So. Hier nun Der nächste Teil von "Mid-Twen-Crisis"! Weee!
Achtung! Nicht unbedingt jugendfreier Inhalt voraus mit jeder Menge Profanität, Alkoholmissbrauch und Sex!
[font=Courier New]Als ich aus meinem vierstündigen Koma erwache, humpel ich über meine Klamottenstapel hinüber ins kleine Badezimmer. Duschen, gleichzeitig Zähneputzen und auf dem Lokus sitzen, danach rasieren und danach noch eine deftige Deo-Dusche mit Axe, Duftnote „Alaska“. Ich nicke mir selbst im Spiegel zu und betrachte mich kurz. Ich bin schmal – das sage ich zumindest immer, wenn man mich nach meiner Statur fragt - und 1,80 groß. Ein paar Körperpartien sind trainiert, weil ich ab und zu Kraftsport betreibe. Ab und zu ist hier zu verstehen als „im Monat zweimal, wenn ich dran denke“. Eine kleine, aber sichtbare Gemütlichkeitsplautze hat sich breitgemacht. Schlimm find ich das nicht. Das zeugt nur von... von... Es zeugt von irgendetwas Gutem, auf jeden Fall.
Ich ziehe mich langsam an, es ist 19 Uhr. Thomas' Zuhause erreiche ich nach maximal zehn Minuten Fußweg, von daher kann ich mir noch Zeit lassen. Die Welt um mich herum ist wieder farblich und konstrasttechnisch okay, denke ich. Ich habe keine Kopfschmerzen und Bauchkrämpfe mehr, allerdings ist mein kompletter Mundbereich total trocken. Ich arbeite dagegen an mit Labello und Lutschbonbons. Das wird helfen. So, jetzt noch eben ein Schlemmerfilet als Grundlage in den Ofen schmeißen. 20 Minuten reichen bei Umluft locker. Alles völlig unproblematisch soweit. Nachdem ich mich vor den Backofen auf einen kleinen, quietschenden Klappstuhl setze und eine Zigarette anzünde, denke ich nach. Wie komme ich bloß in diese Gesamtsituation, die alles andere als zufriedenstellend ist?
Abgesehen von meinem kaputten Verhältnis zu Sandra kann es auch an meinem Verhältnis zu der Arbeit liegen, die ich in den letzten drei Jahren gemacht habe. Insgesamt habe ich zwei Ausbildungen abgebrochen, und das auch nur, weil ich mich nicht ausgefüllt fühlte. Bei meiner ersten Ausbildung zum Bürokaufmann ging es. Ich hatte Arbeit in einem okayen mittelständischem Betrieb, hab' Akten sortiert, Kaffee für die Personalabteilung gekocht, Briefe verschickt, Versicherungen klargemacht. Ich lernte Thomas kennen, der bis heute einer meiner besten... Nein, mein einziger bester Freund ist, auch wenn ich ihn manchmal mies behandel. Alles war schön. Dann sagte mir diese eine •••••••• nach, ich hätte sie „sexuell attackiert“ (so drückte sie es zumindest aus), obwohl das totaler Bullshit war, was sie erzählte. Die tatsächliche Geschichte war, dass SIE MICH sexuell attackierte. Oft. Obwohl (oder vielleicht gerade WEIL) ich da bereits mit Sandra zusammen war. Die Anzeige gegen mich wegen sexueller Nötigung lief ins Leere, dennoch war mein Ruf im Arsch. Also brach ich die Ausbildung ab, als ich die bohrenden Blicke der Kollegen nicht mehr ertragen konnte.
Zum zweiten Betrieb kam ich dank Thomas' Kontakten. Speditionskaufmann, was im Prinzip das gleiche Geschisse ist wie Bürokaufmann, nur langweiliger und vor allen Dingen langweiliger. Dieser Job machte mich dümmer, je länger ich an meinem beschissenen Schreibtisch in meinem beschissenen Büro saß und für beschissene einfältige ••••••• beschissenen Kaffee kochte und beschissenen LKW-Fahrern ihre beschissenen Stunden abrechnete bis endlich meinen beschissenen Feierabend hatte und zurückkehren konnte zu meiner beschissenen Wohnung wo im besten Fall bereits meine wunderschöne Freundin auf mich wartete und mich vergessen ließ, dass ich in einer Welt voller eindimensionaler Arschgesichter lebte.
Die Kippe ist aufgeraucht und mein Ofen gibt ein lautes „PING!“ von sich, was mir signalisiert, dass mein Schlemmerfilet fertig ist. Ich schnappe mir einen dicken Backhandschuh, greife damit das Alublech mit dem Fisch drin und esse direkt daraus mit einer eben gerade organisierten Gabel. Ich schling' das Zeug runter und schau auf die Uhr: 19:40. Alles klar, ich geh' dann mal los.
Ich stopf meine Utensilien in die relativ neue schwarze Kik-Jeans mit zusätzlichen Seitentaschen auf Höhe der Oberschenkel, was ich sehr gut finde. Links oben Brieftasche, rechts oben das Handy, links an die Seite der Wohnungsschlüssel und rechts an die Seite Zigaretten und drei Feuerzeuge. Und ja, ich nehme immer mehr als ein Feuerzeug mit. Dann bist du wenigstens nicht ganz so aufgeschmissen, nachdem du im Suff deinen Feuerspender an den nächstbesten Typen/die nächstbeste Alte weitergegeben hast, der/die gerade nach Feuer gefragt hat und nach getanem Anzünden des Glimmstengels selbiges nicht zurückgibt. Ja ja, alles Taktik, Mädels und Jungs!
Der Weg aus der Wohnung, durchs Treppenhaus und hinaus an die frische Luft verläuft soweit relativ angenehm. Als ich aber an eben erwähnter Luft angekommen bin, wird mir ein bisschen schummrig. Ich schwanke ein wenig. Das ist wohl noch eine der Nachwehen meines Katers. Zwei Seitenstraßen, die neben ihren Fußwegen von zwanzig Meter hohen Hochhäusern (von derselben Bauart wie das, in welchem ich wohne) gesäumt sind, entlanggegangen, eine Kippe geraucht, zweimal den Brechreiz unterdrückt und schon stehe ich vor der Tür eines großen Wohnklotzes, der größer und wohnklotziger ist als jedes andere Hochhaus hier. Es ist grau und trist, hat aber immerhin ein paar Balkone und wenigstens ein funktionierendes Klingelbrett, im Gegensatz zu der Scheißhütte, in der ich wohne.
Hier wohnen knapp 30 Mieter mit und ohne Familie. Ich suche nach „Krautheim/Stolpen/Krewitzki“, der WG, in der Thomas (Stolpen) wohnt, und drücke nach dem erfolgreichen Finden des Namensschilds den metallischen Knopf daneben. Diese Aktion beantwortet das Klingelbrett mit einem lauten Geräusch, das sich anhört, als hätte jemand mit einer Vuvuzela in einen Telefonhörer getrötet. Ich erschrecke mich und gebe ein lautes „Heilige Scheiße!“ von mir. Es knackt wenig später im Klingelbrett und eine tiefe Frauen- beziehungsweise hohe Männerstimme (ist mir noch nicht hundertprozentig klar, wer da gerade an der Gegensprechanlage steht) antwortet:
„Jo?“
Ich überlege kurz. „Jo!“, antworte ich sinngemäß.
„Wer is'n da?“, kommt es postwendend zurück.
„Kumpel von Thomas.“
„Oh hi, Kumpel von Thomas.“
Ein paar Sekunden Stille später ringe ich mich zu einer sinnvollen Frage durch: „Machste mir jetzt auf, oder is' Quatsch?“
„Is' was?“
„Quatsch.“
„Is' Quatsch?“
Ich seufze. „Quatsch.“
Noch einmal zehn Sekunden Stille zwischen mir und Callboy/-girl. Langsam bin ich genervt.
„Machste jetzt auf?“, frage ich, mittlerweile mit einer etwas agressiven Tonlage.
„Oder is' Quatsch? Ha ha!“, kommt es schallend lachenderweise zurück.
„So!“, rufe ich, „Hör' mir zu du Kackstelze! Du machst jetzt...“, ich rüttel an der Tür, „... sofort...“, noch einmal Gerüttel an der Tür, „... diese beschissene Tür auf oder ich schwör' bei Gott, ich krabbel die verfickten Rohre hier hoch bis in den achten Stock und box dich ins Wachkoma du behind...“
Der Türsummer ertönt. Ich erstarre vor Freude (warum freue ich mich so überschwänglich über eine offene Tür?), renne hin und ziehe an der Tür, die sich immer noch weigert, sich öffnen zu lassen. Oh, da ist ein dickes fettes grünes Schild angebracht, auf dem „Drücken“ steht. Ich drücke also die Tür auf und renne bis in den achten Stock. Und nein, dieser Wohnklotz hat keinen Fahrstuhl.
Ich komme vor der Tür an. Hechelnd, schwer atmend, schwitzend, mies gelaunt drücke ich die Türklingel. Eine stoned aussehende Gestalt öffnet mir die Tür. Die Gestalt sieht aus wie ein Mann, der aussehen will wie ein Mädchen, das aussehen will wie ein Mann und sich deshalb einen Damenbart wachsen lässt. Hinzu kommen kurz geschorene Haare und ein Bob Marley-T-Shirt, das sowas ähnliches wie Titten erahnen lässt. Keine Ahnung. Die Tatsache, dass sich die Gestalt mit „Kyle“ oder „Kylie“ vorstellt (ich konnte nicht verstehen, welche der beiden Varianten das Ding mir versuchte, als seinen Namen zu vermitteln), macht die Spezifikation ihres Geschlechts nicht unbedingt einfacher. Ich lass es einfach.
„Moin.“, chillt es mir entgegen. Es ist die Stimme, mit der ich mich eben unterhalten habe.
„Hi.“, grüße ich zurück und reiche ihr/ihm die Hand. Er/Sie sieht hinunter auf meine ausgestreckte Hand, sieht mich an, stößt einen höhnischen Lachton aus und geht ins Zimmer zurück, aus dem er/sie kam.
„Asoziales Etwas.“, murmel ich unhörbar in meinen rasierten Bart und betrete Thomas' WG.
Die WG-Bude ist richtig schön abgefuckt. Man kommt hinein und steht auf einem vier Meter langen und anderthalb Meter breiten Flur, von dem vier Türen abgehen. Davon eine Tür zur Küche und eine zum Badezimmer. Drei Leute wohnen hier: Thomas, das hermaphrodite Dingsbums und eine ziemlich coole Frau namens Orla-Christiana, genannt Orla. Sie hasst ihre Eltern bis heute für ihren Vornamen und für die Gene, die ihr mitgegeben wurden: sie ist pummelig, unkreativ und könnte der langweiligste Mensch der Welt sein, wenn sie nicht jedes Wochenende mit ausreichend viel Alkohol gegen ihre eigenen Langweilier-Dämonen ankämpfen würde. Und das finde ich recht bemerkenswert, auch wenn sie wohl mit dieser Taktik in ein paar Jahren an Leberzirrhose draufgehen wird. Ein weiteres Plus hat Orla mit der Tatsache gepachtet, dass sie stolze Besitzerin eines extrem knuffigen, dicken, doofen Berner Sennenhundes ist, dessen Name mir bis heute unbekannt ist. Ich habe ihn öfter gehört, wie er durch die Bude gebrüllt wurde, aber irgendwieblieb der Name nie wirklich in meinem Gedächnis hängen.
Thomas wohnt in einem Zimmer, das von der Küche aus begehbar ist, während Orla und Kyl(i)e die anderen beiden Zimmer besetz... ich meine: bewohnen. Das heutige Sit-In findet in der Küche statt. Um einen runden Tisch stehen sechs Stühle, von denen fünf besetzt sind von Thomas, Kyle, Orla und zwei Mädels, die ich vorher noch nie gesehen habe. Der Berner Senner liegt relaxt vor Olras Füßen und schaut mich traurig an, als ich den Raum betrete. Mache ich mittlerweile selbst Hunde betroffen? Ich lass mich nicht beirren und betrete die Küche. „Moin.“, rufe ich in die Runde. Orla steht wie auf Kommando auf und umarmt mich herzhaft. Sie riecht aus dem Mund wie ein Iglu in Sibirien, hat wohl schon heute morgen angefangen zu tanken. Thomas steht ebenfalls auf und reicht mir die Hand. Wir schlagen ein, während ich „Na, alles klar?“ frage. Thomas entgegnet: „Passt schon, bin ein bisschen verkatert, aber sonst...“. Ich nicke zustimmend, weil es mir selbst immer noch nicht besonders gut geht.
Er deutet auf die beiden Mädels, die sonst noch am Tisch sitzen. Eine ist rothaarig, schlank und hat einen Schlafzimmerblick, der aus ihren schmalen, dunklen Augen auf mich einschießt. Die andere ist die Blondine aus dem Drafthouse, die ich nun endlich mal aus der Nähe betrachten kann. Sie ist nicht sehr schlank, aber auch nicht pummelig. Sie hat Kurven, soviel kann man sagen. Sie sieht nicht schlecht aus, von einem objektiven Standpunkt aus betrachtet. Ihre großen grünen Augen mustern mich von oben bis unten. Ich habe immer noch meine schwarze Winterjacke mit Fellkragen an, obwohl es im Raum mindestens 25 Grad Celsius warm ist.
„Danny, das ist Liliana.“, stellt er mir die Rothaarige vor, die mir die Hand schüttelt und mit einer etwas rauchigen Mezzosopran-Stimme ein „Hi, Danny.“ entgegenhaucht.
„Und das...“, ergänzt Thomas und deutet auf die Blondine, „... ist Charly.“
Ich winke ihr mit einem Lächeln auf den Zähnen zu und setze mich so schnell wie möglich neben Thomas, weil mich Liliana schon wieder mit geilen Blicken bombardiert und ich schon jetzt ein bisschen eingeschüchtert bin von der rothaarigen Bedrohung. Charly nimmt es allem Anschein nach gelassen und winkt zurück, während sie den Kopf ein wenig zur Seite neigt und grinst. Red Dawn flüstert ihr etwas ins Ohr und sieht mich wieder an, als wäre sie Roseanne und ich eine Tüte voller knackfrischer Nachos. Ich drehe mich zu Thomas und sage: „Charly ist aber nicht ihr richtiger Name, oder?“
„Nee.“, antwortet er knapp und reicht mir ein IKEA-Glas rüber. Havanna-Club-Rum und Cola in einer 50:50-Mischung. Happy Birthday to me. Ich nippe am Drink, zieh meine Jacke aus und hänge sie über die Rückenlehne, um danach meine Zigaretten aus der Innentasche zu fummeln. Kaum stecke ich mir eine Kippe an und habe mein Glas wieder in der Hand, da ertönt wieder die Raucherstimme von der anderen Seite des Tisches.
„Hey.“, sagt Liliana, die deutlich schon einen über den Durst getrunken hat in meiner Abwesenheit, „Bock, dich hierhin zu uns beiden hübschen zu setzen?“
Ich denke nach. Rechts neben mir sitzt Thomas und mischt Drinks für das dreckige halbe Dutzend. Links von mir sitzen Kyle und Orla und diskutieren darüber, ob es vom Gesetz her verboten ist, Wodka in einen Hundenapf zu kippen. Mir gegenüber sitzen zwei schöne Frauen, von denen mich eine in Gedanken schon gefressen zu haben scheint. Was ist das geringste Übel? Heute Nacht eventuell meinen unterforderten Schwanz in eine notgeile 18-Jährige zu schieben? Oder zu saufen bis ich umfalle? Oder das Saufen mit Quatschen zu verbinden? Oder soll ich den Hund vor der Depri- und der Öko-Braut retten und mit ihm aus dieser Stadt verschwinden?
Ich seufze leise, schaue an die Decke, schnappe daraufhin meinen Stuhl und meinen Drink und setze mich zwischen Liliana und Charly. Warum zum Teufel nicht? Was habe ich schon großartig zu verlieren in diesem Leben?
Drei oder vier (können auch zehn gewesen sein) 50:50-Mischen später bin ich um einiges redseliger und vergesse kurzzeitig, dass Liliana mittlerweile so nahe an meiner Seite sitzt, dass sich unsere Schultern die ganze Zeit berühren. Orla, Kyle und Thomas haben ihre Party in Thomas' Zimmer verlagert. Der Rest hat das irgendwie nicht mitbekommen, denke ich. Im Hintergrund läuft eine CD vom US-amerikanischen Folk-Musiker Ryan Adams und untermalt die gerade laufende Konversation perfekt:
„Mein Ex, dieser •••••••...“, lallt Liliana, ihren russischen Dialekt in den Vordergrund treten lassend, „... Er hat mich für's Leben versaut. Ich meine: Guck mich an!“
Sie steht auf und hebt ihr schwarzes Top hoch, sodass ich freie Sicht auf ihren Oberkörper habe. Das Wort „perfekt“ ist untertrieben. Sie arbeitet für diesen Körper hart, soweit ich es mitbekommen habe. Alles ist stramm: Vom Bauch über die Tailie bis hin zu den von einem schwarzen BH verdeckten C-Cup-Brüste. Charly schaut uns lächelnd zu, während sie entspannt an ihrem zweiten Drink diesen Abend nippt. Ich bin mittlerweile – nach dem Anblick von Lilianas perfektem Körper – umgestiegen auf Havanna Club und... naja, noch mehr Havanna Club. Die Cola ist leer. Und bevor ich Havanna Club mit Fanta oder Schwipp-Schwapp oder ähnlichem Zeug mische, muss schon einiges passieren.
Ich versuche, ihr ein unterschwelliges Kompliment zu machen. Stattdessen rutscht aus meinem besoffenen Mund nur ein „Boah, geil...!“, gefolgt von einem „Darf ich mal...?“. Sie nickt. Ich streichel mit meiner rechten Hand relativ zärtlich über ihren Bauch, wandere weiter zu ihrer Tailie, um irgendwann mit meinen von versauten Gedanken gelenkten Fingern kurz unter ihren Brüsten anzukommen. Ich grinse notgeil-debil und nehme mit links noch einen Schluck aus meinem Glas.
„Das entgeht dem blöden Vollidioten!“, pöbelt sie, trinkt ihr volles Glas auf Ex aus, schmeißt selbiges über ihre Schulter (es zerplatzt an der Wand neben Thomas' Zimmertür) und setzt sich auf meinen Schoß. „Würdest du dir das entgehen lassen?“
Ich schüttel den Kopf wie ein kleiner Junge, der verspricht, ein Geheimnis für sich zu bewahren und mit ins Grab zu nehmen. Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich ihr Gesicht näherkommen. Ich werde nervös. Was, wenn wir uns küssen und ich mich dabei anstelle wie ein Putzfisch auf Speed? Was, wenn ich meine Zunge zu schnell in ihren Mund schiebe und sie nicht will, dass der Mann zu schnell rangeht, auch wenn sie es tut und was, wenn...?
Zum Glück bin ich besoffen und denke nicht weiter darüber nach, während ich ihr einen Zungenkuss aufdrücke. Rate mal, wer heute Abend gevögelt nach Hause geht...
Dreißig Minuten, zwei Zungenküsse und eine halbe Flasche Wodka später: Laut Thomas wollen Orla und Kyle auf den Kiez. Charly stimmt stumm nickend zu. Liliana – die ich mittlerweile Lilly nennen darf – und ich sitzen eng umschlungen am Küchentisch und machen irgendwelche Bewegungen mit unseren Köpfen, die wohl ebenfalls als ein Nicken verstanden werden.
„Ab'r b'vor's l'sgehen tut...!“, brabbel ich halbverständlich und schiebe Lilly liebevoll von meinem Schoß runter. Sie sitzt jetzt wieder auf dem Stuhl neben mir, „Geht der Onk'l mal dick strull'n, oder is' Quatsch?“ Ich schiebe noch ein „Ha ha!“ hinterher und deute auf Kyle. Danach bahne ich mir, abwechselnd gegen die linke und rechte Wand des Flurs knallend und „To be young“ von Ryan Adams summend, taumelnderweise den Weg zum Klo. Witzigerweise folgt mir der Berner Sennenhund bis in die Toilette hinein und hockt sich hechelnd und mich treudoof anglotzend vor mich. Ich sitze auf der Schüssel, weil im Stehen pinkeln doch etwas riskant ist in meinem Zustand. Wir – also ich und der Berner Sennenhund – sehen uns gegenseitig tief in die Augen, bevor mich das Verlangen überkommt, mit ihm zu kommunizieren.
„Hund!“, schreie ich und strecke ihm den linken Zeigefinger entgegen. „Was meinst du? Wollen wir abhauen?“, ich deute ein paar Mal abwechselnd auf ihn und auf mich, „Ich und du und ich und du und wir beide gleichzeitig?“ Der Hund schaut zu Boden. Ey! Er soll mir erst einmal zuhören, bevor er meine Idee scheiße finden kann!
Ich brülle wieder: „Hund!“, ihm abermals den Zeigefinger vors Gesicht haltend. Ich führe aus: „Wäre doch geil! Road Trip durch ganz Europa, Slayer hören, ein paar Leute erschießen! Die geile Russin nehmen wir auch mit!“ Er schaut mich mit einem dermaßen hirnwasser-absenkenden Blick an, dass ich mich von einer Sekunde auf die nächste noch besoffener fühle als ich es bereits bin. Meine Gedanken fangen sich allerdings wieder.
„Ich weiß, das klingt voll verrückt und so, aber: Lass mal machen! Das wird super special geil, Alter!“
Der Hund blickt zur Tür hinaus. Auf mein kommandierendes „Hund!“ hört er nicht. Er rennt hinaus. Dafür: Auftritt Oberlehrer Thomas.
Er sieht mich an und stöhnt nur. „Was machst du da, Danny?“
„Schon wieder dieser Pädo... philenton.“, sage ich und korrigiere mich, vehement den Kopf schüttelnd: „Sorry, Pädagogenton.“
„Was zum Teufel...?“, sagt Thomas entsetzt und entreißt meiner rechten Hand die Wodkaflasche, die ich vorhin noch mit Liliput zur Hälfte ausgetrunken hatte. Nun: Sie ist leer. Wie oder wann das passiert ist... Keine Ahnung.
Thomas schaut mich mit einem wütenden Blick an, während ich schulternzuckend auf dem Lokus sitze und ihn planlos ansehe. „Die hier...?“, er deutet auf die leere Flasche, „... Du alleine?“
„Naja...“, versuche ich, mich rauszureden. Aber Thomas ist schneller.
„Bist du jetzt völlig durchgeknallt? Weißt du überhaupt noch, was du tust?“
„Halt's Maul!“, schreie ich und falle dabei fast nach vorne hin von der Kloschüssel. Thomas hält mich fest und ich sitze wieder gerade auf meinem Porzellanthron. „Ich bin schwer depressiv! Ich darf das! Lass mich in Ruhe!“
„Du bist höchstens hirnamputiert.“, murmelt Thomas, während er sich halb von mir wegdreht.
Lilly, die nun auch in der Tür steht, sieht mich jämmerlichen Misthaufen an, als wäre ich ein tschetschenischer Terrorist. Sie ist in St. Petersburg geboren. Keine Ahnung, wie ich in diesem Moment darauf komme. Es ist wohl nur ein positiver Gedanke, der mich davon abhalten soll, allzu besoffen auf mich selbst zu wirken. Sie verschwindet nach rechts aus dem Bild und Thomas und ich sind wieder alleine.
Ich stehe auf und ziehe mir langsam und ungeschickt die Hosen hoch. Im Verlauf dessen fange ich wieder an zu pöbeln.
„Ich und Hund hatten gerade eine Unterhaltung über meinen sogenannten Freundeskreis.“, murmel ich und verschließe den Reißverschluss meiner Hose, „Und wir sind zu dem Schluss gekommen...“, ich fummel mir eine Zigarette aus der linken Hosentasche, welche mir prompt ins Klo fällt, „... dass ihr alle wie ihr hier und nicht hier seid...“, ich versuche, eine weitere Zigarette aus der Hosentasche zu popeln, „... mich ABGRUNDTIEF HASST!“.
Die letzten drei Worte stoße ich heraus wie eine Schrotflinte. Mein rechter Zeigefinger ist direkt vor Thomas' Gesicht. Links habe ich plötzlich eine Kippe in der Hand.
„Wie kommst du darauf?“, fragt Thomas mit einem skeptischen Blick.
Ich muss ein paar Sekunden nachdenken, bevor ich endlich eine Antwort habe: „Weil mich nur zwei Personen auf dieser Welt verstehen: Mein Schwanz und...“ (wie hieß der Köter noch gleich? Egal.) „Hund.“
„Du meinst Hündin.“
„Nee, das ist meine Ex.“, entgegne ich im verbitterten Ton.
„Oh mein Gott...“, sagt's und schaut genervt an die gekachelte Decke.
„Der hilft mir nicht mehr. Das Arschloch hat mich längst aufgegeben.“
Ich wanke langsam an Thomas vorbei. Plötzlich bin ich wie ausgetauscht. Ich habe Bock, zu feiern, zu saufen, zu ficken, zu leben. Oder zumindest insofern zu leben, wie ich und meine Freunde (die mich alle hassen) es praktizieren. Ich will meine Leber abtöten mit gepanschtem Alkohol und beschissenen Drogen und will Sex mit einem Haufen Weibern. Das fällt doch unter die Kategorie „Party“, oder?
Ich drehe mich um, ein breites Grinsen auf dem Gesicht, und sage „Ey, Mann. Tut mir leid, Mann.“ Ich meine es nicht so. Ich will nur nicht die gute Stimmung versauen.
Thomas nickt, sich selbst augenscheinlich eine zustimmende Geste abfordernd.
„Aber...“, fange ich an und drängel mich im engen Bad wieder an Thomas vorbei, „... Lässt mich erst einmal zu Ende pinkeln?“
Thomas nickt stumm und schließt die Tür hinter sich, als er das Bad verlässt. Ich habe bereits gepinkelt. Ich muss aber noch etwas erledigen, bevor es losgeht. Ich ziehe mein Handy aus der rechten Hosentasche und rufe mal wieder meine Ex an.
Klingeln.
Mobilbox.
Auflegen.
Ausatmen.
Aufstehen.
Vor die Schüssel hocken und kotzen.
Endlich die Kippe anstecken, die seit geraumer Zeit in meiner Hand ist.
Sich fühlen wie ein erbärmliches Etwas.
An die geile Russin denken.
Suff-Selbstvertrauen erlangen und erhobenen Hauptes und mit gewaschenem Gesicht und Gebiss aus dem Klo kommen.
„Party!“ schreien, Lilly auf den Arsch hauen und Charly zuzwinkern.
Sich innerlich beschissen fühlen.
Sich dennoch gehen lassen.
Scheiß Vorglühen.
Scheiß sinnlose Parties.
Egal.
„Gut“ fühlen.
Zumindest so tun als ob.
Wir sind innerhalb von dreißig Minuten, die mir vorkommen wie fünf, auf dem Kiez. Bunte Lichter und Gesabbel verschiedenster Personen in den verschiedensten Zuständen prasseln von allen Seiten auf meine schon so mit Lillys Lebensgeschichte überforderten Sinne ein.
„Deutschland ist total anders als Russland.“, erzählt sie, „Voll steif teilweise. Ihr seid aber derbe locker wenn ihr Party macht.“
Ich nicke zustimmend.
„Was machst du eigentlich so?“, fragt sie.
Weil ich nicht wie ein Depp wirken möchte, der einfach keinen Ausbildungsplatz findet seit geraumer Zeit, sage ich: „Bürokaufmann. Mach' aber gerade Home Office.“
Sie schaut mich mit großen Augen an und neigt den Kopf ein wenig nach hinten. „Cool.“, sagt sie knapp und wir spazieren Händchen haltend die Reeperbahn hinunter, bis wir zur Großen Freiheit kommen. Eine Straße, die noch bunter beleuchtet und noch lauter ist als andere Nebenstraßen der Reeperbahn. Stripclubs und Diskos aller Art mit Musik aller Art tummeln sich auf ungefähr 700 Meter Länge und werben jeweils für sich mit Leuchtreklamen und Animateur-ähnlichen Honks, die – Helli Hansen-Jacken und Caps tragend – einem ins Blickfeld hüpfen und Gutscheine in die Hand drücken, die man so oder so nicht einlösen wird diesen Abend.
Eine unbestimmte Zeit später sitze ich mit Charly in der Raucherlounge der Großen Freiheit 36. Im Hintergrund läuft ekelerregende Elektro-Dance-Pop-Scheiße, für die sich selbst die Black Eyed Peas zu schade wären. Lilly ist irgendwo inmitten der Menschenmasse, die ihre Körper zu den Rythmen der „Musik“ bewegen. „Tanzen“ würde ich es nicht unbedingt nennen. Ich bin mittlerweile auf Bier umgestiegen, weil mich Rum und ähnliches Zeug träge machen würde. Mit Charly habe ich noch kein Wort gewechselt. Noch bevor ich etwas sagen kann, wendet sie sich mir zu und zieht mich näher an sich heran, um mir einen kurzen, aber intensiven Kuss aufzudrücken. Ich sehe sie zunächst perplex an, nehme einen Schluck aus meiner Bierflasche und frage dann: „Wofür war der jetzt?“
„Einfach so.“, sagt sie mit den Schultern zuckend und hebt ihr Glas an, um mit mir anzustoßen.
Es klirrt und wir nehmen jeder einen Schluck von unseren Getränken.
„Ich bin immer gespannt, wie Kerle reagieren bei solchen Aktionen, die aus dem Nichts kommen.“, erklärt sie mir ihren Spontankuss.
„Und? Wie habe ich mich geschlagen?“, frage ich interessiert.
„Ging.“, antwortet sie knapp und nippt an ihrem Getränk. Ich glaube, es ist Wodka mit Red Bull. Sicher bin ich mir aber nicht.
„Ging?“
„Ging.“ Sie lächelt übers gesamte Gesicht.
„Thomas meinte, dass du mir letztens hinterher gerannt wärst...?“, fang ich nach kurzer Pause an, die gesprächlichen Zügel in die Hand zu nehmen und zünde mir meine erste Zigarette seit meinem Toiletten-Zwischenfall an.
„Naja, 'hinterher gerannt' ist etwas übertrieben.“, entgegnet sie, ebenfalls eine Kippe anzündend, „Ich bin dir kurz gefolgt bis kurz vors Drafthouse. Danach hatte ich dich in der Menschenmasse verloren.“
Ich nickte. „Warum?“
„Warum was?“
„Warum mir folgen?“
„Ich weiß nicht.“, sie pausiert und zieht an ihrer Zigarette, „Ich treffe soviele Typen. Und sie sind alle ihrer Sache total sicher. Wissen was los ist. Aber hinter dieser Fassade...“, sie zieht noch einmal an der Ziese und atmet blauen Dunst in mein Gesicht, „Sorry. Ähm...“, sie überlegt kurz, „Ach ja: Hinter der Fassade sind sie unsicher, depressiv, mega-theatralisch. Sie würden aber niemals zugeben, dass sie sich scheiße fühlen.“
Jetzt sieht sie mich mit einem dermaßen eindringlichen Blick an, dass ich mich ertappt fühle. Dabei weiß ich nicht einmal, wobei sie mich ertappt hat.
„Aber du... Du lebst das 'Sich scheiße fühlen' richtig. Auch nach außen hin. Du fühlst dich beschissen und machst keinen Hehl daraus. Und das ist selten, obwohl es soviele von deiner Sorte gibt.“
„Woher willst du wissen, dass ich mich scheiße fühle?“
„'Ich mach Home Office!'“, äfft sie mich nach, „Ist doch bloß ein Synonym für 'Arbeitslos', oder?“
Ich nicke resignierend.
„Siehste. Ich will dich ja nicht runtermachen oder so: Aber wenn du dich so beschissen fühlst, dann tu auch was dagegen. Tu was Verrücktes, was Wahnsinniges, was Spezielles, einfach um diesen Hobby-Depressions-Mist endlich loszuwerden.“
Ich nehme noch einen Schluck aus der Bierflasche und möchte gerade ansetzen, um mich zu verteidigen. Meine Ex, meine Arbeitgeber bis jetzt, die Behörden, die Wirtschaft, der Alkohol...
„Nein, jetzt erzählst du mir nichts.“, unterbindet sie meinen halbherzigen Versuch, „Jetzt zählt der Moment. Und im Moment bist du auf die Pussy meiner Freundin scharf.“
Ich spucke fast meinen Schluck Bier wieder aus, zaudere kurz, nicke dann aber doch.
„Na dann los. Sonst macht sie der Typ da klar, der gerade mit ihr tanzt.“, sagt's und deutet auf Lilly, die von einem Schmierlappen angetanzt wird, der mit seinem hochgestellten Polohemdkragen, seiner Schmalzfrisur und seiner Solariumbräune aussieht wie eine Mixtur aus John Travolta in „Grease“ und einem Klischee-Italiener. Ich sehe Charly tief in die Augen, exe mein Bier weg und verschwinde in Richtung Tanzfläche.
Moment, was zum Teufel ist gerade passiert? Was tu ich hier gerade? Während ich mich das frage, sind meine Hände an Lillys Arschbacken, mein Gehirn außer Betrieb und einige Zeit später, die mir wie eine Minute vorkommt, bin ich in einer fremden Wohnung. Eine nackte rothaarige Schönheit stöhnt mir ins Ohr, während ich auf ihr liege und nicht mit ihr schlafe, sondern sie ficke. Zwischen „mit jemandem schlafen“ und „jemanden ficken“ gibt’s einen Unterschied: Wir lieben uns nicht. Wir sind besoffen und haben jegliches Verantwortungsgefühl bereits in Thomas' WG-Wohnung zum symbolischen Fenster hinausgeschmissen. Es ist so, als wären wir auf einem brennenden Wikingerschiff und das hier wäre die letzte Aussicht für uns, noch einmal richtig Spaß zu haben. Ich ziehe das komplette Programm durch: Ich beiße ihr in den Hals, ziehe ihr etwas an den Haaren, drehe sie so, wie ich sie gerade haben möchte und habe mit ihr eine Stunde lang den Sex meines Lebens. Als ich komme, ist es, als würde ich in allen Frauen dieser Welt gleichzeitig abspritzen. Abgesehen von meiner Ex. Sie würde nichts merken, gar nichts. All das würde ihr verwehrt bleiben. Ich wünsche ihr fürs Leben schlechten Sex und hässliche Kinder. Aber genug von ihr. Ich bin auf diesen Moment fixiert.
Erschöpft liege ich neben Lilly, die erleichtert ausatmet und allem Anschein nach wieder Herrin ihrer Sinne ist. Denn sie sieht mich an und sagt nichts. Stattdessen dreht sie sich auf die andere Seite, wendet sich somit schlicht und einfach von mir ab und sagt: „Wenn du gehst, sagst du kurz bescheid, okay?“
Ich bejahe leise und wage es nicht, mich an sie zu kuscheln. Ich fühle mich plötzlich so fehl am Platz wie Malcom X auf einem Ku-Klux-Klan-Treffen. Erst hatte ich gedacht, das hier wäre die beste Sache aller Zeiten. Aber nun ist es gar nicht mehr so grandios wie anfangs gedacht. Ich drehe mich von ihr weg und schlafe eine gefühlte Stunde später den Schlaf der Ungerechten.[/font]