...-Kommunistenschweine.“
    „Junge, du musst die Callcenter-Gestapo echt mal richtig fett niederreißen, ne.“
    „Ich arbeite dran.“
    „Haste 'n Plan oder...?“
    „Jo, das wird voll gut. Ich werd' einfach nie wieder arbeiten und nie wieder für irgendwas bezahlen.“
    „Geil.“
    „Ich weiß.“
    „Ach ja, apropos...“, sagt Takko und scheint plötzlich nicht mehr stoned zu sein, „Wann bezahlste eigentlich die Leihgebühren für 'Straßen in Flammen' und 'Hard Boiled Taiwan'?“
    Ich gucke verdutzt drein. „Hä, wie?“
    „Naja, du hast die immer noch nicht wiedergegeben und Tina wird langsam leicht ungehalten, sag ich mal, ne.“
    „Ich hab keine Kohle dabei und bezahle nie wieder für irgendwas.“
    Takko hält die Hand auf und schaut mich eindringlich an. „Fünf Euro.“
    „Nie wieder. Für irgendwas.“
    „Fünf Euro.“
    „Bezahle. Ich. Nie wieder.“
    „Fünf Eu...“
    „OKAY OKAY!“, rufe ich. „Mann, du bist echt unrelaxt beizeiten du Asi.“ Ich krame einen Fünfer aus der Bademanteltasche und reiche ihn Takko, der den Geldschein dankend entgegennimmt.
    „Arbeiten musst du ja trotzdem nicht mehr, ne. Und wen du bezahlst oder nicht – is' mir latex.“, sagt Takko, „Hauptsache ich krieg' Kohle, Junge. Sonst sagt's BUTZ!“
    „Butz?“
    „BUTZ, Junge!“
    „Also 'Butz' wie 'Butz, voll in die Fresse'?“
    „Ja, ne. Aber eigentlich bin ich friedliebend und so. Krieg ist richtig furchtbar, Junge.“
    Ich nehme einen Schluck aus der Coladose. Süßliche Chemie läuft mir die Kehle runter. „Ja, stimmt. Krieg ist die Hölle.“
    „..., ne?“
    Also bleiben wir in den speckigen, dunkelbraunen und gefühlt 5000 Jahre alten Ledersesseln 'ne Zeit lang sitzen und schweigen uns gegenseitig an. Ab und an lässt Takko die Tüte kreisen, wodurch ich wieder etwas entspannter werde. Ich hab seit Jahren nicht mehr gekifft, merke ich gerade. Fühlt sich auch nicht besonders gut an. Aber ist wohl besser als sich spackig fünf Bier morgens reinzutun und besoffen einkaufen zu gehen. Dann lieber bekifft im Bademantel in einer Hipster-Videothek abhängen und die Kunden verarschen. Obwohl: Was genau ist jetzt schlimmer? Ich muss in dem Aufzug auch wieder zurück nach Hause.
    Das Eingangstürsglöckchendings bimmelt. Ein Typ kommt rein und verschwindet direkt in der Ab 18-Abteilung. Takko grinst sich einen. Auf meine Frage hin, warum er grinst wie der Grinch, sagt er nur: „Wart's ab.“

    Der Porno-Typ kommt aus der per 70er-Gedächnis-Perlenvorhang vom Rest des Ladens abgeschirmten Ab 18-Abteilung rausgelatscht und nimmt direkten Kurs auf den Tresen, hinter dem Takko nun steht (und nicht mehr sitzt, logischerweise) und Mühe hat, sich ein Grinsen zu verkneifen. Der Porno-Typ hat einen beigefarbenen Porno-Pulli an, trägt eine Porno-Hornbrille (oder sollte ich besser sagen: Pornbrille? Ha ha. Nee, wat ist der Vaddi lustig heute.), seine Porno-Wichsgriffeln hat er in die Porno-Taschen seiner Porno-Cordhose gesteckt und er ist ungefähr 45 Porno-Jahre alt. Er lässt seine Porno-Augen kreisen und ihm steigt jetzt schon die Porno-Schamröte zu Kopf, welcher nun aussieht wie eine Porno-Tomate mit Porno-Schnurrbart.
    Ich mach mir gleich in die Hose, so sehr will ich lachen und so sehr habe ich Mühe, es mir zu verkneifen. Der Porno-Typ wirft einen kurzen Blick auf mich, wie ich mit Joint im Maul, Bademantel und Latschen an und einem fetten Grinsen auf dem Gesicht breitbeinig im Sessel lümmel. Ich winke kurz und schmetter ihm ein freundliches, langgezogenes „Moooohoooooooin!“ entgegen.
    Er steht nun also mit unruhigem Porno-Blick vorm Tresen und öffnet den Mund.
    „Moin.“
    „Moin.“, antwortet Takko freundlich.
    „Mooooooooohoooooooiiiiin!“, wiederhole ich noch einmal, diesmal lauter und langgezogener. Nachdem der Porno-Typ sich vom zweiten Schrecken erholt hat, sagt er: „Was... was ist denn in der...“, er stockt, „... Abteilung da hinten denn los?“
    „Oh, öhm. Is' grad problematisch, ne.“, fängt Takko an. „Also, wir versuchen gerade so, unser Marketingkonzept auch auf andere Zielgruppen auszudehnen, ne? Das ist 'ne voll furchtbare Regulierungsscheiße von DEM MANN. Weißte wer DER MANN ist?“ Er spricht die Worte 'Der' und 'Mann' aus, als würde er von einem Gott sprechen. Porno-Typ kennt den Gott nicht und schüttelt den Kopf. „Alter, Junge.“, Takko stockt und schaut Porno-Typ eindringlich (HA! Eindringlich!) an, „Junge, Alter.“
    Ich gebe einen kurzen, gellenden Schrei von mir, weil ich mich und meinen Lachflash nicht mehr unter Kontrolle habe.
    „Alter, sie wollen uns voll so vorschreiben, was wir dem Kunden nahebringen dürfen und was nicht, ne? Sie wollen nicht nur uns als Unternehmen regulieren, Junge. Ne?“, er legt eine ehrfürchtige Pause ein und beugt sich ein wenig zu Porno-Typ rüber, „Ey, die wollen dich auch regulieren. Und mich. Selbst den behinderten Penner, der da hinten rumgammelt, kifft und rumschreit.“
    Porno-Typ schaut nun mich wieder an und ich reagiere auf seinen Porno-Blick mit einem Geräusch, dass sich wie „Dörp!“ anhört.
    „Und jetzt, Junge. Jetzt, Junge!Jetzt regulieren sie noch unsere Pornos!“
    „Aha.“, reagiert Porno-Typ und schaut bedröppelt drein. Er hat keine Porno-Ahnung, was Takko da labert.
    „Unsere Pornos, Junge! Deshalb sieht's da hinten grad aus wie in einem motherfucking Fetischzirkus, ne! Voll furchtbar!“
    „Deshalb steht da hinten alles voll mit...“, fängt Porno-Typ an, aber Takko greift ein und ergänzt:
    „... Kacke-Pornos, Junge! Alles voller Kacke-Pornos!“
    „Koprophilie, ja richtig.“, murmelt Porno-Typ und bereut im selben Augenblick, dass er weiß, was das ist.
    Ich? Ich habe mich wieder unter Kontrolle, habe aber Angst davor, was Takko jetzt noch aus dem Hut zaubert, um Porno-Typ zu verunsichern.
    „Sie wollen, dass du's geil findest, wenn Mädels Kacke essen und sich ankacken und angekackt werden und weißt du, ich hab hier einen drin, ne? Der ist voll furchtbar: Da kackt eine Olle der anderen Ollen in den Arsch und die kacken sich gegenseitig die Wurst von Arsch zu Arsch, ne? Das ist richtig ekelhaft, Junge! Alter, hörst du mir zu?!“
    „Arsch, kacken, ja.“, wiederholt Porno-Typ die wesentlichen Satzbausteine und nickt dabei.
    „Du willst Geficke sehen, ne?“
    Porno-Typ nickt.
    „Ja, aber das geht heute nicht, hab nur Kacke hier. Es sei denn, du bist neugierig. Das wäre kein Ding.“
    „Nein, danke. Ich... ich...“, versucht sich Porno-Typ herauszuwieseln.
    Das Eingangsglöckchenbimmelding bimmelt.
    Mehr Kundschaft.
    Oh nein.
    Es sind drei Tussis, allesamt in hautengen Jeans in Washed Up-Optik, Band-T-Shirts und mit dicken Brillen (schwarz, rot und dunkelblau) gekleidet. Hipster-Chicks. Ich stehe also auf und denke mir, dass Takko bestimmt Hilfe braucht. Ich drücke den Joint im Aschenbecher aus, stehe mit Schwung aus dem Sessel auf und latsche langsam zu den Hipster-Chicks rüber, während Takko immer lauter wird. Die Gesprächsvielfalt wird zu einer Melange aus Satzfragmenten, die kein Schwein mehr in einen ordentlichen Zusammenhang bringen kann.
    „Ist ja auch nicht schlimm...“
    „Was kann ich euch denn gutes tun?“
    „Öhm, wir suchen so 'nen Arthouse-Film aus den 80ern für unser Kunstprojekt, ähm, Mensch Kathi wie hieß der noch?“
    „Sag' mal haste 'nen Bademantel an als Arbeitsoutfit?“
    „Na klar, wo denkst du hin, das ist ein relaxter Laden, min Deern.“
    „... wenn du Bock hast zu sehen wie sie sich gegenseitig ankoten. Hier: 'Kaviar-Omas 3' ist ein super Einstieg in das Genre! Der hat sogar 'ne richtig gute Story, ne?“
    „Kathi, sag' doch mal, Mensch, wie hieß der? War der nicht dänisch? So'n Dogmafilm oder so?“
    „Ja kann sein, ich glaub sowas von Trier-mäßiges. Von Trier kennste, oder?“
    „Ja. Der Typ ist eine talentlose ••••••••••.“
    „Was?“
    „Bitte?“
    „Hä?“
    „Der Typ kann gar nix, ist schon richtig, dass er sich selbst als Nazi bezeichnet, der Pansen hat keine signifikanten Qualitäten, alle seine behinderten Filme sehen gleich aus, abgesehen von 'Antichrist', mit dem er schamlos versucht hat, auf den Exploitation-Revival-Zug aufzuspringen...“
    „... und die hier links auf dem Cover ist Erna. Die hat 'nen Enkel, und der ist eigentlich so inzestmäßig-furchtbar-mäßig in sie verknallt. Also geht sie zu ihm ins Zimmer und alles sieht so voll normal aus, ne? Und fünf Minuten später leckt sie ihm sein Arschloch, er leckt ihr Arschloch und tut da seine halbe Faust rein – kein Gleitgel, Junge! Kein Gleitgel, nur Talent!
    „... mit seinem Artsy-Fartsy-Blödsinn, seinem Dogma-Trash, seiner dänischen...“
    „... und ehe du es dich versiehst ist sie voller Scheiße, er voller Scheiße, sein Bett voller Scheiße...!“
    „... talentbefreiten, frisch aus einem Ziegendarm herausgepurzelten...“
    „... einfach alles ist voller...“
    „SCHEISSE!“
    Für ein paar Sekunden ist es still. Und ich füge noch leise hinzu: „Alles verkappte Pornos.“
    „Das mein Freund, ist ein Kacke-Porno!“, fügt Takko seinerseits den ausschweifenden Ausführungen hinzu und drückt dem Porno-Typen eine komplett schwarze DVD-Box in die Hand als milde Gabe. „Viel Vergnügen.“, sagt er noch und setzt ein fettes Grinsen auf. Die Hipster-Chicks bezeichnen mich als kulturloses Arschloch und ziehen zusammen mit Porno-Typ von dannen. Takko und ich sind wieder alleine.
    „Haste ihm wirklich so 'nen Kacke-Porno gegeben?“, frage ich, ohne eine Miene zu verziehen.
    „Nö, in der DVD-Box ist 'Happy Feet'.“, antwortet Takko wiederum trocken, was ich mit einem „Cool. Cool.“ quittiere. Kurz darauf verabschiede ich mich und verziehe mich zurück nach Hause. Ich komme an niemanden auf dem Heimweg vorbei, den ich kenne oder der mich kennt. Somit bleibt meine Bademantelaktion halbwegs ungesehen von der Allgemeinheit.

    Freitag abend.
    „Ex! Ex! Ex!“, schreit Thomas. Er redet nicht von Sandra, was ich ganz gut finde. Ich trinke nur ein Glas Jim Beam/Cola und verrecke fast dabei, weil die Plörre so scheiße schmeckt. Aber ich ringe mich durch und schmetter' förmlich das leergetrunkene Glas auf den Tisch als wäre ich Inspektor Tequila in „Hard Boiled“.
    „Fuck ja!“, schreie ich und werfe triumphierend die Hände in die Luft. Wir sitzen wieder in der WG-Küche bei Orla und Kylie. Hund liegt vor meinen Füßen. Lilly und Charly sind nicht dabei.
    „Wo sind die beiden eigentlich?“, frage ich in die Runde und stoße kurz auf. Whiskey/Cola Nummer 5 meldet sich aus dem Magen. Er will raus. Ich tue ihm nicht den Gefallen.
    „Die sind schon auf Kiez. Wollen wir auch hin später oder is Quatsch?“, fragt Kylie.
    Allgemeine Zustimmung folgt. „Joa!“ „Ja klar.“ „Können wir machen.“
    „Und wo gehen wir hin?“, wirft sie (es ist eine Sie! Tatsache!) als zweite Frage in den Raum.
    „Welchen Club sind die beiden denn gegangen?“, fragt Thomas und vergewaltigt dabei bitterböse die deutsche Grammatik. Ich stecke mir derweil eine Zigarette an und lausche weiter.
    „Die sind 36 gegangen, glaub' ich.“, sagt Orla und kratzt sich dabei am Hinterkopf.
    „Lass' mal auch 36 gehen, oder Danny?“, beschließt Thomas und wendet sich mir zu. Ich nicke kurz und mach mich daran, Mische Nummer 6 zusammenzubrauen.

    Diese scheiß bekackte Große Freiheit 36. Fast jedes verdammte Wochenende dieser Scheißclub, in die dieselben Asis gehen, die ich nicht treffen will. Eine der bekanntesten Discos der Stadt, und ich habe keine Lust hinzugehen. Ich bin glaub' ich mittlerweile ein Hipster-Arschloch geworden, was das angeht. Aber ich lasse mich trotzdem widerwillig mitschleifen – ich weiß nur nicht warum. Wegen Lilly? Ich empfinde nicht wirklich was für sie. Sie ist ganz cool so, aber es war nur ein Fick. Nichts weiter. Man kann's gerne wiederholen, aber auch nicht mehr. Wozu den Stress machen und 'ne Beziehung starten, wenn ich doch gar keinen Bock darauf habe? Zumindest würde ich's nicht zugeben.
    Aber trotzdem würde ich sie gerne wiedersehen. Oder Charly?
    Keine Ahnung, ich lass mich einfach mitschleifen.

  11. #11
    „Du guckst so.“, sherlockhomest Thomas vor sich hin und sieht mich an. Wir sitzen in einer Viererreihe in der S-Bahn Richtung Reeperbahn, neben mir Kylie, mir gegenüber Orla und Thomas. Es riecht hier wie in allen Bahnen am Wochenende nach einem Mix aus Nikotin, Bier und Kaugummi, alles mit einem Hauch schlechtem Aftershave und billigem Tussi-Perfüm in jeweils zwanzig verschiedenen Ausführungen. 50 oder mehr Leute haben sich hier reingequetscht, allesamt mit Colaflaschen in der Hand, in denen ganz bestimmt nicht Cola drin ist. Eher Cola mit Korn/Whiskey/Havanna Club/Captain Morgan. Wir haben's genauso gemacht, so fällt den Sicherheitsleuten nicht sofort auf, dass wir in der S-Bahn saufen. Ich sitz am Fenster und schau aus selbigem heraus, obwohl es da nix zu sehen gibt außer vorbei schnellenden Tunnelwänden und ab und an einem scheiße hässlichen Bahnhof nach dem anderem, wo der Zug kurz anhält. Dann steigen noch mehr Asis ein, die heute abend saufen und/oder vögeln wollen, dann wieder Tunnel, dann Bahnhof, dann Asis, dann Tunnel und so weiter. Ich antworte nicht auf Thomas' Frage, sondern nicke nur einmal kurz. Das signalisiert ihm zumindest, dass ich ihn gehört habe. Als wir drei oder vier Haltestellen vor der Reeperbahn sind, sage ich dann endlich: „Wie gucke ich denn?“
    Thomas ist überrascht ob der verspäteten Reaktion meinerseits und bricht ein Gespräch mit Orla über die Schanze und wie „scheiße hippiemäßig“ die geworden wäre ab, um mich anzusehen und mich selten dämlich anzusehen. Dann hellt sich der Blick auf und er sagt: „Naja, so geistesabwesend. Sonst schaust du immer so mürrisch drein, heute siehst du fast aus, als hättest du Spaß.“
    „Spaß hab ich auch beim wichsen.“
    „Guckste dabei auch so mürrisch?“
    „Klar. Ich hab ja Scheißlaune wenn ich wichse.“
    „Aber Spaß dabei?“
    „Jo.“
    „Das ist 'n bisschen paradox, find'ste nicht auch?“
    „Jo.“
    „Was läuft da eigentlich zwischen dir und der Rothaarigen – ach wie hieß sie?“
    „Lilly.“
    „Genau.“
    „Kein Plan, wir haben nur gebumst. Mal sehen, was d'raus wird. Wahrscheinlich gar nix wie immer.“
    Thomas schaut mich bedröppelt an und nimmt einen tiefen Schluck von der Cola/Whiskey-Mische. Er reicht mir die Flasche rüber, ich nehme ebenfalls einen Schluck. Das reicht ihm dann wohl als Antwort, schätze ich. Denn jetzt sagt er gar nix mehr. In der Bahn nix, auf dem Weg nach draußen nix, vor der 36 nix. Er hängt dafür an seinem Smartphone (wie ich die Teile hasse...) und wartet darauf, dass ihm Charly sagt wo sie hingegangen sind.
    „36 meinten die doch, ne?“, sagt Orla. Sie wird nervig, das heißt, dass sie nüchtern wird. Nicht gut.
    „Jo, hatten sie gesagt gehabt.“, antwortet Thomas. Kylie lacht kurz auf und raucht weiter ihren dritten Joint heute.
    „Nich' wild, ruf sie ansonsten mal an, ob...“, fange ich an vorzuschlagen. Dann kommen die beiden Grazien schon aus dem Club heraus und winken uns zu.
    „Huhu!“, sagt Charly. Lilly dagegen bleibt stumm und winkt nur einmal kurz mir zu, um dann den Blick abzuwenden. Sie sieht stark geknickt aus. Ist das wegen der Sache letzte woche? Ich meine: Es war nur ein Fick und ich bin gegangen. Business as usual. Scheiß Business zwar, aber nix weltbewegendes. Gut, jetzt so vor ihr zu stehen, sie etwas zaghaft zu umarmen, nachdem man sie letzte Woche gebumst hat als gäbe es kein Morgen mehr – das ist ein merkwürdiges Gefühl. Und ein beschissenes gleich dazu. Ich glaube, das ist der Grund, warum ich nie ein guter Typ für One-Night-Stands war. Ich steigere mich immer zu schnell in Sachen hinein und bau Scheiße, wenn ich schon mal dabei bin. Und es tut mir erst leid, wenn es viel zu spät ist. Shit, ich denke an so 'nen Scheiß, wo ich eigentlich besoffen und glücklich sein sollte. Aber ich bin besoffen, ein bisschen glücklich und irgendwie überwiegend... ich weiß nicht. Ich schäme mich, so kann man's glaube ich ausdrücken.

    Zaghafte Umarmung Nummer 2 für Charly, die mir „Wie war's?“ ins Ohr flüstert. Ich nicke nur und setze ein halbwegs verschmitztes Grinsen auf, das sie mit einem ebenso verschmitzten Grinsen erwidert – nur dass sie dabei hübscher aussieht als ich, was für eine Frau ihres Kalibers keine Anstrengung ist. Sie ist nicht modelhübsch, einfach nur gutaussehend. Niedlich. Und ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Lilly ist dagegen im Moment alles andere als redselig. Sie steht da, die roten Haare nach hinten zum Zopf gebunden, eine schwarze, enganliegende Lederjacke, einen schwarzes Minirock und dunkle Strumpfhosen an (weil es doch relativ arschkalt ist draußen), an den Füßen ein Paar hochhackiger Stilettos. Sie sieht verdammt scharf aus. Und ihr trauriger Gesichtsausdruck macht mich perverserweise noch schärfer auf sie.
    Ich bin eine schreckliche Person.

    Wir gehen also rein. Lilly und Charly zeigen dem Türsteher die Stempelabdrücke auf ihren Handrücken und dürfen passieren, der Rest muss zahlen. Da 2-für-1-Party ist – das heißt, man bezahlt für ein Getränk, aber bekommt zwei dafür, was auch für den Eintritt gilt – zahlen nur ich und Thomas den Eintritt für uns anderen vier. Durch den Eingangsbereich, der mit rotem Teppichboden ausgelegt ist, gelangen wir unter Neon- und Schwarzlichtbeleuchtung, vorbei an der Garderobe und zwei Zigarettenautomaten, auf die große Tanzfläche. Nervöses Flackerlicht, das so gar nicht zum Rhythmus der Musik passt, erzeugt bei mir einen leichten Brechreiz – aber das ist immer so, von daher stört es mich nicht wirklich. Es ist knapp 1 Uhr nachts und der Club ist bereits gut besucht. Da Rock-Nacht ist, spielt hier momentan das schönstschlimmste, was Rock aus den 80ern, 90ern und von heute zu bieten hat. Das heißt: Blink 182, Nirvana, Greenday, Mötley Crüe, all das überwiegend gute Zeug. Ich hätte nicht gedacht, dass Lilly und Charly auf so 'ne Mucke stehen – aber das macht die beiden in meinen Augen noch cooler.

    Nach drei Bier, vier Tequilas und ein paar Kippen in der Raucherlounge bin ich gut drauf. Lilly auch. Thomas, Charly, Orla und Kylie sind nach unten in den Kaiserkeller gegangen, im Prinzip der Metal-Bereich der 36. Nachdem ich halbwegs kompetent mit Lilly zu Nirvanas „Mells Like Teen Spirit“ abgezappelt habe, ziehen wir uns in die Raucherlounge zurück. Kaum hab ich mir eine Zigarette angesteckt merke ich, dass ich den beschissenen Pärchen, die um uns herum Kuschelblues zu jedem verdammten Song praktizieren und sich ekelige Zungenküsse geben, noch gar keine Aufmerksamkeit geschenkt habe. Wozu auch? Ich sitze an einem Tisch mit einer hübschen Dame und fühle mich einigermaßen gut. Auch wenn mir die Sache mit Lilly leid tut. Wir schweigen uns ein paar Sekunden lang an, dann sagt sie: „Hey, ich nehme dir das von letzter Woche übrigens nicht übel.“
    Ich bin überrascht, weil ich das Thema eigentlich nicht ansprechen wollte, aber krieg's dennoch hin, ein „Sorry.“ herauszubekommen.
    „One-Night-Stands halt. War klar, dass du nicht Bescheid sagst und einfach abhaust. Ich kenne das ganz gut. Hätte ich an deiner Stelle auch gemacht.“
    „Das macht die Sache trotzdem nicht besser.“, entgegne ich. Durch ein Fenster in der Plexiglaswand, die den Raucherbereich vom Rest-Club trennt und vor dem sich die Bar befindet, werden mir zwei Bier durchgereicht, die ich mit zwei Zwei Euro-Münzen bezahle. Mit einem „Passt so.“ erspare ich mir das Kleingeld und die nette Barkeeperin kriegt einen Euro Trinkgeld. Auch wenn das Trinkgeld am Schluss zwischen allen Barkeepern aufgeteilt wird, womit es von vorneherein nicht ihres ist. Eigentlich ist es somit unnötig, es ihr zuzustecken. Ich tu's aber trotzdem, vielleicht aus Gewöhnung.
    „Ich weiß.“, sagt Lilly leise. Ich reiche ihr eines der Biere rüber und wir stoßen an.
    „Ich hoffe, das entwickelt sich nicht zu einer Liebeskiste. Denn ich bin darauf momentan nicht scharf.“, halblüge ich ihr eiskalt ins Gesicht.
    „Okay.“, sagt sie und steckt sich nun auch eine Zigarette an. „Hat's wenigstens Spaß gemacht?“
    „Ja.“, antworte ich und bemerke den bitteren Ton in ihrer Stimme.
    „Schön. Schön.“
    „Pass auf, ich...“, fange ich an, doch sie unterbricht mich.
    „Nein nein, schon gut. Ich kenne das. Wir waren besoffen und verzweifelt, und da fickt man halt und gut is'. Alles kein Problem. Ist nur scheiße, dass es bei mir immer auf sowas hinausläuft. Wenigstens sehe ich dich noch einmal wieder und wenigstens bist du so ehrlich und sagst es mir ins Gesicht, dass wir nix miteinander haben können. Passt schon.“
    „Wir können uns trotzdem treffen und so. Ich meine, du bist cool, du bist hübsch, ich mag dich irgendwie und...“
    „... und deshalb bringst du so einen Kackspruch von wegen 'Treffen und so', damit du kein schlechtes Gewissen hast, oder?“
    So hat sich Sandra wohl letztens gefühlt im Hipster-Café.
    Fuck.
    „Ja. Also nein. Also...“, stottere ich.
    „Nein, lass nur. Ist immer dieselbe Scheiße. Ist anscheinend halt nicht möglich, in unserem Alter in dieser Zeit 'ne normale Beziehung zu führen, ohne irgendwelche 'guten Absichten' zu haben und 'nett gemeinte' Kommentare zu bringen. Find' ich gut, dass du sowas sagst, bevor überhaupt irgendwas anfangen kann zwischen uns.“
    Ich schlucke. Sie trinkt ihr Bier in einem Zug aus, drückt die Kippe im Aschenbecher vor ihr aus, ihr Blick hellt sich auf und sie sagt „Komm, lass uns tanzen. Ich liebe den Song.“
    Ich nicke überrascht. Sie hüpft von ihrem Barhocker herunter, zerrt mich am Arm von meinem hoch und zieht mich auf die Tanzfläche, wo sie mich direkt umklammert. Wir bewegen uns rhythmisch und eng umschlungen zu einem Song von der Band Bush namens „40 Miles from the Sun“, einer langsamen, melodischen und meiner Meinung nach unglaublich schönen Rockballade.

    There is nowhere left to hide, there is nothing to be done
    No people to be saved, no pets were ever named
    40 miles from the sun


    Ihr Kopf ist an meine Schulter geschmiegt. Ihre Haare riechen nach Pfirsich. Und an meiner Schulter wird's feucht. Ihr Körper bebt, doch sie bleibt weiter im Rhythmus des Lied. Sie heult. Scheiße. Und ich bring keine Träne raus, obwohl die Situation es zulassen würde.

    As darkness craves the mind, we come undone without our pride
    No time on earth to come, all the pleasure's just begun
    40 miles from the sun


    „Es tut mir leid.“, flüstere ich ihr ins Ohr und streichle über ihren Rücken. Wir kennen uns gar nicht wirklich. Wir sind umgeben von anderen, sich langsam über die Tanzfläche bewegenden Menschen, die alle irgendwie miteinander verbunden sind in trauter Zweisamkeit. Lilly und ich hingegen sind enger miteinander verbunden als jeder andere hier im Raum. Denn wir geben wenigstens zu, dass wir einfach nicht weiterkommen, nicht weiterziehen können. Dass Sex Spaß macht, aber nicht alles sein kann und darf. Im Endeffekt denke ich gerade, dass nichts mehr verbindet als Gefühle. Nicht unbedingt Gefühle zueinander, so von Person A zu Person B. Sondern Freude, Trauer, Wut. Was dich mit deinem Nebenmann verbinden sollte, ist nicht eure scheiß Modemarke, sondern die Empathie zueinander. Lilly und ich rebellieren in diesem Moment gegen oberflächliche Arsch-Beziehungen, die auf nichts als oberflächlicher Scheiße basieren. Naja, sie rebelliert eigentlich nur. Ich halt sie fest und hoffe darauf, dass sie mir vergeben wird. Irgendwann.

    I need to lose to make it right, I'll confront the stars tonight
    I will babble, I will bite, you'll never know how much you shine
    40 miles from the sun


    40 Meilen von der Sonne weg. Naja, eher drei Stunden von der Sonne weg. Es ist vier Uhr morgens, der Song ist zuende. Lilly und ich lassen uns los. Sie wischt sich mit dem Ärmel ihres schwarzen Kashmir-Pullis über die Augen, um nicht sofort den allgemeinen Anschein zu erwecken, dass sie geheult hätte.
    „Ich will nach Hause.“, sagt sie.
    „Ich auch.“, antworte ich und schaue sie dabei eindringlich ein. Bitte nicht. Nein Körper, doofe Idee. Abbrechen, abbrechen! Nein!

    Wir liegen zwei Stunden nackt bei ihr zuhause im Bett. Sie pennt neben mir schon und schnarcht leise. Ich finde das irgendwie niedlich. Was ich nicht niedlich finde, das bin ich. Ich bin doch echt zu dämlich. Erst große Töne spucken von wegen „Nee ich will ihr nicht wehtun!“ und „Nee ich will nix von ihr!“ und dann tue ich es schon wieder. Langsam ziehe ich die Decke herunter, kurz nach rechts zu ihr schauend, ob sie schon wach ist. Ich hebe langsam mein linkes Bein von unter der Decke hervor und will gerade mit dem Fuß den Boden berühren, als ich eine Hand an meinem Arm spüre. Langsam werde ich nach hinten gezogen, Lillys Arm legt sich um mich. Flucht missglückt. Scheiße. Gut, dann bleibe ich hier, kein Ding. Ich drehe mich zu ihr. Ihr Augen sind offen.
    „Wollt'ste abhauen?“
    „Nee, ich musste nur aufs Klo.“, lüge ich.
    „Lüg doch nicht.“, ertappt sie mich und grinst.
    „Was haste denn so Frühstücks-mäßig hier?“, lenke ich ab und frage die essentielle Frage.
    „Brot, Wurst, Ei – alles da.“
    „Cool, wann das so ist – dann bleibe ich hier.“
    Sanft wie eine Katzenpfote patscht sie mir ins Gesicht mit der flachen Hand. Dann dreht sie sich um, ich lege den Arm um sie.
    Jupp, ich bleibe heute Nacht hier.

    Das bin ich ihr schuldig.
    Währenddessen geht draußen die Sonne auf.
    Und ich hab kein einziges Mal Sandra angerufen.
    Sowas nennt man glaub ich „Fortschritt“.

  12. #12
    Für alle, die (wie ich) lieber eine PDF-Datei anstelle von Forum-Postings lesen:



    Rechtsklick, speichern, lesen, feiern. 8)

    @steel: Damit das nicht ganz ohne Feedback auskommt: Genial! Macht richtig Bock.

  13. #13

    It's time to get schwifty.
    stars5
    Ich werde nichts kritisieren weil ich mich weder Grammatikalisch noch Literarisch besonders gut auskenne. Aber wir haben es nun 07:10Uhr und ich war noch nicht schlafen. Hab oben angefangen und die überarbeitete Version nicht gelesen. . Zu meinen Erstaunen hat sichs trozdem runter gelesen wie nichts und ich bin ziemlich lese faul. Das beschriebene ist zwar nicht so meine Welt, aber, ja-
    Gutes Zeug Steel. Zeit nicht verschwendet.

  14. #14
    Der Traum ist immer derselbe.

    Ich fahre mit meinem Mountainbike (das ich schon seitdem ich 12 war nicht mehr habe) durch die Straße in der ich vorher gewohnt habe. Ich fahre straight auf das Haus meiner Eltern zu. Doch bevor ich in die Einfahrt zum Carport abbiege, unter den ich die Mühle normalerweise stelle, mache ich einen scharfen Linksschlenker und fahre zum Haus unserer Nachbarn, der Tolieskis. Nachdem ich den Drahtesel auf den noch mit Morgentau bedeckten Rasen ihres Vorgartens gelegt habe, betrete ich das Haus der Tolieskis durch die massive Dunkelholz-Tür. Der Hausflur ist steril-weiß, kein Stück so wie ich ihn in Erinnerung habe. Mehr wie das Marienthaler Krankenhaus, wenn ich es so recht bedenke. Die Bilder die im Hausflur an der Wand hängen sind nicht die IKEA-Bilder für 30 Tacken die normalerweise bei ihnen hängen, sondern nur kahle weiße Leinwände. Selbst die eigentlich im Terracotta-Ton gehaltenen Fliesen sind weiß. Ich weiß nicht, warum es so ist, aber ich denke mir "Hey, es ist ein Traum." - und in dem Moment, als dieser Gedanke durch meinen Kopf schießt, höre ich oben im Badezimmer das Wasser laufen.

    Ich besteige die Wendeltreppe, die nach rechts hin vom Hausflur abgeht und ins Obergeschoss führt, dann scharf nach links zum Badezimmer. Ich öffne die Tür und stehe in einem Raum, der aussieht wie ein römisches Badehaus, komprimiert auf sechs mal sechs Meter. Es ist im Prinzip nur ein Pool mit dunklem Marmorboden und -dekor, der sich über die gesamte Fläche des Badezimmers erstreckt, und er ist voll mit heißem Badewasser, das hier und da etwas Schaum aufweist. Und mittendrin - zwischen dem Dunst und der Schwüle und bestrahlt vom durch die beschlagenen Fenster hier und da eindringenden, dumpfen Sonnenlicht - steht diese Frau, nackt so wie Gott sie schuf. Diese perfekte, perfekte Frau. Sie hat rubinrote Haare die ihr bis zum Po gehen, ein hübsches kantiges Gesicht, stechend blaue Augen (ich weiß es obwohl sie die Augen geschlossen hat im ersten Moment wo ich sie sehe), sie ist ungefähr ein Meter siebzig groß, schlank, hat einen Hintern zum reinbeißen und Brüste, die mindestens ein C-Cup sein dürften. Einfach - mh. Ich möchte "Mh" machen. Also, "Samuel L. Jackson beißt in einen Burger"-Mh-mh-mmmmmh.

    Ich hinterfrage nicht einmal, warum meine Nachbarn eine Therme in ihrem Badezimmer haben, viel eher interessiert mich, warum diese Frau hier steht. Wer sie ist, was ihre Hobbies sind, und vor allem ob sie Single ist oder nicht.
    "Hey.", sagt sie und wendet sich mir zu. Mit ihren Händen verdeckt sie ihre Brüste, lässt aber den Blick auf ihre Scham mehr als offen.
    "Hey.", antworte ich. "Was machst du hier?"
    "Ich bade." Schön dass mich selbst meine Träume für einen Vollpfosten halten.
    "Oh. Okay." Schön, dass ich selbst im Traum keine Konversation mit einem weiblichen Wesen anfangen kann ohne mich dämlich aufzuführen.
    "Hey.", sagt sie abermals nach einer peinlichen, zehnsekündigen Pause.
    "Hey.", antworte ich abermals mit meinem massiven rhetorischem Geschick.
    "Ich bin so verspannt in letzter Zeit. Kannst du massieren? Mein Nacken tötet mich...", säuselt sie verführerisch und hält sich die Hände an ihren Nacken, massiert ihn in kleinen kreisförmigen Bewegungen. Ich schaue ihr direkt auf die nun entblößten Brüste, stehe da wie versteinert. Dann, endlich, sage ich: "Ja." Sie streckt ihre Hand vor sich und krümmt und streckt abwechselnd ihren Zeigefinger, als ob sie "Komm her." sagen wollen würde. Ich steige ohne großartig eine Frage zu stellen ins schaumüberwucherte Wasser, das - rein von seiner Temperatur her - genausogut Magma sein könnte. Es ist scheiße heiß. Sie steht immer noch da und gestikuliert mich zu ihr. Ich folge ihrem Ruf. Meine Klamotten sind nass. Der Dampf ist plötzlich so dermaßen dick dass ich nicht mehr sehen kann wohin ich gehe, die Entfernung zwischen mir und der heißen Rothaarigen wird einfach nicht kleiner - und im nächsten Augenblick stehe ich im selben Raum, in dem ich damals mein Abi geschrieben habe. Dieser dunkle, übergroße Raum, in dessen Mitte fünfzig Tische und Stühle stehen. An jedem Tisch sitzt ein fleißiger Schüler oder eine fleißige Schülerin, über mehrere Blätter voller Text gebeugt, das Klackern der Tintenfüller auf dem linierten Papier ist auf Dauer ohrenbetäubend. Ein Tisch ist leer. Mein Tisch. Ich bin drei Stunden zu spät. Ich habe noch zehn Minuten Zeit, um meine Englisch- und Deutsch-LK-Prüfungen zu schreiben. Ich hab's verkackt. Ich will Jura studieren. Ich will meine Probleme lösen indem ich einfach scheiße reich werde. Ich will meinen Vater zurück.

    Und alles woran es hängt sind ein paar behinderte Aufsätze. Alles was mir jetzt bleibt, sind lockere Geschäfte in beschissenen Mini-Jobs. Herzlichen Glückwunsch.

    Geändert von T.U.F.K.A.S. (31.01.2014 um 10:03 Uhr)

  15. #15
    MID-TWEN-CRISIS PART 2 - LILLY HAS LEFT THE BUILDING

    Und wenn es eine Sache gab, die ich aus dieser Nacht lernte, dann war es dass du dich definitiv, unter keinen Umständen, ohne Scheiße niemals mit einer Prostituierten wegen 5 Euro in die Haare kriegen solltest. Denn die Chance, dass die Nutte Kung Fu kann, ist nicht besonders hoch, aber hoch genug um eine dicke Lippe zu riskieren. Und eine Kung Fu-Nutte ist mit Abstand die gefährlichste Unterart von Nutte die dir unterkommen kann. Frag mein Nasenbein.

    Danny Schandelorz (und, ja, das ist immernoch sein echter Name) kommt wieder! Diesmal passiert ihm so fantastischer Kram wie...

    ... er bekommt endlich einen neuen Job und ihr wisst was heißt - MOBBING! Yaaay!
    ... mehr Hijinx mit Filmhipstern! Yaaay!
    ... mehr Parties! Yaaay!
    ... er zettelt versehentlich eine Massenschlägerei auf einer C-Promi-Party an! Yaaay!
    ... er wird wieder zurück in die linksextreme Szene gezerrt die er vor Jahren hinter sich gelassen hat! Yaaay!
    ... und zwischen all dem Chaos verschwindet seine Freundschaft+ ohne eine Spur zu hinterlassen. Und da war ja noch was mit seiner Ex...

    ... Yaaay!

    Erste Kapitel ab sofort hier in diesem Thread.

    Geändert von T.U.F.K.A.S. (07.07.2014 um 16:37 Uhr)

  16. #16
    Und gerade dann wenn man denkt, dass die Welt es aufgegeben hat, dir wieder und wieder Steine in den Weg zu legen (oder sie dir gezielt an die Rübe zu schmeißen), findet man sich zum gefühlt fünfttausendsten Mal in dieser blöden Situation wieder in der man merkt, dass einem nicht schwindelig ist weil sich die Welt um einen dreht - sondern weil man besoffen vor der Wohnungstür liegt, mit der einen Hand die fette Platzwunde unterm Auge mit einem blutdurchtränkten Fetzen Toilettenpapier aus 'nem Dixiklo abtupft und mit der anderen durch jede einzelne verkackte Tasche seiner Jacke grabbelt weil man den Wohnungsschlüssel nicht findet. Aber man grinst trotzdem. Denn immerhin hat man einem Gangsterrapper volles Pfund auf die Fresse geboxt. Und das ist auch etwas, worauf man ein bisschen stolz sein kann.

    Geändert von T.U.F.K.A.S. (25.07.2014 um 10:18 Uhr)

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