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Thema: Mid-Twen-Crisis - Ein semi-autobiografischer Slacker-Roman

Baum-Darstellung

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  1. #11
    So, hier also die komplett überarbeitete, von Formulierungs- und Rächtschraipfelas soweit bereinigte Version von Mid-Twen-Crisis - inklusive neuem Content, neuer Charaktere und dem epochalsten Streitgespräch in der Geschichte der zerbrochenen Beziehungen. Viel Spaß!

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    Verdammter Diskjockey. Natürlich muss er in diesem Augenblick in diesem Club genau diesen Song spielen. Alle möglichen Pärchen im Club machen einen auf Engtanz, die meisten Singles kommen sich hier näher und machen es diesen total glücklichen, egomanen Ärschen nach. Sollen sie sich doch ein Hotelzimmer buchen und mich in Ruhe lassen, verdammte Scheiße.

    Er spielt „Hungry Eyes“ von Eric Carmen, ihr wisst schon: Dieses Lied vom Dirty Dancing-Soundtrack, das im Film gespielt wird, als sich Jennifer Grey und Patrick Swayze näher kommen. Hätte er geahnt, was er damit jetzt bei allen Leuten hier und vor allen Dingen in mir auslösen würde, wäre es a) kein Geheimnis mehr und b) würde er sich neben mich setzen, mir ein Bier ausgeben, auf die Schulter klopfen und sowas sagen wie: „Mach' dir nix draus. Genau in diesem Moment auf einem anderen Teil des Planeten sitzt bestimmt auch so ein Würstchen wie du in der dunkelsten Ecke des Clubs an einem Stehtisch, raucht auch eine Zigarette, trinkt auch das mindestens achte Bier heute Abend und denkt genau dasselbe wie du.“

    Nun, ich denke, es gibt bestimmt ein paar Millionen Typen wie mich, die ebenfalls vierundzwanzig Jahre alt sind, keine Ausbildung und dafür mehr Wartesemester haben als alle afrikanischen Länder zusammen Bürgerkriege. Aber ich verschwende keinen Gedanken an die Kerle. Meinetwegen soll Dominique in Paris gerade ebenfalls den Gedanken haben, mit einer Uzi durch die Disko zu rennen und solange dem DJ ins Gesicht zu schießen, bis seine Hackfresse aussieht wie ein Nudelsieb. Naja, zumindest ist das jetzt gerade mein Gedanke. Ich hasse Dirty Dancing ab sofort. Dabei dachte ich immer, es gäbe keinen anderen Film im Universum, der halb so schwul und gleichzeitig halb so brillant ist wie Dirty Dancing. Außer Top Gun, vielleicht. Aber wie dem auch sei, ich hasse Dirty Dancing ab jetzt. DJ Fuckhead hat mir einen Mythos kaputtgemacht.

    Boah, mein Gott, der Song läuft immer noch. Ich schau mich gelangweilt im Club um. Warum bin ich nochmal hier? Ach ja, mein Kumpel Thomas hatte mich angerufen und gesagt: „Ey, Daniel! Wir machen heute Kieztour und ich weiß ja, dass du nicht so der Typ dafür bist, ne? Also, so für ausgehen und so, ne? Aber ich hab' das Gefühl, heute Nacht läuft was, Alter! Heute Nacht läuft was!“

    Das Einzige, was läuft, bin ich – und zwar aus diesem Ranzladen raus. Zumindest tue ich das, falls der DJ nicht auf der Stelle aufhört, ständig diesen Mist zu spielen, bei dem ich leider Gottes daran denken muss, dass ich die einzige Wurst in Hamburg bin, die heut' Nacht ungevögelt nach Hause geht. Thomas, der Arsch, hatte sich einfach so verzogen und tanzt jetzt mit dieser einen Blondine im schwarzen T-Shirt und Jeansrock, und - falls mich meine Augen nicht täuschen – hat der Alten gerade 'nen Zungenkuss verpasst, mit dem er ihr die Weisheitszähne raus operieren könnte, wenn er wollte. Natürlich kann ich ihn jetzt nicht unterbrechen mit meinen unwichtigen Problemen, denn es ist ja gerade so romantisch. Bitte: Bringt mich um. Und zwar schnell und schmerzlos.

    Ich lasse den Blick noch einmal schweifen, während ich simultan, mit Kippe im Mund, mein Handy aus der rechten Hosentasche fummel, um zu sehen, wieviel Uhr es ist. Gerade einmal 23:51 Uhr, her-fucking-vorragend. Das heißt, ich muss anstandshalber noch mindestens zwei Stunden hier bleiben. Ich will ja nicht, dass Thomas denkt, seine Überredungskunst wäre umsonst gewesen. Was hatten wir noch vor fünf Stunden oder so besprochen?

    „Komm' schon, Daniel. Musst ja nicht lange bleiben, aber du musst auch mal raus aus deiner Bude.“
    „Hast ja Recht, irgendwie. Aber ich hab' einfach keinen Bock, ich... ich bin noch nicht soweit.“
    Ich hörte ihn laut ausatmen, was hieß, dass er genervt war von meiner Aussage. „Meine Güte. Das mit Sandra ist schon wie lange her? Drei Monate?“
    „Ziemlich genau drei einhalb Monate.“
    „Du kannst nicht daran kleben bleiben. Das Leben geht weiter. Auch ohne sie.“
    „Ja, aber...“
    „Nix aber.“, unterbrach er mich, „Du kommst mit ins Drafthouse! Und wenn ich dich kidnappen muss!“

    Großes Tennis, das alles. Jetzt sitze ich hier, besauf' mich, rauche wie ein Schlot und in circa anderthalb Stunden werde ich mich dann langsam auf den Nach-Hause-Weg machen, aufgrund von akuter Bockloseritis. Trotzdem: Umsehen schadet ja nicht. Ich bin zwar nicht für One-Night-Stands gemacht und zur Not tut es auch Mister Hand, aber was soll's. Wer tanzt gerade nicht zu dem anderen 80er-Powerballaden-Rotz, den der DJ gerade aufgelegt hat?

    Abgesehen von den geschätzt fünf Millionen Pärchen, die sich zum Gegenseitig-Abknutschen an jeden verdammten Tisch gestellt, beziehungsweise (versteht ihr? Beziehungs-weise? Haha! Ich bin so ein Witzbold!) gesetzt, haben, außer (zum Glück) meinem? Abgesehen von einer Gruppe Metalheads, die völlig besoffen zu „Take My Breath Away“ von Berlin (Ein Lied aus dem Top Gun-Soundtrack. Mann, ich hasse Top Gun.) headbangen und dabei aussehen, als würden sie den Luftmolekülen vor ihnen unzählige Kopfnüsse verpassen? Abgesehen von ein paar dicken und/oder hässlichen Weibern, bei denen ich einen Weingarten bräuchte, um sie mir schön zu saufen? Sind wirklich alle gut aussehenden und wahlweise auch zusätzlich sympathischen Frauen hier vergeben?

    Ja sind sie. Ich gehe an die Bar, bestelle mir zwei Bier und will mich zurück zu meinem Tisch durch die Menschenmenge vor mir kämpfen, allerdings hat schon eines dieser beschissenen Pärchen den Tisch in Beschlag genommen, um dort aneinander rumzuspielen. Vielen Dank. Es ist nicht so, dass die Wände oder die Umgebung näher kommt in meinen Augen, aber ich muss raus. Einfach raus, irgendwohin. Ich entscheide mich in meiner theatralischen Panik für die letzte Zuflucht, die ich vor diesen ganzen Gestalten habe, die mir heute Nacht das Leben versauen wollen: Das Herrenklo.

    Ich renne an der Tanzfläche vorbei, vorbei an Thomas, der die Zunge aus der Blondine nimmt, um mir verpeilt hinterher zu gucken. Und vorbei an allen anderen. Ich habe den Suff-Tunnelblick, wie er nicht angenehmer sein kann. Alles was zählt, ist die Flucht in die Toilette. Ich trete förmlich die Tür zum Herrenklo auf und befinde mich jetzt mit den zwei Pils in meinen Händen in einem Raum, dessen Boden und Wände mit schwarzen und weißen Fliesen im Schachbrett-Muster gekachelt sind. Vier Pissoirs, drei Kabinen, allesamt – zu meinem Erstaunen - frei im Moment. Ich entscheide mich für die von mir aus rechte Kabine und schließe die Tür ab. Nachdem ich mich auf der Schüssel hingesetzt, meine fast völlig abgebrannte Zigarette auf den Boden geworfen und die Fluppe unter meinen sandfarbenen K-Swiss zertreten habe, hole ich erneut mein Handy raus aus meiner Hosentasche. Ich habe einen dämlichen, wirklich wirklich dämlichen Gedanken, der so horrend dämlich ist, dass ich auf den Dämlichkeits-Schock zunächst die zwei Bier exe. Eiskalt läuft der Gerstensaft die Speiseröhre runter. Seine Kohlensäure wiederum kommt wenig später hoch. Ich öffne den Mund und rülpse einen Ton heraus, mit dem ein Jäger eine Horde Hirsche hätte anlocken können, weil sie den Ton für einen Brunftschrei gehalten hätten. Irgendjemand, der jetzt auch im Herrenklo ist und wahrscheinlich gerade das Stehbecken vollpinkelt, ruft mir zu: „Respekt!“, was ich mit einem „Danke!“ quittiere.

    Es kommt kein Hirsch, also bin ich zunächst sicher im Klo. Im Suff durchsuche ich mein Handy nach einer Nummer, die ich anrufen könnte. Und weil ich schon seit fast zwei Monaten einem gewissen Ritual folge, rufe ich meine Ex an, ist doch logisch. Ihr wollt jetzt bestimmt wissen, was das Ritual ist, nicht wahr? Aber ich habe das Handy am Ohr und eine neue Kippe im Mund, die ich mir prompt anstecke. Ich atme blauen Dunst aus, während nicht meine Ex, sondern ihre Mailbox rangeht und mich darüber informiert, dass der t-mobile-Kunde mit der Nummer null... eins... sieben... Ich lege auf. Nun, das hat es gebracht!

    Ich fahre mir mit den Händen durchs Gesicht. Wie erbärmlich: Ich hocke besoffen auf dem Klo und will meine Ex-Freundin anrufen, weil mich der Umgang mit Thomas langweilt und mir eh im Moment nichts bringt, weil er ja mit der blonden Tussi beschäftigt ist. Als ich darüber nachdenke, klopft es an meiner Klotür. Es ist Thomas, der mich fragt: „Alles okay da drin?“
    Ich nehme meine Hände aus dem Gesicht und antworte: „Jo, alles Roger du Verräter.“
    „Verräter? Hör mal, bin ich deine Nanny oder was?“, fragt's und ergänzt: „Mach' die Tür auf, Danny. Jetzt.“
    Ich beuge mich nach vorne und entriegle die Tür. Thomas – gekleidet im dunkelblauem Sacko, gelbem T-Shirt und schwarzer Jeans – kommt hinein und sieht mich an wie eine Mutter, die ihren Sohn gerade beim Masturbieren erwischt hat.
    „Danny, was machst du hier?“, fragt er im Erzieher-Ton.
    „Nun...“, fange ich an, „Ich hocke auf der Herrentoilette, hab' zwei Biere auf meine Ex - ich meine: auf Ex - getrunken, hätte fast einen Hirsch angelockt und dann hatte ich den brillanten Einfall, Sandra anzurufen! Geil, ne?“ Ich grinse über beide Backen. Thomas sieht mich entgeistert an und schüttelt den Kopf.
    „Meine Güte, das hat dir echt zugesetzt.“, kombiniert er und mein Grinsen verwandelt sich wieder in ein ernsthaftes Gesicht.
    „Natürlich hängt mir das nach! Sie hat mir das Herz gebrochen und will nichts mehr von mir hören!“, sage ich und pausiere kurz, um zu rülpsen. Ich höre ein „Wow, nicht schlecht!“ vom selben Typen, der mir vorhin schon ein ähnliches Kompliment gemacht hatte. Der steht immer noch am Pissbecken? Der muss wirklich richtig Blasendruck haben. Ich sehe Thomas an und fahre fort:

    „Was soll der Scheiß: Von wegen 'Du passt nicht in meine Lebensplanung.'? Was denkt sich die Fotze eigentlich, wer ich bin?“ Ich bin mittlerweile beim Lallen angekommen, und mit dem Lallen kommt das Pöbeln und Schreien. Die zwei Biere waren wohl die Tropfen, die Fass zum überlaufen brachten. „Und du weißt, dass ich in der Hinsicht emo... emotio... gefühlig bin und...“, ich pausiere noch einmal. Bis eben ging der Alkoholpegel bei mir, jetzt brechen alle Dämme - in jeder Hinsicht. „... und du Arsch rennst los, suchst dir die nächstbeste Alte aus und lässt mich alleine mit diesen ganzen Paaren und schönen Singles, die jetzt Paare werden und ich bin...“ Ich kann den Satz nicht zu Ende bringen, weil ich anfange zu hyperventilieren. Ich verliere gerade alle möglichen Coolness-Punkte, die ich bis jetzt mit meinen Hirschimitationen eingeheimst hatte.

    Thomas will mich beruhigen, aber ich stehe auf und stoße ihn mit dem linken Arm zur Seite, während ich mit der rechten Hand die untere Hälfte meines Gesichts abdecke. Er soll nicht sehen, wie ich heule. Ich renne wieder vorbei an der Tanzfläche, die Blondine im Jeansrock sieht mich kurz an und ihr Blick schreit förmlich „Ich bemitleide dich!“. Ich renne ungehindert zur Garderobe. Hier fällt mir ein, dass ich nichts abgegeben habe, ich bin mit den Klamotten gekommen, die ich jetzt trage. Also geht es raus aus dem Drafthouse an die frische Luft.

    Ein imaginäres kleines Männchen mit Holzhammer wartet bereits links neben der Tür und streckt mich nieder, als ich aus der schwitzigen Bude in die höchstens vier Grad Celsius kalte Nachtluft renne. Ich falle auf die Fresse und höre das Männchen kichern. Ich würde am liebsten aufstehen und das kleine Arschloch verprügeln, aber da er nur imaginär ist, würde das keinen Sinn ergeben. Also stehe ich nur auf. Völlig kopflos wanke ich erst einmal in Richtung Reeperbahn, um mich zwischen die Party-People zu drängeln, die in Heerscharen hier herumlatschen. Wenn Sandra sehen könnte, wie es mir geht, dann... Nein ich denke lieber nicht daran. Ich bin völlig breit und will im Prinzip nur noch nach Hause. Aber da gibt es noch eine Sache, die ich erledigen muss, bevor ich heim fahre.

    Ich habe vorhin von einem Ritual gesprochen. Nun, ich habe meine Checkliste fast abgearbeitet:

    1.:
    Mich richtig schön volllaufen lassen, bis ich emotional werde. Check.

    2.:
    Mir ein paar Bier bestellen, um mir noch mehr Mut für Punkt 3 anzutrinken, und mich aufs Herrenklo verziehen. Check.

    3.:
    Meine Ex anrufen und immer, wenn sie oder ihre Mailbox rangeht, auflegen. Check.

    4.:
    Abhauen. Check.

    5.:
    Mit der S-Bahn bis zur Haltestelle Landungsbrücken fahren, dort mit Kopfhörern und lauter Musik im Ohr chillen, bis es ein wenig heller ist und mich ans Geländer der Promenade stellen. Mit dem festen Gedanken, mich heute Nacht endlich fallen zu lassen ins arschkalte Elbewasser. Und um dort zu bleiben, bis ich erfriere und wie ein Stein zu Boden sinke.


    Okay, ich bin nach einer fünfminütigen S-Bahn-Fahrt - und einer anschließenden Kotzorgie an zwei Müllcontainern - angekommen an meinem Platz. Es ist wunderschön hier. Wunderschön auf eine typisch hamburgische Art und Weise. Man geht aus dem Haltestellengebäude hinaus und kommt direkt auf einen circa fünf Meter hohen Wall. Dieser hoch gelegene Fußweg führt direkt auf die Promenade, die an der Elbe verläuft. Mit hellen Steinen erbaut und den Metallstreben am Rande, die als eine Art Reling fungieren, wirkt sie wie ein unauffälliger Farbtupfer in der ansonsten eher eintönig grauen Hafen City. Ich setze mich auf eine der zahlreichen Bänke hier und werde fündig: Neben meinem Sitzplatz steht eine halbvolle Flasche „feinster“ Moskovskaya-Wodka. Unglück im größeren Unglück. Ich greife mir die Flasche, öffne sie, rubbel mit dem Ärmel meines schwarzen Kapuzenpullis die Flaschenöffnung einigermaßen sauber und nehme einen tiefen Schluck. Pure Chemie und ein ekeliger Druck im Magen folgen. Vor allem, nachdem man sich erbrochen hat, ist es eigentlich eine arg schlechte Idee, weiter zu trinken. Aber ich achte nicht darauf im Moment. Ich sitze hier und starre auf den Boden, während mein MP3-Player einen Song spielt, den ich bisher noch nicht so oft gehört habe:

    Yeah, my my, such a sweet thing
    I wanna do everything
    What a beautiful feeling
    Crimson and clover, over and over


    Ich weiß, auf euch wirke ich jetzt wie eine weinerliche Pussy, die sich mit Pubertätsproblemen rumschlägt. Glaubt mir: Ich bin absolut nicht in der Stimmung für solche Anschuldigungen. Ich habe alles Recht der Welt, mich beschissen zu fühlen. Es war nicht immer so. Es war alles gut bis vor kurzem. Ich war glücklich, ich dachte, sie wäre es auch. Aber anscheinend war es anders, als ich gedacht hatte. Ich denke zuviel nach. Ich kann es jetzt nicht mehr ändern. Sie hatte mich mit dem Grund verlassen, dass ich nicht in ihre Lebensplanung passen würde und weil sie nicht wüsste, wie wir weitermachen sollten. Sie meinte definitiv damit, dass sie es nicht mehr ertragen konnte, dass ich im Gegensatz zu ihr keine Lebensplanung hatte. Außer, möglichst glücklich mit ihr zu sein und am Blowjob- und Schnitzeltag von vorne bis hinten bedient zu werden.

    Ich nehme einen Schluck aus der Flasche, dann stelle ich mich – leise Joan Jetts Greatest Hits mitsingend – an die Reling der Promenade und schaue auf das, was vor mir liegt. Dunkles Wasser, ein paar Segelschiffe dümpeln herum. An den Kais und sporadisch auch an den Stegen vor der Promenade selbst – die vom Wasser aus wie eine massive Steinmauer aussieht und deren Höhe über der Wasseroberfläche fünf oder sechs oder ein paar Meter mehr ist - sind Schiffe und Boote angeleint oder angeankert oder wie auch immer das heißt. Sorry, ich bin besoffen. Da ist das mit dem Beschreiben so 'ne Sache für sich. Ich hoffe, ihr versteht mich bis jetzt. Ich schreie laut mit:

    Do you wanna touch me there? Where? There! Yeah!

    Ich hab einen wunderbaren Blick auf die Elbe. Auf den Hafen. Auf die Möchtegern-Wolkenkratzer der Alster City. Auf die Schiffswerft Blohm & Voss, - pardon, jetzt heißt sie Thyssen Krupp Marine Systems oder so – deren Trockendocks wie pechschwarze, unförmige Vierecke im genauso schwarzen Wasser langsam hin- und herschaukeln und dadurch hervorstechen, dass sie einem zunächst nicht auffallen, wenn man gegen 3 Uhr morgens betrunken bei den Landungsbrücken steht und laut (und völlig schief) alte Punkrock-Songs mitgröhlt. Ich liebe Hamburg. Ich hasse mich selbst. Ich bin vierundzwanzig Jahre alt und gehe schneller als mir lieb ist auf „Mitte Zwanzig“ zu. Ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder Studienplatz. Ich bin das wandelnde Aushängeschild der Generation „Berufserfahrung wird vorausgesetzt“.

    Und ich liebe es, dass mir alles scheißegal ist.

    Ich steige auf das Geländer und halte mich notdürftig an einem Fahnenmast rechts neben mir fest, an dem die Landesflagge von Hamburg hängt und im strammen Nordnordost-Wind (oder von wo auch immer der Scheißwind herkommt) laut vor sich hin flattert. In der linken Hand meinen Wodka, rechts neben mir die Hamburger Flagge. Es wäre der coolste Abgang der Welt, wenn ich keine Höhenangst hätte. Ich schaue ein wenig zitternd – zum einen vor Kälte, zum anderen vor Panik – den Wall hinunter. Es geht maximal acht Meter weit abwärts, bis ich im Wasser aufschlage oder wahlweise auch auf dem Steg oder – wenn ich wirklich kreativ sein möchte - auf dem Deck des Dampfers, der unten direkt vor meiner angepeilten Landeposition ankert. Das ist schon das vierte Mal, dass das hier passiert. Immer wieder bin ich drauf und dran, es wirklich zu tun. Doch im letzten Augenblick (so wie jetzt) entscheide ich mich um, steige vom Geländer runter und versuche, wie Arnold Schwarzenegger samt Judorolle die letzten paar Zentimeter hinunter zu hüpfen. Natürlich packe ich mich auf die Fresse. Die Wodkaflasche fliegt im hohen Bogen aus meiner Hand und landet mit einem lauten Klirren ein paar Meter von mir entfernt neben der Bank, auf der ich bis vor fünf Minuten gesessen hatte vor meinem halbherzigen Suizidversuch. Ich liege am Boden und ich glaube, ich habe mir die Knie aufgeschürft, meine Bluejeans sieht jedenfalls an den Knien ein bisschen angerissen aus. Ist das nicht heutzutage trendy oder so? Egal. „Leck mich Hamburg! Ich fahr' nach Hause!“, rufe ich und trotte mit gesenktem Haupt zurück zur S-Bahn-Station.

    I love Rock'n'Roll, so put another coin in the jukebox, baby!


    Nächster Tag

    Mein Wecker nervt. Also greife ich nach links, packe das Scheißding und schmeiß' es gegen die nächstgelegene Wand. Lasst mich und meinen Kater schlafen, ihr fiesen Penner. Mein Kater miaut zufrieden. Dabei habe ich gar kein Haustier. Nein... Moment...

    Es ist 14 Uhr am Nachmittag und ich muss mich übergeben. Während ich auf der Suche nach meinem Badezimmer durch mein Ein-Zimmer-Wohnklo torkle, fällt mir ein, dass ich heute irgendetwas vor ha... UUAARGH! Okay, zur Not tut es halt auch manchmal die Spüle in der Küche. Wo war ich? Ach ja: Ich hatte heute irgendetwas vor. Fragend und eine Flasche Wasser suchend sehe ich mich in meinem persönlichen Chaos um, bis mein Blick an einem Post-It am Kühlschrank hängen bleibt:

    Sandra. 13 Uhr. Hendrik's.
    Hey, wer hat den Penis unter der Notiz gezeichnet?

    Moment einmal. Das heißt also Folgendes:
    Es ist 14 Uhr.
    Auf dem Post-It steht 13 Uhr.
    Irgendetwas mit Sandra.

    Mit einem lauten „Oh Fuck!“ urplötzlich nüchtern werdend, renne ich kopflos durch die Bude. Wo soll ich anfangen? Soll ich erst duschen, dann mich anziehen und noch einmal in die Spüle brechen, danach eine Zigarette rauchen und die Zähne putzen gegen den Kotzegeruch? Oder lass ich alle Punkte ab „Anziehen“ aus? Oder zieh' ich mich einfach an, mach' eine Deo- und Haargel-Dusche und... Oh, die untere Hälfte des Post-Its ist nach innen gefaltet. Jetzt besagt die Nachricht:

    Sandra. 13 Uhr. Hendrik's.
    (Pimmel)
    Montag.
    Bloß keinen Scheiß labern und die Alte zurückgewinnen.


    Charmant, also der letzt Teil. Aber das Ganze ergibt Sinn, denke ich.
    Welcher Tag ist heute überhaupt?
    Während diese Frage in meinem alkoholgeschädigten Kopf hin- und herfliegt, als würden meine Hirnzellen damit Ping Pong spielen, klingelt mein Handy. Und hier ist schon die nächste Frage: Wo ist mein Handy?
    Ich wühle mich durch Klamottenhaufen, die auf dem dunklen Laminatboden meines Wohnklos liegen. Ich suche in jeder Hose, die durch glückliche Zufälle in meinen Händen landet. Endlich werde ich fündig: Da ist die zerstörte Bluejeans. Allem Anschein nach habe ich mich nach meiner Landungsbrücken-Aktion noch einmal saftig hingepackt, so sehen zumindest die Bereiche an den Knien und am Hintern aus. Warte mal: Am Hintern? Hab ich mich auf Schmirgelpapier gesetzt? Egal. Ich fummel mein Handy aus der Hosentasche und melde mich mit einem leisen Rülpsen, gefolgt von einem „Daniel Schandelorz? Und ja, das ist mein Name?“

    „Danny, wo bist du?“, fragt eine vertraute Männerstimme.
    „Zuhause und gleichzeitig ganz woanders, glaube ich.“, antworte ich und nehme einen tiefen Schluck aus der 1,5 Liter-Wasserflasche, die ich gerade unter meinem Bett gefunden habe, neben dem ich liege. Mitten in einem Haufen aus Unterhosen, Socken, Hosen und Pullovern. Ist irgendwie bequem. Ich glaube, ich bleibe hier.
    „Ach so.“, sagt Thomas darauf und führt aus: „Pass' auf: Erinnerst du dich an gestern Nacht?“
    „Teilweise ja.“
    „Also hast du bestimmt noch diese eine Blondine in Erinnerung? Mit der ich...?“
    „Schwarzes T-Shirt und Jeansrock?“, unterbreche ich.
    „Denke schon.“
    „Wie?“
    Thomas pausiert ob seiner offensichtlich reichlich dämlichen Antwort. „Nun: Nachdem du deine fünf Minuten hattest, ist sie dir hinterher gerannt. Ich dachte eigentlich, du wärst mit ihr noch unterwegs gewesen, weil zu mir zurückgekommen ist sie nicht.“
    Ich antworte zunächst mit Stille, die auf der anderen Seite der Leitung durch ein paar „Hallo?“s und „Bist noch dran?“s unterbrochen wird. Ich ringe mich zu einer Gegenfrage durch: „Hinterher gerannt, ja?“
    „Jo.“
    „Okay, und was jetzt?“
    „Heute ist Samstag, Alter. Und der Tag ist noch jung.“
    Danke, Thomas, mein wandelnder Kalender! „Aber ich nicht mehr. Ich hab' genug für die nächsten zwei Jahre oder so.“
    „Lass' mich nicht hängen. Ich hab' die Nummer von der Blondine und... wie es aussieht hat sie für dich was übrig, also kannst du sie haben.“
    „Thomas, sie ist ein Mensch und keine Pokémon-Sammelkarte.“
    „Okay, sorry. Aber du weißt, was ich meine, oder?“
    „Ja, natürlich.“
    „20 Uhr bei mir?“
    Ich seufze laut. Aber irgendein Teufel, der auf meiner linken Schulter zu sitzen scheint sagt, ich solle mit „Ja, ich bin da.“ antworten und danach auflegen.
    Ich tue genau das, stelle meinen Handywecker auf 18 Uhr und gehe wieder pennen. Die Welt wird mich bis dahin wohl nicht vermissen, denke ich.

    Als ich aus meinem vierstündigen Koma erwache, humpel ich über meine Klamottenstapel hinüber ins kleine Badezimmer. Duschen, gleichzeitig Zähneputzen und auf dem Lokus sitzen, danach rasieren und danach noch eine deftige Deo-Dusche mit Axe, Duftnote „Alaska“. Ich nicke mir selbst im Spiegel zu und betrachte mich kurz. Ich bin schmal – das sage ich zumindest immer, wenn man mich nach meiner Statur fragt - und 1,80 groß. Ein paar Körperpartien sind trainiert, weil ich ab und zu Kraftsport betreibe. Ab und zu ist hier zu verstehen als „im Monat zweimal, wenn ich dran denke“. Eine kleine, aber sichtbare Gemütlichkeitsplautze hat sich breitgemacht. Schlimm find ich das nicht. Das zeugt nur von... von... Es zeugt von irgendetwas Gutem, auf jeden Fall.

    Ich ziehe mich langsam an, es ist 19 Uhr. Thomas' Zuhause erreiche ich nach maximal zehn Minuten Fußweg, von daher kann ich mir noch Zeit lassen. Die Welt um mich herum ist wieder farblich und konstrasttechnisch okay, denke ich. Ich habe keine Kopfschmerzen und Bauchkrämpfe mehr, allerdings ist mein kompletter Mundbereich total trocken. Ich arbeite dagegen an mit Labello und Lutschbonbons. Das wird helfen. So, jetzt noch eben ein Schlemmerfilet als Grundlage in den Ofen schmeißen. 20 Minuten reichen bei Umluft locker. Alles völlig unproblematisch soweit. Nachdem ich mich vor den Backofen auf einen kleinen, quietschenden Klappstuhl setze und eine Zigarette anzünde, denke ich nach. Wie komme ich bloß in diese Gesamtsituation, die alles andere als zufriedenstellend ist?

    Abgesehen von meinem kaputten Verhältnis zu Sandra kann es auch an meinem Verhältnis zu der Arbeit liegen, die ich in den letzten drei Jahren gemacht habe. Insgesamt habe ich zwei Ausbildungen abgebrochen, und das auch nicht unbedingt nur, weil ich mich nicht ausgefüllt fühlte. Bei meiner ersten Ausbildung zum Bürokaufmann ging es. Ich hatte Arbeit in einem okayen mittelständischem Betrieb, hab' Akten sortiert, Kaffee für die Personalabteilung gekocht, Briefe verschickt, Versicherungen klargemacht. Ich lernte Thomas kennen, der bis heute einer meiner besten... Nein, mein einziger bester Freund ist, auch wenn ich ihn manchmal mies behandle. Alles war schön. Dann sagte mir diese eine •••••••• nach, ich hätte sie „sexuell attackiert“ (so drückte sie es zumindest aus), obwohl das totaler Bullshit war, was sie erzählte. Die tatsächliche Geschichte war, dass SIE MICH sexuell attackierte. Oft. Obwohl (oder vielleicht gerade WEIL) ich da bereits mit Sandra zusammen war. Die Anzeige gegen mich wegen sexueller Nötigung lief ins Leere, dennoch war mein Ruf im Arsch. Also brach ich die Ausbildung ab, als ich die bohrenden Blicke der Kollegen nicht mehr ertragen konnte.

    Zum zweiten Betrieb kam ich dank Thomas' Kontakten. Speditionskaufmann, was im Prinzip das gleiche Geschisse ist wie Bürokaufmann, nur langweiliger – und vor allen Dingen langweiliger. Dieser Job machte mich dümmer, je länger ich an meinem beschissenen Schreibtisch in meinem beschissenen Büro saß und für beschissene einfältige ••••••• beschissenen Kaffee kochte und beschissenen LKW-Fahrern ihre beschissenen Stunden abrechnete bis endlich meinen beschissenen Feierabend hatte und zurückkehren konnte zu meiner beschissenen Wohnung wo im besten Fall bereits meine wunderschöne Freundin auf mich wartete und mich vergessen ließ, dass ich in einer Welt voller eindimensionaler Arschgesichter lebte.

    Die Kippe ist aufgeraucht und mein Ofen gibt ein lautes „PING!“ von sich, was mir signalisiert, dass mein Schlemmerfilet fertig ist. Ich schnappe mir einen dicken Backhandschuh, greife damit das Alublech mit dem Fisch drin und esse direkt daraus mit einer eben gerade organisierten Gabel. Ich schling' das Zeug runter und schau auf die Uhr: 19:40. Alles klar, ich geh' dann mal los.
    Ich stopf' meine Utensilien in die relativ neue schwarze Kik-Jeans mit zusätzlichen Seitentaschen auf Höhe der Oberschenkel, was ich sehr gut finde. Links oben Brieftasche, rechts oben das Handy, links an die Seite der Wohnungsschlüssel und rechts an die Seite Zigaretten und drei Feuerzeuge. Und ja, ich nehme immer mehr als ein Feuerzeug mit. Dann bist du wenigstens nicht ganz so aufgeschmissen, nachdem du im Suff deinen Feuerspender an den nächstbesten Typen/die nächstbeste Alte weitergegeben hast, der/die gerade nach Feuer gefragt hat und nach getanem Anzünden des Glimmstengels selbiges nicht zurückgibt. Ja ja, alles Taktik, Mädels und Jungs!

    Der Weg aus der Wohnung, durchs Treppenhaus und hinaus an die frische Luft verläuft soweit relativ angenehm. Als ich aber an eben erwähnter Luft angekommen bin, wird mir ein bisschen schummrig. Ich schwanke ein wenig. Das ist wohl noch eine der Nachwehen meines Katers. Zwei Seitenstraßen, die neben ihren Fußwegen von zwanzig Meter hohen Hochhäusern (von derselben Bauart wie das, in welchem ich wohne) gesäumt sind, entlanggegangen, eine Kippe geraucht, zweimal den Brechreiz unterdrückt und schon stehe ich vor der Tür eines großen Wohnklotzes, der größer und wohnklotziger ist als jedes andere Hochhaus hier. Es ist grau und trist, hat aber immerhin ein paar Balkone und wenigstens ein funktionierendes Klingelbrett, im Gegensatz zu der Scheißhütte, in der ich wohne.

    Hier wohnen knapp 30 Mieter mit und ohne Familie. Ich suche nach „Krautheim/Stolpen/Krewitzki“, der WG, in der Thomas (Stolpen) wohnt, und drücke nach dem erfolgreichen Finden des Namensschilds den metallischen Knopf daneben. Diese Aktion beantwortet das Klingelbrett mit einem lauten Geräusch, das sich anhört, als hätte jemand mit einer Vuvuzela in einen Telefonhörer getrötet. Ich erschrecke mich und gebe ein lautes „Heilige Scheiße!“ von mir. Es knackt wenig später im Klingelbrett und eine tiefe Frauen- beziehungsweise hohe Männerstimme (ist mir noch nicht hundertprozentig klar, wer da gerade an der Gegensprechanlage steht) antwortet:
    „Jo?“
    Ich überlege kurz. „Jo!“, antworte ich sinngemäß.
    „Wer is'n da?“, kommt es postwendend zurück.
    „Kumpel von Thomas.“
    „Oh hi, Kumpel von Thomas.“
    Ein paar Sekunden Stille später ringe ich mich zu einer sinnvollen Frage durch: „Machste mir jetzt auf, oder is' Quatsch?“
    „Is' was?“
    „Quatsch.“
    „Is' Quatsch?“
    Ich seufze. „Quatsch.“
    Noch einmal zehn Sekunden Stille zwischen mir und Callboy/-girl. Langsam bin ich genervt.
    „Machste jetzt auf?“, frage ich, mittlerweile mit einer etwas agressiven Tonlage.
    „Oder is' Quatsch? Ha ha!“, kommt es schallend lachenderweise zurück.
    „So!“, rufe ich, „Hör' mir zu du Kackstelze! Du machst jetzt...“, ich rüttel an der Tür, „... sofort...“, noch einmal Gerüttel an der Tür, „... diese beschissene Tür auf oder ich schwör' bei Gott, ich krabbel die verfickten Rohre hier hoch bis in den achten Stock und box dich ins Wachkoma du behind...“
    Der Türsummer ertönt. Ich erstarre vor Freude (warum freue ich mich so überschwänglich über eine offene Tür?), renne hin und ziehe an der Tür, die sich immer noch weigert, sich öffnen zu lassen. Oh, da ist ein dickes fettes grünes Schild angebracht, auf dem „Drücken“ steht. Ich drücke also die Tür auf und renne bis in den achten Stock. Und nein, dieser Wohnklotz hat keinen Fahrstuhl.

    Ich komme vor der Tür an. Hechelnd, schwer atmend, schwitzend, mies gelaunt drücke ich die Türklingel. Eine stoned aussehende Gestalt öffnet mir die Tür. Die Gestalt sieht aus wie ein Mann, der aussehen will wie ein Mädchen, das aussehen will wie ein Mann und sich deshalb einen Damenbart wachsen lässt. Hinzu kommen kurz geschorene Haare und ein Bob Marley-T-Shirt, das sowas ähnliches wie Titten erahnen lässt. Keine Ahnung. Die Tatsache, dass sich die Gestalt mit „Kyle“ oder „Kylie“ vorstellt (ich konnte nicht verstehen, welche der beiden Varianten das Ding mir versuchte, als seinen Namen zu vermitteln), macht die Spezifikation ihres Geschlechts nicht unbedingt einfacher. Ich lass es einfach.
    „Moin.“, chillt es mir entgegen. Es ist die Stimme, mit der ich mich eben unterhalten habe.
    „Hi.“, grüße ich zurück und reiche ihr/ihm die Hand. Er/Sie sieht hinunter auf meine ausgestreckte Hand, sieht mich an, stößt einen höhnischen Lachton aus und geht ins Zimmer zurück, aus dem er/sie kam.
    „Asoziales Etwas.“, murmel ich unhörbar in meinen rasierten Bart und betrete Thomas' WG.

    Die WG-Bude ist richtig schön abgefuckt. Man kommt hinein und steht auf einem vier Meter langen und anderthalb Meter breiten Flur, von dem vier Türen abgehen. Davon eine Tür zur Küche und eine zum Badezimmer. Drei Leute wohnen hier: Thomas, das hermaphrodite Dingsbums und eine ziemlich coole Frau namens Orla-Christiana, genannt Orla. Sie hasst ihre Eltern bis heute für ihren Vornamen und für die Gene, die ihr mitgegeben wurden: sie ist pummelig, unkreativ und könnte der langweiligste Mensch der Welt sein, wenn sie nicht jedes Wochenende mit ausreichend viel Alkohol gegen ihre eigenen Langweilier-Dämonen ankämpfen würde. Und das finde ich recht bemerkenswert, auch wenn sie wohl mit dieser Taktik in ein paar Jahren an Leberzirrhose draufgehen wird. Ein weiteres Plus hat Orla mit der Tatsache gepachtet, dass sie stolze Besitzerin eines extrem knuffigen, dicken, doofen Berner Sennenhundes ist, dessen Name mir bis heute unbekannt ist. Ich habe ihn öfter gehört, wie er durch die Bude gebrüllt wurde, aber irgendwieblieb der Name nie wirklich in meinem Gedächnis hängen.

    Thomas wohnt in einem Zimmer, das von der Küche aus begehbar ist, während Orla und Kyl(i)e die anderen beiden Zimmer besetz... ich meine: bewohnen. Das heutige Sit-In findet in der Küche statt. Um einen runden Tisch stehen sechs Stühle, von denen fünf besetzt sind von Thomas, Kyle, Orla und zwei Mädels, die ich vorher noch nie gesehen habe. Der Berner Senner liegt relaxt vor Olras Füßen und schaut mich traurig an, als ich den Raum betrete. Mache ich mittlerweile selbst Hunde betroffen? Ich lass mich nicht beirren und betrete die Küche. „Moin.“, rufe ich in die Runde. Orla steht wie auf Kommando auf und umarmt mich herzhaft. Sie riecht aus dem Mund wie ein Iglu in Sibirien, hat wohl schon heute morgen angefangen zu tanken. Thomas steht ebenfalls auf und reicht mir die Hand. Wir schlagen ein, während ich „Na, alles klar?“ frage. Thomas entgegnet: „Passt schon, bin ein bisschen verkatert, aber sonst...“. Ich nicke zustimmend, weil es mir selbst immer noch nicht besonders gut geht.

    Er deutet auf die beiden Mädels, die sonst noch am Tisch sitzen. Eine ist rothaarig, schlank und hat einen Schlafzimmerblick, der aus ihren schmalen, dunklen Augen auf mich einschießt. Die andere ist die Blondine aus dem Drafthouse, die ich nun endlich mal aus der Nähe betrachten kann. Sie ist nicht sehr schlank, aber auch nicht pummelig. Sie hat Kurven, soviel kann man sagen. Sie sieht nicht schlecht aus, von einem objektiven Standpunkt aus betrachtet. Ihre großen grünen Augen mustern mich von oben bis unten. Ich habe immer noch meine schwarze Winterjacke mit Fellkragen an, obwohl es im Raum mindestens 25 Grad Celsius warm ist.
    „Danny, das ist Liliana.“, stellt er mir die Rothaarige vor, die mir die Hand schüttelt und mit einer etwas rauchigen Mezzosopran-Stimme ein „Hi, Danny.“ entgegenhaucht.
    „Und das...“, ergänzt Thomas und deutet auf die Blondine, „... ist Charly.“
    Ich winke ihr mit einem Lächeln auf den Zähnen zu und setze mich so schnell wie möglich neben Thomas, weil mich Liliana schon wieder mit geilen Blicken bombardiert und ich schon jetzt ein bisschen eingeschüchtert bin von der rothaarigen Bedrohung. Charly nimmt es allem Anschein nach gelassen und winkt zurück, während sie den Kopf ein wenig zur Seite neigt und grinst. Red Dawn flüstert ihr etwas ins Ohr und sieht mich wieder an, als wäre sie Roseanne und ich eine Tüte voller knackfrischer Nachos. Ich drehe mich zu Thomas und sage: „Charly ist aber nicht ihr richtiger Name, oder?“
    „Nee.“, antwortet er knapp und reicht mir ein IKEA-Glas rüber. Havanna-Club-Rum und Cola in einer 50:50-Mischung. Happy Birthday to me. Ich nippe am Drink, zieh meine Jacke aus und hänge sie über die Rückenlehne, um danach meine Zigaretten aus der Innentasche zu fummeln. Kaum stecke ich mir eine Kippe an und habe mein Glas wieder in der Hand, da ertönt wieder die Raucherstimme von der anderen Seite des Tisches.
    „Hey.“, sagt Liliana, die deutlich schon einen über den Durst getrunken hat in meiner Abwesenheit, „Bock, dich hierhin zu uns beiden hübschen zu setzen?“
    Ich denke nach. Rechts neben mir sitzt Thomas und mischt Drinks für das dreckige halbe Dutzend. Links von mir sitzen Kyle und Orla und diskutieren darüber, ob es vom Gesetz her verboten ist, Wodka in einen Hundenapf zu kippen. Mir gegenüber sitzen zwei schöne Frauen, von denen mich eine in Gedanken schon gefressen zu haben scheint. Was ist das geringste Übel? Heute Nacht eventuell meinen unterforderten Schwanz in eine notgeile 18-Jährige zu schieben? Oder zu saufen bis ich umfalle? Oder das Saufen mit Quatschen zu verbinden? Oder soll ich den Hund vor der Depri- und der Öko-Braut retten und mit ihm aus dieser Stadt verschwinden?

    Ich seufze leise, schaue an die Decke, schnappe daraufhin meinen Stuhl und meinen Drink und setze mich zwischen Liliana und Charly. Warum zum Teufel nicht? Was habe ich schon großartig zu verlieren in diesem Leben?

    Drei oder vier (können auch zehn gewesen sein) 50:50-Mischen später bin ich um einiges redseliger und vergesse kurzzeitig, dass Liliana mittlerweile so nahe an meiner Seite sitzt, dass sich unsere Schultern die ganze Zeit berühren. Orla, Kyle und Thomas haben ihre Party in Thomas' Zimmer verlagert. Der Rest hat das irgendwie nicht mitbekommen, denke ich. Im Hintergrund läuft eine CD vom US-amerikanischen Folk-Musiker Ryan Adams und untermalt die gerade laufende Konversation perfekt:
    „Mein Ex, dieser •••••••...“, lallt Liliana, ihren russischen Dialekt in den Vordergrund treten lassend, „... Er hat mich für's Leben versaut. Ich meine: Guck mich an!“
    Sie steht auf und hebt ihr schwarzes Top hoch, sodass ich freie Sicht auf ihren Oberkörper habe. Das Wort „perfekt“ ist untertrieben. Sie arbeitet für diesen Körper hart, soweit ich es mitbekommen habe. Alles ist stramm: Vom Bauch über die Taille bis hin zu den von einem schwarzen BH verdeckten C-Cup-Brüste. Charly schaut uns lächelnd zu, während sie entspannt an ihrem zweiten Drink diesen Abend nippt. Ich bin mittlerweile – nach dem Anblick von Lilianas perfektem Körper – umgestiegen auf Havanna Club und... naja, noch mehr Havanna Club. Die Cola ist leer. Und bevor ich Havanna Club mit Fanta oder Schwipp-Schwapp oder ähnlichem Zeug mische, muss schon einiges passieren.
    Ich versuche, ihr ein unterschwelliges Kompliment zu machen. Stattdessen rutscht aus meinem besoffenen Mund nur ein „Boah, geil...!“, gefolgt von einem „Darf ich mal...?“. Sie nickt. Ich streichle mit meiner rechten Hand relativ zärtlich über ihren Bauch, wandere weiter zu ihrer Taille, um irgendwann mit meinen von versauten Gedanken gelenkten Fingern kurz unter ihren Brüsten anzukommen. Ich grinse notgeil-debil und nehme mit links noch einen Schluck aus meinem Glas.
    „Das entgeht dem blöden Vollidioten!“, pöbelt sie, trinkt ihr volles Glas auf Ex aus, schmeißt selbiges über ihre Schulter (es zerplatzt an der Wand neben Thomas' Zimmertür) und setzt sich auf meinen Schoß. „Würdest du dir das entgehen lassen?“
    Ich schüttle den Kopf wie ein kleiner Junge, der verspricht, ein Geheimnis für sich zu bewahren und mit ins Grab zu nehmen. Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich ihr Gesicht näherkommen. Ich werde nervös. Was, wenn wir uns küssen und ich mich dabei anstelle wie ein Putzfisch auf Speed? Was, wenn ich meine Zunge zu schnell in ihren Mund schiebe und sie nicht will, dass der Mann zu schnell rangeht, auch wenn sie es tut und was, wenn...?
    Zum Glück bin ich besoffen und denke nicht weiter darüber nach, während ich ihr einen Zungenkuss aufdrücke. Rate mal, wer heute Abend gevögelt nach Hause geht...

    Dreißig Minuten, zwei Zungenküsse und eine halbe Flasche Wodka später: Laut Thomas wollen Orla und Kyle auf den Kiez. Charly stimmt stumm nickend zu. Liliana – die ich mittlerweile „Lilly“ nennen darf – und ich sitzen eng umschlungen am Küchentisch und machen irgendwelche Bewegungen mit unseren Köpfen, die wohl ebenfalls als ein Nicken verstanden werden.
    „Ab'r b'vor's l'sgehen tut...!“, brabbel' ich halbverständlich und schiebe Lilly liebevoll meinem Schoß runter. Sie sitzt jetzt wieder auf dem Stuhl neben mir, „Geht der Onk'l mal dick strull'n, oder is' Quatsch?“ Ich schiebe noch ein „Ha ha!“ hinterher und deute auf Kyle. Danach bahne ich mir, abwechselnd gegen die linke und rechte Wand des Flurs knallend und „To be young“ von Ryan Adams summend, taumelnderweise den Weg zum Klo. Witzigerweise folgt mir der Berner Sennenhund bis in die Toilette hinein und hockt sich hechelnd und mich treudoof anglotzend vor mich. Ich sitze auf der Schüssel, weil im Stehen pinkeln doch etwas riskant ist in meinem Zustand. Wir – also ich und der Berner Sennenhund – sehen uns gegenseitig tief in die Augen, bevor mich das Verlangen überkommt, mit ihm zu kommunizieren.

    „Hund!“, schreie ich und strecke ihm den linken Zeigefinger entgegen. „Was meinst du? Wollen wir abhauen?“, ich deute ein paar Mal abwechselnd auf ihn und auf mich, „Ich und du und ich und du und wir beide gleichzeitig?“ Der Hund schaut zu Boden. Ey! Er soll mir erst einmal zuhören, bevor er meine Idee scheiße finden kann!
    Ich brülle wieder: „Hund!“, ihm abermals den Zeigefinger vors Gesicht haltend. Ich führe aus: „Wäre doch geil! Road Trip durch ganz Europa, Slayer hören, ein paar Leute erschießen! Die geile Russin nehmen wir auch mit!“ Er schaut mich mit einem dermaßen hirnwasser-absenkenden Blick an, dass ich mich von einer Sekunde auf die nächste noch besoffener fühle als ich es bereits bin. Meine Gedanken fangen sich allerdings wieder.
    „Ich weiß, das klingt voll verrückt und so, aber: Lass mal machen! Das wird super special geil, Alter!“
    Der Hund blickt zur Tür hinaus. Auf mein kommandierendes „Hund!“ hört er nicht. Er rennt hinaus, dafür: Auftritt Oberlehrer Thomas.
    Er sieht mich an und stöhnt nur. „Was machst du da, Danny?“
    „Schon wieder dieser Pädo... philenton.“, sage ich und korrigiere mich, vehement den Kopf schüttelnd: „Sorry, Pädagogenton.“
    „Was zum Teufel...?“, sagt Thomas entsetzt und entreißt meiner rechten Hand die Wodkaflasche, die ich vorhin noch mit Liliput zur Hälfte ausgetrunken hatte. Nun: Sie ist leer. Wie oder wann das passiert ist... Keine Ahnung.
    Thomas schaut mich mit einem wütenden Blick an, während ich schulternzuckend auf dem Lokus sitze und ihn planlos ansehe. „Die hier...?“, er deutet auf die leere Flasche, „... Du alleine?“
    „Naja...“, versuche ich, mich rauszureden. Aber Thomas ist schneller.
    „Bist du jetzt völlig durchgeknallt? Weißt du überhaupt noch, was du tust?“
    „Halt's Maul!“, schreie ich und falle dabei fast nach vorne hin von der Kloschüssel. Thomas hält mich fest und ich sitze wieder gerade auf meinem Porzellanthron. „Ich bin schwer depressiv! Ich darf das! Lass mich in Ruhe!“
    „Du bist höchstens hirnamputiert.“, murmelt Thomas, während er sich halb von mir wegdreht. Lilly, die nun auch in der Tür steht, sieht mich jämmerlichen Misthaufen an, als wäre ich ein tschetschenischer Terrorist. Sie ist in St. Petersburg geboren. Keine Ahnung, wie ich in diesem Moment darauf komme. Es ist wohl nur ein positiver Gedanke, der mich davon abhalten soll, allzu besoffen auf mich selbst zu wirken. Sie verschwindet nach rechts aus dem Bild und Thomas und ich sind wieder alleine.
    Ich stehe auf und ziehe mir langsam und ungeschickt die Hosen hoch. Im Verlauf dessen fange ich wieder an, zu pöbeln.
    „Ich und Hund hatten gerade eine Unterhaltung über meinen sogenannten Freundeskreis.“, murmel ich und verschließe den Reißverschluss meiner Hose, „Und wir sind zu dem Schluss gekommen...“, ich fummel mir eine Zigarette aus der linken Hosentasche, welche mir prompt ins Klo fällt, „... dass ihr alle wie ihr hier und nicht hier seid...“, ich versuche, eine weitere Zigarette aus der Hosentasche zu popeln, „... mich ABGRUNDTIEF HASST!“.
    Die letzten drei Worte stoße ich heraus wie eine Schrotflinte. Mein rechter Zeigefinger ist direkt vor Thomas' Gesicht. Links habe ich plötzlich eine Kippe in der Hand.
    „Wie kommst du darauf?“, fragt Thomas mit einem skeptischen Blick.
    Ich muss ein paar Sekunden nachdenken, bevor ich endlich eine Antwort habe: „Weil mich nur zwei Personen auf dieser Welt verstehen: Mein Schwanz und...“ (wie hieß der Köter noch gleich? Egal.) „Hund.“
    „Du meinst Hündin.“
    „Nee, das ist meine Ex.“, entgegne ich im verbitterten Ton.
    „Oh mein Gott...“, sagt's und schaut genervt an die gekachelte Decke.
    „Der hilft mir nicht mehr. Das Arschloch hat mich längst aufgegeben.“
    Ich wanke langsam an Thomas vorbei. Plötzlich bin ich wie ausgetauscht. Ich habe Bock, zu feiern, zu saufen, zu ficken, zu leben. Oder zumindest insofern zu leben, wie ich und meine Freunde (die mich alle hassen) es praktizieren. Ich will meine Leber abtöten mit gepanschtem Alkohol und beschissenen Drogen und will Sex mit einem Haufen Weibern. Das fällt doch unter die Kategorie „Party“, oder?
    Ich drehe mich um, ein breites Grinsen auf dem Gesicht und sage „Ey, Mann. Tut mir leid, Mann.“ Ich meine es nicht so. Ich will nur nicht die gute Stimmung versauen.
    Thomas nickt, sich selbst augenscheinlich eine zustimmende Geste abfordernd.
    „Aber...“, fange ich an und drängel mich im engen Bad wieder an Thomas vorbei, „... Lässt mich erst einmal zu Ende pinkeln?“
    Thomas nickt stumm und schließt die Tür hinter sich, als er das Bad verlässt. Ich habe bereits gepinkelt. Ich muss aber noch etwas erledigen, bevor es losgeht. Ich ziehe mein Handy aus der rechten Hosentasche und rufe mal wieder meine Ex an.

    Klingeln.
    Mobilbox.
    Auflegen.
    Ausatmen.
    Aufstehen.
    Vor die Schüssel hocken und kotzen.
    Endlich die Kippe anstecken, die seit geraumer Zeit in meiner Hand ist.
    Sich fühlen wie ein erbärmliches Etwas.
    An die geile Russin denken.
    Suff-Selbstvertrauen erlangen und erhobenen Hauptes und mit gewaschenem Gesicht und Gebiss aus dem Klo kommen.
    „Party!“ schreien, Lilly auf den Arsch hauen und Charly zuzwinkern.
    Sich innerlich beschissen fühlen.
    Sich dennoch gehen lassen.
    Scheiß Vorglühen.
    Scheiß sinnlose Parties.
    Egal.
    „Gut“ fühlen.
    Zumindest so tun als ob.

    Wir sind innerhalb von dreißig Minuten, die mir vorkommen wie fünf, auf dem Kiez. Bunte Lichter und Gesabbel verschiedenster Personen in den verschiedensten Zuständen prasseln von allen Seiten auf meine schon so mit Lillys Lebensgeschichte überforderten Sinne ein.
    „Deutschland ist total anders als Russland.“, erzählt sie, „Voll steif teilweise. Ihr seid aber derbe locker wenn ihr Party macht.“
    Ich nicke zustimmend.
    „Was machst du eigentlich so?“, fragt sie.
    Weil ich nicht wie ein Depp wirken möchte, der einfach keinen Ausbildungsplatz findet seit geraumer Zeit, sage ich: „Bürokaufmann. Mach' aber gerade Home Office.“
    Sie schaut mich mit großen Augen an und neigt den Kopf ein wenig nach hinten. „Cool.“, sagt sie knapp und wir spazieren Händchen haltend die Reeperbahn hinunter, bis wir zur Großen Freiheit kommen. Eine Straße, die noch bunter beleuchtet und noch lauter ist als andere Nebenstraßen der Reeperbahn. Stripclubs und Diskos aller Art mit Musik aller Art tummeln sich auf ungefähr 700 Meter Länge und werben jeweils für sich mit Leuchtreklamen und Animateur-ähnlichen Honks, die – Helli Hansen-Jacken und Caps tragend – einem ins Blickfeld hüpfen und Gutscheine in die Hand drücken, die man so oder so nicht einlösen wird diesen Abend.

    Eine unbestimmte Zeit später sitze ich mit Charly in der Raucherlounge der Großen Freiheit 36. Im Hintergrund läuft ekelerregende Elektro-Dance-Pop-Scheiße, für die sich selbst die Black Eyed Peas zu schade wären. Lilly ist irgendwo inmitten der Menschenmasse, die ihre Körper zu den Rythmen der „Musik“ bewegen. „Tanzen“ würde ich es nicht unbedingt nennen. Ich bin mittlerweile auf Bier umgestiegen, weil mich Rum und ähnliches Zeug träge machen würde. Mit Charly habe ich noch kein Wort gewechselt. Noch bevor ich etwas sagen kann, wendet sie sich mir zu und zieht mich näher an sich heran, um mir einen kurzen, aber intensiven Kuss aufzudrücken. Ich sehe sie zunächst perplex an, nehme einen Schluck aus meiner Bierflasche und frage dann: „Wofür war der jetzt?“
    „Einfach so.“, sagt sie mit den Schultern zuckend und hebt ihr Glas an, um mit mir anzustoßen.
    Es klirrt und wir nehmen jeder einen Schluck von unseren Getränken.
    „Ich bin immer gespannt, wie Kerle reagieren bei solchen Aktionen, die aus dem Nichts kommen.“, erklärt sie mir ihren Spontankuss.
    „Und? Wie habe ich mich geschlagen?“, frage ich interessiert.
    „Ging.“, antwortet sie knapp und nippt an ihrem Getränk. Ich glaube, es ist Wodka mit Red Bull. Sicher bin ich mir aber nicht.
    „Ging?“
    „Ging.“ Sie lächelt übers gesamte Gesicht
    „Thomas meinte, dass du mir letztens hinterher gerannt wärst...?“, fang ich nach kurzer Pause an, die gesprächlichen Zügel in die Hand zu nehmen und zünde mir meine erste Zigarette seit meinem Toiletten-Zwischenfall an.
    „Naja, 'hinterher gerannt' ist etwas übertrieben.“, entgegnet sie, ebenfalls eine Kippe anzündend, „Ich bin dir kurz gefolgt bis kurz vors Drafthouse. Danach hatte ich dich in der Menschenmasse verloren.“
    Ich nicke. „Warum?“
    „Warum was?“
    „Warum mir folgen?“
    „Ich weiß nicht.“, sie pausiert und zieht an ihrer Zigarette, „Ich treffe so viele Typen. Und sie sind alle ihrer Sache total sicher. Wissen was los ist. Aber hinter dieser Fassade...“, sie zieht noch einmal an der Ziese und atmet blauen Dunst in mein Gesicht, „Sorry. Ähm...“, sie überlegt kurz, „Ach ja: Hinter der Fassade sind sie unsicher, depressiv, mega-theatralisch. Sie würden aber niemals zugeben, dass sie sich scheiße fühlen.“
    Jetzt sieht sie mich mit einem dermaßen eindringlichen Blick an, dass ich mich ertappt fühle. Dabei weiß ich nicht einmal, wobei sie mich ertappt hat.
    „Aber du... Du lebst das 'Sich scheiße fühlen' richtig. Auch nach außen hin. Du fühlst dich beschissen und machst keinen Hehl daraus. Und das ist selten, obwohl es so viele von deiner Sorte gibt.“
    „Woher willst du wissen, dass ich mich scheiße fühle?“
    „'Ich mach Home Office!'“, äfft sie mich nach, „Ist doch bloß ein Synonym für 'Arbeitslos', oder?“
    Ich nicke resignierend.
    „Siehste. Ich will dich ja nicht runtermachen oder so: Aber wenn du dich so beschissen fühlst, dann tu auch was dagegen. Tu was Verrücktes, was Wahnsinniges, was Spezielles, einfach um diesen Hobby-Depressions-Mist endlich loszuwerden.“
    Ich nehme noch einen Schluck aus der Bierflasche und möchte gerade ansetzen, um mich zu verteidigen. Meine Ex, meine Arbeitgeber bis jetzt, die Behörden, die Wirtschaft, der Alkohol...
    „Nein, jetzt erzählst du mir nichts.“, unterbindet sie meinen halbherzigen Versuch, „Jetzt zählt der Moment. Und im Moment bist du auf die Pussy meiner Freundin scharf.“
    Ich spucke fast meinen Schluck Bier wieder aus, zaudere kurz, nicke dann aber doch.
    „Na dann los. Sonst macht sie der Typ da klar, der gerade mit ihr tanzt.“, sagt's und deutet auf Lilly, die von einem Schmierlappen angetanzt wird, der mit seinem hochgestellten Polohemdkragen, seiner Schmalzfrisur und seiner Solariumbräune aussieht wie eine Mixtur aus John Travolta in „Grease“ und einem Klischee-Italiener. Ich sehe Charly tief in die Augen, exe mein Bier weg und verschwinde in Richtung Tanzfläche.

    Moment, was zum Teufel ist gerade passiert? Was tu ich hier gerade? Während ich mich das frage, sind meine Hände an Lillys Arschbacken, mein Gehirn außer Betrieb und einige Zeit später, die mir wie eine Minute vorkommt, bin ich in einer fremden Wohnung. Eine nackte rothaarige Schönheit stöhnt mir ins Ohr, während ich auf ihr liege und nicht mit ihr schlafe, sondern sie ficke. Zwischen „mit jemandem schlafen“ und „jemanden ficken“ gibt’s einen Unterschied: Wir lieben uns nicht. Wir sind besoffen und haben jegliches Verantwortungsgefühl bereits in Thomas' WG-Wohnung zum symbolischen Fenster hinausgeschmissen. Es ist so, als wären wir auf einem brennenden Wikingerschiff und das hier wäre die letzte Aussicht für uns, noch einmal richtig Spaß zu haben. Ich ziehe das komplette Programm durch: Ich beiße ihr in den Hals, ziehe ihr etwas an den Haaren, drehe sie so, wie ich sie gerade haben möchte und habe mit ihr eine Stunde lang den Sex meines Lebens. Als ich komme, ist es, als würde ich in allen Frauen dieser Welt gleichzeitig abspritzen. Abgesehen von meiner Ex. Sie würde nichts merken, gar nichts. All das würde ihr verwehrt bleiben. Ich wünsche ihr fürs Leben schlechten Sex und hässliche Kinder. Aber genug von ihr. Ich bin auf diesen Moment fixiert.

    Erschöpft liege ich neben Lilly, die erleichtert ausatmet und allem Anschein nach wieder Herrin ihrer Sinne ist. Denn sie sieht mich an und sagt nichts. Stattdessen dreht sie sich auf die andere Seite, wendet sich somit schlicht und einfach von mir ab und sagt: „Wenn du gehst, sagst du kurz Bescheid, okay?“
    Ich bejahe leise und wage es nicht, mich an sie zu kuscheln. Ich fühle mich plötzlich so fehl am Platz wie Malcom X auf einem Ku-Klux-Klan-Treffen. Erst hatte ich gedacht, das hier wäre die beste Sache aller Zeiten. Aber nun ist es gar nicht mehr so grandios wie anfangs gedacht. Ich drehe mich von ihr weg und schlafe eine gefühlte Stunde später den Schlaf der Ungerechten.

    Ein paar Stunden des unruhigen Schlafes später klettere ich aus dem Bett, ziehe mich an und will gehen. Ein letztes Mal sehe ich mich um. Alles dabei? Kippen? Ja. Geld? Ja. Nochmal reingucken und checken, ob noch genug Geld drin ist fürs Taxi. Ist. Sehr gut.

    Ich sag nicht Bescheid und verlasse diese fremde Wohnung – im festen Glauben daran, mich ganz bestimmt bald wieder bei ihr zu melden und mich mit ihr zu treffen und alles zu besprechen und vielleicht...

    Nee. Wir werden nie wieder ein Wort miteinander wechseln, schätze ich.

    Zurück an der arschkalten frischen Luft. Wo zum Geier bin ich? Ich kenne diesen Stadtteil nicht. Es gibt keine Bahnstation in der Nähe (zumindest nicht, als dass ich auf Anhieb eine sehen könnte), das Straßenschild, auf dem groß und breit „Ernst-Müller-Stieg“ steht, liegt vor mir. Der Pfahl, an dem es hängt, ist übersät mit Dellen. So, als hätte jemand so lange dagegen getreten, bis er umfiel. War ich das etwa? Kein Plan.

    Nachdem meine erste Zigarette nach der Fahnenflucht brennt, fummel ich mit zittrigen Händen mein Handy aus der Jackentasche. Die Nummer des Taxi-Services eingegeben, halte ich das Stück Plastik an mein Ohr und hoffe darauf, dass ich den Fahrer nicht in die tiefste Provinz schicke.

    Irgendeine Frauenstimme meldet sich und vernuschelt ihren Begrüßungs-Pflichtsatz zu einem nur schwer verständlichen „Schnschnnnschdnschwiekannischihnenhelfn?“, oder so ähnlich.
    „Ja. Moin.“, antworte ich trocken, „Ich brauch' 'ne Taxe.“
    „Wohinsollndestaxihin?“, nuschelt es mir entgegen.
    „Ernst-Müller-Stieg, Ecke...“, ich kicke leicht gegen das Schild, um es umzudrehen, „Ecke Rodestraße.“
    „Brmfld?“
    „Was?“
    „Desisnbrmfld, ne?“
    „Was für ein Blumenbeet?“
    „B-R-A-M-F-E-L-D, ne?!“, schreit's und buchstabiert's. Jetzt klingeln mir die Ohren.
    „Ja, genau, verfickte Scheiße!“, schreie ich mies gelaunt zurück. „Müssen Sie sich nicht wundern, wenn ich Rückfragen habe. Sie reden so, als hätten Sie 'ne verdammte Banane quer im Mund zu stecken!“
    „Ich hatte gestern 'nen Zahnarzttermin, Sie Arschloch!“, schießt sie mit dicken Backen zurück. „Dauert 'ne viertel Stunde. Schönen Tag noch!“
    Tut. Tut. Tut. Sie hat einfach aufgelegt, bevor ich ihr noch eine schöne Fahrt in die Hölle wünschen konnte.
    „Braucht gar nicht beleidigte Leberwurst zu spielen, die Alte...“, murmel ich vor mich hin und ziehe noch ein paar Mal an der Zigarette, bevor ich sie mit den Fingern wegschnipse.

    Als das Taxi nach gefühlten zehn Stunden (waren wahrscheinlich nur zwanzig Minuten) ankommt, steige ich auf den Beifahrersitz und sage dem Taxifahrer, wo es hingehen soll.
    „Oha, so weit weg?“, fragt er. Es ist ein Typ mit einer Glatze, einem blonden Ziegenbart und einer Hornbrille auf der Nase.
    „Ja. Entschuldigung.“, sage ich leise und denke, dass die Sache damit erledigt wäre. Aber nein, ich muss an den kommunikativsten Taxifahrer Hamburgs geraten.
    „Harte Nacht gehabt?“
    Ich pausiere kurz. „Jupp.“
    Er nickt verständnisvoll. „So siehste auch aus – Nix gegen dich!“
    Ich nicke zurück. Warum hält er nicht die Fresse?
    „Weißte? Ich wünschte, meine Nacht wäre so gewesen. Aber stattdessen musste ich so 'ne Frauengruppe zu einem Meeting oder so fahren. Und weißt du, worüber sich die Ollen stundenlang unterhalten haben?“
    Er sieht mich kurz an und achtet dabei nicht auf die Straße. Trotzdem bremst er rechtzeitig ab, bevor wir mit diplomatischen 60 Stundenkilometern in den Vordermann reinbrettern.
    „Damenbinden. Von wegen 'Ich will mich trocken fühlen, wenn ich trainiere.'“, er äfft eine stereotype Frauenstimme nach – auf ebenso stereotype Art und Weise, natürlich. Inklusive leicht homoerotischer Gestiken und Falsetto-Stimme. „Und im Ernst: Da hab' ich überhaupt gar keinen Bock auf!“
    Ich muss ein bisschen grinsen bei dem Gedanken an ihn, wie er völlig genervt einen Haufen fröhlich rummenstruierender Schreckschrauben durch die Gegend kutschiert.
    „Was interessiert mich ihr Scheiß-Rumgeblute? Ernsthaft, alleine der Gedanke daran ist voll ekelhaft.“ Ist er jetzt fertig? „Trocken fühlen.“ Ist er nicht. „Und dann die Oberhärte: Die eine Olle ist noch kurz hier geblieben, hat mir ihre Nummer gegeben und meinte, ich solle sie mal anrufen. Aber nee.“ Er schüttelt vehement den Kopf. „Stell' dir mal vor: Ich ficke die Olle, aber währenddessen im Kopfkino – da läuft immer noch der Film, in dem die mir den Schwanz vollblutet wenn ich reinlunze. Und wenn ich ficke – kleiner Scherz am Rande – dann K-A-N-N die Olle sich ja nicht trocken fühlen. Nee, da hab' ich überhaupt keinen Bock auf. Hättest du da Bock auf?“
    Ich schüttel jetzt auch den Kopf und möchte gerade zu einem Satz ansetzen (irgendwas von wegen „Naja, so simpel kannst du das jetzt auch nicht sagen.“ Bla bla bla.), da hakt sich Glatze wieder ein.
    „Natürlich nicht. Was dagegen, wenn ich rauche?“
    „Quatsch, hau rein. Kann ich auch?“, wende ich mein Abitur-gestähltes rhetorisches Geschick an, um mit ihm zu kommunizieren.
    „Nein, Alter. Gib ihm. Hier links?“
    „Jupp.“, antworte ich knapp und zünde mir eine Zigarette an.
    „Und? Was hast du denn in Bramfeld gemacht, wenn du am komplett anderen Ende Hamburgs...“, er kommt von selbst drauf. „Aaaah, gevögelt haste, ne?“
    „Jupp.“
    „Und? War gut?“
    „Jupp.“
    „Na, das ist doch die Hauptsache. Schön die Olle fettich gemacht. Da hätte ich auch jetzt grade Bock auf. Aber nee, nachher bin ich nur froh, wenn ich ins Bett falle.“
    So geht das die restlichen zehn Minuten der Taxifahrt. Profanes Scheiß-Gelaber über Ficken, Fotzen und Sachen, wo man überhaupt keinen Bock auf hat. Als wir endlich vor meinem Wohnblock anhalten und ich dem Mann einen Zwanziger in die Hand drücke, sage ich ihm, was ich jetzt gleich noch so vorhabe.
    „Weißte, was ich jetzt mache? Ich gehe schön ins Bett, werde nachher aufstehen, mir 'ne Pizza in den Ofen schieben, mir beim Fressen 'nen schönen Porno angucken und mir lecker einen von der Palme wedeln.“ Ich erhebe den Zeigefinger und grinse. „Da hab' ich Bock auf!“

    Und genauso läuft dann auch der Rest des Tages ab.

    „Und was haben Sie innerhalb der letzten drei Wochen unternommen, um einen neuen Arbeitsplatz zu bekommen?“, fragt Frau Librowski, meine zuständige Sachbearbeiterin bei der Agentur für Arbeit. Ich sitze ihr gegenüber am anderen Ende des weißen Plastikschreibtisches - unrasiert, ein hellgrünes Hemd und eine Bluejeans an und nervös auf die Uhr glotzend, die hinter der Schreckschraube an der Wand hängt. 9 Uhr morge-ich meine, nachts. Oh mein Gott. Ich atme genervt aus, während ich in meinem Gehirn nach einer geeigneten Antwort suche.
    „Öööhm...“, stoße ich heraus und denke nach. „Entschuldigen Sie, was haben Sie gesagt?“
    „Haben Sie sich mittlerweile einen neuen Job gesucht, Herr Schandelorz?“, wiederholt sie die Frage knapp und besser verständlich, während sie mich über ihre Brille mit eckigen Gläsern anstarrt und ihre zehn Finger auf der Tastatur ihres PCs ruhen – bereit, meine Fortschritte der letzten drei Wochen ins System reinzuhacken.
    Ich habe für sie die eloquenteste Antwort überhaupt: „Nö.“
    „Wie – 'Nö'?“, fragt sie ungläubig nach.
    „Naja: 'Nö' im Sinne von 'Nö, kein neuer Job.'-Nö, halt. Nö.“, erkläre ich mich und zeige ihr währenddessen mein bestes Infomercial-Host-Lächeln, um meine Ausdrucksweise weniger aggressiv aussehen zu lassen.
    „Sie veralbern mich doch, oder?“, fragt die Arbeitslosenamt-Tante, das blanke Entsetzen ins Gesicht gemeißelt.
    „Nö.“, antworte ich knapp. Ihr Miene verzieht sich immer mehr zu einer verärgerten Grimasse.
    „Wie 'Nö'?!“, wiederholt sie die Frage von vorhin, diesmal mit mehr Nachdruck.
    „Naja, 'Nö' im Sinne von 'Nö' halt – haben Sie mir nicht zugehört?“, frage ich und ziehe ein noch breiteres Lächeln.
    Sie steht auf, reißt das Fenster auf und setzt sich auf die Fensterbank, laut ein- und ausatmend und hinaus starrend, als ob sie sich gleich aus dem Erdgeschoss-Fenster in den Tod stürzen wollte. Kühle Luft und ein sanfter Sonnenschein finden ihren Weg ins karge Büro, das komplett weiß gestrichen und mit blauem Teppichboden ausgelegt ist. Weißer Bürotisch aus Kunststoff, Bürostühle mit grauen Polstern und verchromten Alurahmen, ein Foto von ihrer Familie – das sie selbst, einen Mittvierziger mit Halbglatze und ein circa drei oder vier Jahre altes Kleinkind zeigt – steht auf dem Röhrenmonitor, der, seinem Aussehen nach zu urteilen, noch aus den späten 90ern zu stammen scheint, ebenso wie der PC. Eine merkwürdige Atmosphäre durchflutet den Raum, irgendwo zwischen steril, langweilig und einem allgegenwärtigen Gefühl das man hat, wenn man in einer Sackgasse gelandet ist. Und jetzt sitzt sie auf dem Fensterbrett – und ich schätze einfach mal, dass sie gerade ein bisschen neidisch auf mich ist. Denn ich wohne vielleicht in einem brutal unaufgeräumten Saustall, schlage mich mit irgendwelchen sechstklassigen Gelegenheits- und Minijobs durch und bin jedes Wochenende besoffen – aber wenigstens habe ich nicht das Gefühl, dass hiernach nix mehr kommen würde.

    Naja, zumindest würde ich es nie und nimmer zugeben.

    „Beantworten Sie mir zur Abwechslung mal ernsthaft eine Frage, Herr Schandelorz.“, sagt Frau Librowski nach einer längeren Denkpause. Ich sage nichts und erwarte eine typische Arschloch-Frage á la „Was denken Sie eigentlich, wer Sie sind, Sie Homofürst?!“. Aber ich bin umso überraschter über die tatsächlich gestellte Frage von ihr:
    „Wo wollen Sie hin?“
    „Wie meinen?“ ist meine spontan gestellte Gegenfrage.
    Sie dreht ihren Kopf etwas in meine Richtung. „Naja, wo wollen Sie eigentlich hin mit Ihrem Leben?“
    „Ich...“, fange ich an, komme allerdings schnell ins Stocken. Gütig greift sie mir rhetorisch unter die Arme:
    „Sie wissen es nicht, nicht wahr?“, fragt sie. Ich antworte zögerlich mit einem Kopfschütteln.
    Sie steht auf und wandert langsam zurück zu ihrem Bürostuhl, in den sie sich mehr oder weniger erschöpft fallen lässt. Eine Zeit lang, ich schätze mal zehn Sekunden, starrt sie mir direkt in die Augen ohne zu blinzeln, bevor sie sich wieder ihrem Monitor zuwendet und irgendetwas in ihr System tippt. Zwischendurch stoppt sie, um sich mit den Händen durch ihr Gesicht zu fahren und sich danach wieder mir zuzuwenden.
    „Ich weiß nicht, was ich mit Ihnen machen soll. Seit wie lange treffen wir uns monatlich, um ergebnislos für den nächsten Monat einen Termin zu machen? Seit einem halben Jahr, oder?“
    Wieder nicke ich und bleibe stumm.
    „Ich weiß, Sie hatten ein paar wirklich unschöne Erlebnisse mit verschiedenen Betrieben und Sie haben momentan ein paar – wie sagt man? Altersbedingte? - Probleme und ich sehe Ihnen an, dass sie mit der Gesamtsituation überfordert sind. Aber Sie müssen etwas ändern, und zwar so schnell wie es geht.“
    Als sie mit ihrem Vortrag fertig ist, sehe ich sie noch ein paar Sekunden an, bevor ich resignierend zu Boden schaue. Mein Lächeln ist längst einem ernsten Gesichtsausdruck gewichen – weil ich weiß, dass sie Recht hat. Aber...
    „Wirklich interessant, ja. Nächsten Monat am Ersten, selbe Uhrzeit?“, frage ich mit sarkastischem Unterton. Warum? Aus welchem Grund tue ich das? Ich weiß es nicht, es hat sich mit der Zeit eingebürgert, schätze ich. Sie schaut mich belämmert an, nickt kurz, verabschiedet mich und wünscht mir einen schönen Tag, alles mit einem emotionslosen Tonfall. Ich sage ebenso trocken „Gleichfalls.“ und verlasse den Raum.

    Draußen vor dem Amt stecke ich mir eine Zigarette an. Das war eine miese Tour meinerseits, definitiv nicht in Ordnung. Sie tut das ja nicht aus Spaß an der Freude, sondern, weil es ihr Job ist. Sie ist meine vierte Sachbearbeiterin. Die anderen drei kamen irgendwann nicht mehr mit mir klar, schoben meinen Fall untereinander hin und her, bis er jetzt bei Frau Librowski angekommen war. Und sie gibt mir als einzige das Gefühl, dass sie sich Sorgen um mich, meine Zukunft und diesen ganzen Scheiß macht. Etwas enttäuscht von mir selbst, entscheide ich mich, nach Hause zu gehen (ich wohne – wenn's hochkommt – zehn Minuten Fußweg vom Arbeitsamt entfernt). Bei meinem Wohnklotz angekommen,entscheide ich mich, ein paar Schritte weiter zu gehen – zu meiner Stammvideothek „Film 24“. Ein paar meiner ehemaligen Klassenkameraden aus meinem Abi-Jahrgang sind hier geendet als Videothekare – pseudo-elitäre Arschlöcher, die so tun, als hätten sie Ahnung von Filmen, weil sie welche verleihen. Trotzdem komme ich immer wieder zurück, um ein wenig sozialen Kontakt außerhalb der Wochenend-Besäufnisse zu haben.

    Ich betrete „Film 24“ also, ein kleines Glöckchen über der Tür klingelt und signalisiert den Elite-Arschlöchern, dass ich da bin. Es sind zwei an der Zahl: Einmal ist da einer namens Takko, ein dünner, ruhrpott-stämmiger Typ, der immer ein Fullcap trägt, ohne Punkt und Komma redet und dabei mit Milliarden von Fachaus­drücken um sich schmeißt. Die zweite Person im Bunde ist eine rothaarige Tussi namens Tina, die definitiv nicht dick, aber etwas „kräftig“ gebaut ist (wenn ihr versteht), kaum ein Wort sagt und Takkos rechte Hand bei seinem diabolischen Plan ist, per gezielter Hirnzellen-Zerstörung nach und nach die Kundschaft in Fans von Ingmar Bergmann und Takashi Miike zu verwandeln. Erst „Film 24“ - dann die ganze Welt.

    „Hey, dich kenn' ich doch, ne?“, sagt Takko freudig erregt mit seiner typischen, leicht nasalen Stimme. Ich schüttle ihm die Hand und winke Tina kurz zu, die gerade VHS-Kassetten in die Regale der „Action“-Kategorie einordnet. „Was führt dich denn hierher?“
    „Kein Plan. Sag' du mir, was mich in einen Laden namens „Film 24“ treibt du Genie.“, entgegne ich trocken. Takko lacht kurz auf.
    „Ha ha, ah ja klar, ne? Sorry, dämliche Frage.“ Wie sagte man so schön: Selbsterkenntnis ist der erste Schritt in Richtung Besserung. Oder so. „Was willste denn haben?“
    „Ganz ehrlich: Keine Ahnung.“
    „Njoa, ist nicht schlimm, ne?“, sagte Takko und fummelt hinter der Theke an irgendetwas herum. „Worauf hast'n du Bock? So Action-mäßig oder eher so'n bisschen Thriller oder...“, er spricht „Thriller“ wie „Friller“ aus, was mir einen spontanen Schauer über den Rücken jagt.
    „Action ist cool.“, unterbreche ich seinen Gedankengang. Takko entblößt indes die Sache, an der er, seit ich reingekommen bin, herumgebastelt hat: Ein dicker fetter Joint. Um halb zehn Uhr morgens.
    „Action, ne? Also...“, fängt er an, schiebt sich die Keule zwischen die Lippen und steckt sie an. Es dampft, ein süßlicher Geruch steigt mir in die Nase, welche ich mir erstmal vorsorglich zuhalte.
    „Stört's dich, wenn ich was rauche?“, fragt er extrem pünktlich.
    „Nein, nein, nein – hau rein. Aber schön, dass du mich frühzeitig fragst du Spacken.“
    „Oh, sorry.“, entschuldigt er sich. Dann fängt er von vorne an: „Also, Action, ne? Also wir haben da einen neu reinbekommen namens „Strike Force“ mit Chris Mitchum. Das is' der Sohn von Robert Mitchum, der hat auch bei „Rio Lobo“ mitgespielt. Der is' so'n bisschen wie „Rio Bravo“, ist auch von Howard Hughes, aber irgendwie doch total anders. Also: Nicht schlecht-anders, sondern anders-anders halt, ne? Also, ich meine „Rio Lobo“, ne? So richtig furchtbar dagegen ist „Strike Force“, der ist richtig voll furchtbar – aber witzig ist er. Vor allem weil ich ein deutsches Bootleg habe, das uncut und mit der voll schlimmtollen deutschen Synchro ist, ne? Der is' aus den 80ern und wurde auf Indonesien gedreht und ist so ein typischer Vietnam-Veteran-Vigilante-Streifen wie andere Filme aus den 80ern. Zum Bleistift: Kennste „Der Exterminator“? Das ist ein Film vom B-Movie-König schlechthin, James Glickenhaus. Da spielt Robert Ginti einen Vietnam-Veteranen, der voll wie der mieseste Motherfucker derbe viele Gangster plattmacht in New York, ne? Aber der ist kein Stück wie „Strike Force“. Also schon so ein bisschen, weil halt wegen dem Vietnam-Vet, ne? Aber sonst total anders. Aber den haben wir auch hier – also: „Der Exterminator“, nicht „Strike Force“. Aber den haben wir wie gesagt auch. Also „Strike Force“. Kannst aber auch was ganz anderes nehmen, wollte nur sagen, dass du das Bootleg haben kannst.“
    Tina schaltet sich ein: „Nee, das kann er nicht haben. Das hab ich bei Ebay für 50 Euro ersteigert.“
    Takko entgegnet: „Naja, aber das ist voll Weltkulturgut, ohne Scheiß! Das müssen wir halt ebenso mit der Welt teilen wie die Taiwan-Fassung von „Hardboiled“, ne? Was denkst du, was für 'ne Arbeit das war, den Film von Laserdisc auf DVD zu kopieren, ne? Richtig furchtbar. Hat sich aber voll gelohnt, weil der Film so derbe awesome ist, dass man einfach die noch awesome'igere Taiwan-Fassung sehen muss, ne? Ohne Scheiß, voll geil.“
    Tina greift wieder ein: „Aber „Hardboiled“-Taiwan habe ich für 70 Euro gekriegt und extra für die DVD ein eigenes Cover gemacht und gedruckt und so! Das war richtig viel Arbeit, Mann!“
    „Ich geb' ihm ja nicht die Laserdisc, ne? Nur die DVD, die Hülle kannste ja behalten.“
    „Nee nee nee, die DVD hab' ich auch extra beklebt und so!“
    „Aber...“

    Ich habe derweil mein Gesicht hinter meinen Händen vergraben, die Ellenbogen auf den Tresen gestützt und keine Ahnung, was die letzten zwei-drei Minuten geschehen ist. Es ist einer dieser seltenen Momente, in denen mir einfach keine passende Antwort einfallen will. Irgendwas taktvolles, irgendwas interessiertes, irgendwas nettes will ich sagen. Aber das einzige, was mir gerade einfällt, ist:
    „HALT DEIN MAUL! HALT DU AUCH DEIN MAUL! HALTET BEIDE DEIN MAUL! HALT DEIN FUCKMAUL! HALT DEIN VERFICKTES FUCKMAUL!!!“
    Während ich das schreie, will ich Takko sein Fullcap von Kopf reißen und es ihm in den Mund schieben, bis ihm der Mützenschirm die Luft abschneidet und er qualvoll erstickt. Und dann würde ich mit dem immer noch brennenden Joint den Puff hier in Brand stecken.
    Natürlich tue ich das nicht, sondern nicke nur eine Zeit lang etwas unkontrolliert, bevor ich mich dann doch dazu durchringe, mir zum gefühlt zehntausendsten Male „Straßen in Flammen“ und zusätzlich die Taiwan-Fassung von „Hardboiled“ - unter heftigen Protesten seitens Tina – auszuleihen und diesen Kackladen so schnell wie möglich zu verlassen. Zum einen, weil die beiden mir mit ihrem Hipster-Gelaber tierisch auf den Sack gehen, zum anderen, weil mir schlecht ist vom Cannabis-Dampf.

    In meinem Domizil angekommen, durchsuche ich zunächst den Kühlschrank nach etwas Essbarem, schnappe mir eine Milchschnitte, verspeise sie und schmeiße die Kühlschranktür wieder zu. Da fällt mir dann der Zettel auf: 13 Uhr. Sandra. Es ist 10 Uhr. Ich werde nervös: Was wird sie wohl sagen? Was werde ich vor allen Dingen sagen? Werde ich mich anstellen wie ein Vollidiot? Vielleicht sogar „die Alte zurückgewinnen“. Oh, Mann... Ich entschließe mich dazu, auf meinem Sofa Platz zu nehmen und eine Rund fernzusehen. Dabei schaue ich panisch alle fünf Minuten auf meine Handyuhr, um bloß nicht zu spät anzukommen. Nach zweieinhalb Stunden allerfeinstem Kulturfernsehen (sprich: Mittags-Talkshows, die tausendste Wiederholung der Eichhörnchen-Folge von „Malcolm mittendrin“ und Doku-Soaps á la „Mitten im Leben“ und „U18 – Deutschland deine Teenies“) springe ich hektisch von der Couch, ziehe mir meine Wildlederjacke – das teuerste Kleidungsstück, das ich besitze – an und renne aus der Wohnung. Zu einem Date mit meiner Ex. Na dann schauen wir mal...

    Eine viertelstündige Busfahrt später komme ich beim „Hendrik's“ an, ein Szenelokal im Uni-Viertel. Man könnte es am ehesten als eine Mischung aus gutbürgerlicher Kneipe und mittelständigem Restaurant bezeichnen. Die Stammkundschaft besteht fast ausschließlich aus Studierenden und Studierten, die sich hier treffen, ihre völlig überteuerte Vanilla-latte schlürfen und über politische Konsensthemen diskutieren. Örgs. Obwohl ich nur davorstehe und noch keinen Schritt hinein gemacht habe, fühle ich mich fehl am Platze wie ein Veganer im Blockhouse. Ich schaue kurz durch eine der großen Fensterscheiben hinein. Die urige Atmosphäre, die durch die rustikal gehaltene Einrichtung aus dunklem Holz, einige Seemanns-Utensilien, die an den Wänden hängen und das allgemein recht gemütlich wirkende Umfeld innerhalb der Lokalität erzeugt wird, wird alsbald zerstört durch die hochnäsigen Arschlöcher, die drin sitzen und über Scheiße reden. Nichts als Scheiße, Scheiße, Scheiße. Generation Milchkaffee, wie sie leibt und lebt. Dann doch lieber Generation Bocklos – denn es ist immer noch besser, kein Ziel zu haben, als seine Seele an Indie-Musik und C&A zu verkaufen. So sehe ich das zumindest.

    Shit, da sitzt sie. Meine Knie werden weich. Sie sitzt bereits hier und schlürft an einer dieser völlig überteuerten Milchkaffees. Sie tut das aber auf eine coole Art. Sie leckt sich nicht wie ein Dackel über die Lippe, um das letzte bisschen Schaum in sich aufzunehmen. Sie benutzt den verdammten Strohhalm und schmeißt ihn nicht nach einmaliger Benutzung auf den Tisch, sodass vorne und hinten aus den Löchern ein paar Tropfen Kaffee herauskommen und die Tischplatte versauen. Sie sieht einfach wunderschön aus, egal was sie tut. Sie könnte Banjo spielen, dabei ein Verkehrshütchen auf dem Kopf tragen und „Dragostea din tei“ singen – und sie wäre immer noch wunderschön. Ein paar Minuten stehe ich nur da und schaue sie von draußen an – ohne zu merken, dass sie mich jetzt auch gesehen hat. Was für ein super erster Eindruck: Drei Monate seit der Trennung und das erste, was ich für sie darstelle, ist ein Putzfisch. Sie winkt mir zu und signalisiert gestisch, dass ich reinkommen soll. Also schnipse ich die abgebrannte Kippe weg und betrete das Lokal, was sie als Treffpunkt vorgeschlagen hatte, nachdem ich ihr zwei Wochen lang damit auf den Keks ging, dass ich sie gerne wiedersehen würde.

    Sie steht auf. Ihre brünetten Haare hat sie hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt ein enganliegendes rosa T-Shirt mit dem Aufdruck „Rockstar“, eine dunkelgraue Jeans und über dem Stuhl hängt ihre Regenjacke. Sie trägt sie also immer noch. Cool. Wir umarmen uns kurz – uns gegenseitig leise „Hey, na?“ sagend - dann setze ich mich gegenüber von ihr hin und hänge meine Jacke über die Rückenlehne meines Stuhls. Ein paar Sekunden sehen wir uns nur gegenseitig an, bevor Sandra endlich die Stille bricht.
    „Du bist ja pünktlich.“, sagt sie grinsend. Ich weiß, wie sie es meint.
    „Ja, kommt selten genug vor – marker' den Tag rot im Kalender an.“, antworte ich, ebenfalls ein Grinsen auf dem Gesicht.
    „Wie geht’s dir?“, fragt sie, während ich versuche, den – allem Anschein nach tauben – Kellner auf mich aufmerksam zu machen, der hier zwischen den Gästen hin- und herturnt.
    „Ganz okay, soweit. Und wie sieht's bei dir aus?“. Ich versuche derweil, krampfhaft Augenkontakt mit dem Kellner aufzubauen.
    „Supergut.“, antwortet sie und schaut dabei in ihren Milchkaffee.
    „Aha, wie kommt's?“, frage ich interessiert nach. Der Kellner schaut mich kurz an, nickt – und rennt dennoch an mir vorbei. Ich bin fehl am Platze hier. Das nächste Mal nehme ich eine falsche Brille, Röhrenjeans und einen dieser schwulen Mehr-oder-weniger-Schals mit. Falls es überhaupt ein nächstes Mal gibt.
    „Nun, du weißt schon: Dies und das. Studium läuft gut...“, sie schluckt. Ich kenne dieses Schlucken. „... und sonst halt auch.“
    „Aha. Cool, cool.“, sage ich und gebe es derweil auf, den Kellner auf mich aufmerksam zu machen. Der kommt schon irgendwann von selbst.
    „Was läuft bei dir? Schon 'nen neuen Job?“, fragt sie, um so schnell wie möglich von dem für sie unangenehmen Thema auf ein für mich unangenehmes Thema umzuschwenken.
    „Naja, mehr oder weniger. Ich arbeite dran.“, sage ich und bemerke, dass bis jetzt nichts weiter ausgetauscht wurde als Andeutungen. Egal, nicht schlimm. „Meine Karriere stagniert in letzter Zeit, aber das wird schon noch.“
    „Ja, das glaube ich auch.“, sagt sie und ich weiß, dass sie einen feuchten Scheiß glaubt. „Warst ja immer eher der Typ, der in sein Leben hinein lebt, nicht wahr?“
    Ich nicke. „Ein Plan ist 'ne Liste von Dingen, die nicht in Erfüllung gehen.“
    „Hat bei mir geklappt.“, entgegnet sie.
    „Was studierst du überhaupt? Das war doch Grafikdesign oder sowas?“, frage ich und verdaue derweil ihren Konter. Der verfickte Kellner hat währenddessen wahrscheinlich vergessen, dass ich existiere. Ich glaube, ich mache ihn nochmal auf mich aufmerksam. Also schaue ich ihn an mit einem Blick, der dem Asi signalisiert, dass ich jetzt sofort ein verdammtes Getränk will oder ihn ansonsten mit einer Aluminium-Kaffeekanne zu Tode prügeln werde.
    „Nee, hab abgebrochen und bin bei BWL quereingestiegen.“, sagt sie und überrascht mich mit dieser Antwort.
    „Hä? Aber du wolltest doch so gern dein Zeichending vertiefen? Ich meine: Du zeichnest besser als jeder andere, den ich kenne.“
    „Ja. Aber ich musste mich von ein paar Träumen verabschieden. Das passte einfach nicht...“
    „... in deine Lebensplanung?“, unterbreche ich sie und schaue sie mit demselben Blick an, den eben der Kellner kassiert hat. Ein paar Sekunden sitzt sie mit offenem Mund da und schaut mich an.
    „Du wolltest dich also nur mit mir treffen, um mir Vorwürfe zu machen, oder was?“, fragt sie.
    „Nein, ich denke nur, dass ein paar Träume zu haben immer noch besser ist, als sein ganzes Leben wegzuschmeißen und das Leben eines anderen anzufangen.“, antworte ich und werde nun ein wenig lauter.
    „Was soll das denn heißen?“, fragt sie und beugt sich ein wenig nach vorne. „Also bin ich schuld daran, dass du besser träumen als leben kannst?“
    Autsch. Der hat gesessen. Indes hat der Kellner endlich meine Existenz mitbekommen und steht nun links neben mir.
    „So, was hättest Du denn gerne?“, fragt er mit einem künstlich wirkenden Lächeln.
    „Bring' mir ein Bier. Ist ja nur noch im Suff zu ertragen die ganze Scheiße hier.“, murmle ich. Er schreibt meine Bestellung (und anscheinend den kompletten Restsatz) auf seinen kleinen Block und verschwindet wieder dorthin, wo er hergekommen war.
    „Das ist deine Antwort auf alles: Du lebst nicht, du erträgst nur.“, fängt sie an und buddelt die letzten Streitthemen aus, die wir vor der Trennung hatten. „Du hast mich auch nur ertragen. Und überhaupt hast du die beschissenen Ausbildungen nur ertragen, um dich dann bei mir deswegen auszuheulen. Statt mal was zu ändern, rennst du rum und gehst der Welt auf die Nerven mit deinem Scheiß-Rumgeweine. Und ich konnte das nicht mehr ertragen, okay?“
    „Du warst aber auch nicht bereit dazu, mal eine Sache zu verfolgen. Statt mal bei einer verdammten Sache zu bleiben, hüpfst du hin und her und tust dabei so, als hättest du einen bekackten Plan! Ein feuchten Scheißdreck hast du!“
    „Dafür hänge ich nicht als arbeitsloses Wrack zuhause rum wie du es tust.“
    „Fick dich!“
    „Das übernimmt schon jemand anderes für mich.“
    Jetzt sitze ich da mit offenem Mund.
    „Bitte was?“, frage ich ungläubig nach. Ihr scheint es, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wohl auch unangenehmer zu sein, als sie zugeben mag. Nach einer kurzen Denkpause erzählt sie:
    „So circa eine Woche nach unserer Trennung fing es an. Seit fast drei Monaten. Er hat mir angeboten, bei sich zu wohnen, nachdem ich bei dir ausgezogen bin. Wir kamen uns näher. Und... Ja.“
    „Lass mich raten: Er hat dich dazu überredet, das Grafikdesign-Ding abzubrechen und einer von denen zu werden, oder?“
    „Was meinst du mit 'einer von denen'?“
    „Karrieregeile kleine Anzüge.“
    „Besser als mit einem Job auf der Straße zu sitzen, mit dem ich nichts im Leben anfangen kann.“
    Ich schüttle ungläubig den Kopf. Der Kellner steht genauso ungläubigen Blickes neben mir, mit einem 0,3 Liter-Glas Holsten-Bier in der Hand. Ich entreiße es ihm und drücke ihm vier Euro in Münzgeld in die Hand. „Passt so.“, sage ich leise und wende mich wieder Sandra zu.
    Sie atmet laut aus. „Es tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun.“
    „Den Kackspruch kannst du dir in die Haare schmieren.“, antworte ich verbittert und trinke das Glas in drei tiefen Schlücken aus.
    „Er heißt Fabian. Er ist so alt wie du und...“
    „Interessiert mich nicht. Kein Stück.“, unterbreche ich sie, in Gedanken vertieft.
    „Was ist los? Hast du damit gerechnet, dass ich nachts wach im Bett liege, an die Decke starre und denke: 'Bitte, lieber Gott, bring' mir meinen Ex zurück!'?“, trifft sie den Nagel auf dem Kopf, „Dass ich nicht weiterziehe? Mich weiterentwickeln will und dich dazu hinter mir lassen musste?“
    „NACH EINER VERFICKTEN WOCHE?“, schreie ich und stehe auf, auf sie mit dem Zeigefinger deutend. Die restlichen Gäste drehen sich zu mir und starren mich an, als wäre ich der Donnergott. „Nach einer verfickten Woche!“, wiederhole ich etwas leiser und lasse mich wieder in meinen Stuhl fallen, „In anderthalb verfickten Jahren kommt dir dummer Kuh das nicht in den Sinn – aber eine Woche nachdem du mich abgesägt hast? Bist du verrückt?“
    „Ich...“, beginnt sie, augenscheinlich kurz vorm Heulkrampf.
    „Und dich interessiert dann auch nichtmal, wie es mir geht! Du kommst stumpf vorbei, holst deinen Scheiß ab, gehst wieder und blickst nie wieder zurück als wäre ich die letzten Monate nur ein beschissenes Hindernis gewesen! Willst du mich verarschen?“
    „Entschuldige bitte, kannst du vielleicht...“, sagt der Kellner und tippt mir ein paar Male auf die Schulter. Ich drehe mich kurz zu ihm und sage: „Gleich, Arschloch! Gib' mir noch eine Minute!“
    „Danny, es tut mir leid, okay?“, sagt sie. Tränen kullern ihr Gesicht herunter. „Aber ab und zu kommen einem halt so Eingebungen und bevor man bereut, etwas nicht getan zu haben – muss man ihnen einfach folgen. Verstehst du das nicht?“
    „Dabei verletzt man trotzdem nicht die Gefühle des Kerls, dem man einen Abend zuvor noch mit einem Lächeln auf dem Gesicht 'Ich liebe dich!' gesagt hat.“, entgegne ich. „Und dir scheint dabei völlig scheißegal zu sein, dass...“

    Ich komme nicht weiter. Sie heult und glotzt mich ungläubig an. So haben wir uns gegenseitig noch nie gesehen. Sie mich noch nie so wütend, ich sie noch nie so traurig. Und bevor mir das Herz bricht und ich etwas sage, das ich bereuen würde, schnappe ich meine Jacke und will verschwinden. Auf dem Weg nach draußen merke ich, dass mich etwas nach hinten zurückzieht. Ich drehe mich um. Sandra steht vor mir, mit verheultem Gesicht und bebenden Lippen.
    „Was ist mir scheißegal?“, fragt sie.
    Ich atme aus. Schlimmer kann es eh nicht mehr werden. „Dass ich nie aufgehört habe, dich zu lieben. Und nie aufhören werde.“
    Sie schaut kurz zur Seite, wischt sich mit dem Handrücken die Tränen weg und schaut mich wieder mit dem Blick an, mit dem sie mich vorhin mit Vorwürfen bombardiert hat.
    „Das könnte eine sehr einseitige Sache werden, Danny.“, sagt sie, zwar mit ehrlicher Traurigkeit in ihrer Stimme, aber wieder einen dieser Kacksprüche aus dem Ärmel zaubernd. Und gerade, wo ich gedacht hatte, dass ich den Zauberspruch, mit diese Fabian-Wurst sie verhext hatte, gebrochen hätte.
    „Womit dann alles gesagt wäre.“, sage ich, sie keines Blickes würdigend und verschwinde aus dem Lokal.
    „Du wirst irgendwann genauso vor einer Weggabelung stehen wie ich, Danny.“, ruft sie mir noch hinterher. „Und dann wirst du dir auch Vorwürfe anhören müssen, dass du alle 'verraten' hättest, so wie ich. Aber du wirst sehen, dass im Endeffekt alles besser wird.“
    Ich ignoriere diese Worte der Weisheit und beschleunige meinen Gang in Richtung des Busses, der mich nach Hause fahren wird. Ich wusste es: Sie hat sich in eines der Arschlöcher verwandelt. Dunkle Seite der Macht und so. Sie hat zugegeben, dass ich ein Hindernis für sie war. Oder? Naja, jedenfalls hörte es sich so an.

    Zuhause angekommen, ziehe ich mir erst „Straßen in Flammen“ und danach die Taiwan-Fassung von „Hardboiled“ rein (die, abgesehen von der beschissenen Bildqualität, tatsächlich irgendwie cooler ist als die Version, die mir bis heute bekannt war), um mich später bei Pizza und Bier mit dem Abendprogramm der deutschen Privatsender berieseln zu lassen. Um 22 Uhr entschließe ich mich dann dazu, erst den Post-It von der Kühlschranktür zu reißen, ihn zu zerknüllen und wegzuschmeißen und danach ins Bett zu gehen.

    Und heule mich in den Schlaf.
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    Füßezurück und so ist natürlich erwünscht

    Geändert von T.U.F.K.A.S. (28.06.2011 um 09:26 Uhr)

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