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Abenteurer
3. Kapitel: Der Sinn meines Lebens
Ich stand leicht neben mir, als ich zurück am Treffpunkt an der Bushaltestelle stand. Langsam trödelten die Schüler ein. Rasch zählte ich sie durch, ohne sie genau anzusehen. Ich wollte Yukis Blick nicht begegnen.
Dreiundzwanzig.
Ich verzog das Gesicht. Dann eben auf ein Neues. Aber auch beim zweiten Durchgang kam ich auf dieselbe Zahl. Zwei Schüler fehlten.
„Vermisst jemand seinen Partner? Seinen Banknachbar? Gruppenmitglieder?“, fragte ich genervt. Das hat mir gerade noch gefehlt. Den beiden konnte sonst etwas passiert sein.
Niemand meldete sich. Ratlose Blicke spähten in die Runde.
„Erzählt mir nicht, ihr …“ Ich stockte. Yuki fehlte. Yuki und Ekomi.
„Hat irgendjemand Yuki und Ekomi gesehen?“ Ich ließ meinen Blick übers Gelände schweifen. „Sie dürfen doch gar nicht zu zweit unterwegs sein. War einer von euch bei ihnen dabei?“
„Nein, Herr Orei. Sie wollten sich keiner Gruppe anschließen. Typisch eigenbrötlerische Zicken eben“, erwiderte einer der Jungs schulterzuckend.
Ich seufzte. Na wunderbar. Der Bus war bereits vorgefahren. Der Fahrer sah mich fragend an.
„Takamaru, du bist Klassensprecher. Sorg dafür, dass alle in der Schule ankommen und einigermaßen Ruhe im Bus herrscht.“
Der Junge nickte. „Und was machen Sie?“
„Ich werde die beiden suchen und später mit dem Zug zurück fahren. Wir werden zwar einige Male umsteigen müssen, aber das klappt schon irgendwie.“ Ich scheuchte meine Klasse noch schnell in den Bus, erklärte dem Fahrer, was los war, und sah ihnen noch kurz hinterher, bevor ich mich wieder dem Park zuwandte. Hoffentlich stellten die beiden keinen Unsinn an.
Ich suchte in sämtlichen Restaurants und Cafés, die auf der Karte des Parks eingezeichnet waren. Ich fragte alle Leute, die mir begegneten. Aber niemand hatte die Mädchen gesehen.
Ich wollte gerade eine alte Frau ansprechen, die mir Ekomi entgegengestolpert kam. Sie trug ihre High heels in den Händen und rannte barfuss auf mich zu. Sie war völlig aufgelöst.
„Um Himmels Willen, was ist passiert?“, fragte ich sie erschrocken, als sie mir direkt in die Arme lief. „Wo steckt Yuki?“
„Was haben Sie mit ihr gemacht? Was haben Sie zu ihr gesagt?“, fragte sie mich weinend und prügelte mit ihren Schuhen auf meine Brust ein.
„Ganz ruhig, tief durchatmen.“ Ich schluckte. Ich ahnte nichts Gutes.
„Sie dreht auf einmal völlig durch“, fuhr Ekomi schluchzend fort.
„Wo ist sie?“ Ich rüttelte sie vorsichtig, als sie mir nicht antwortete. „Ekomi, bitte. Wir müssen ihr helfen. Wo ist sie?“, wiederholte ich meine Frage.
Meine Schülerin deutete wortlos den Weg hinauf, den sie eben herunter gerannt war. Sie war sichtbar mit den Nerven am Ende.
„In Ordnung“, entgegnete ich nervös. Mehr war aus ihr definitiv nicht herauszubekommen. „Du gehst jetzt zurück zum Treffpunkt und wartest dort auf mich, hast du mich verstanden?“, fragte ich sie ernst. „Die anderen sind schon gefahren, wir nehmen später den Zug. Ich bin bald wieder da.“
Sie nickte immer noch weinend.
Ich zögerte keine Sekunde länger, sondern hastete den Hang hinauf. Der Weg führte immer weiter nach oben und einen Moment lang kam mir der absurde Gedanke, wie es die Oma von vorhin so weit geschafft hatte.
Ich stolperte mehr, als dass ich vorwärts kam. Überall ragten große Wurzeln aus der Erde und ich nahm mir nicht die Zeit, den Boden vor mir nach Hindernissen abzusuchen. Mein Blick schweifte durch das Gelände, ich suchte nach Yuki. Aber ich konnte sie nirgendwo entdecken.
Ungefähr bei der Hälfte des Berges ging mir allmählich die Puste aus. Der Weg wurde immer steiler und obwohl meine Kondition nicht allzu schlecht war, musste man schon Goldmedaillengewinner im Ausdauerlauf sein, um die Strecke zu schaffen. Aber irgendwann war ich endlich oben angelangt.
Auf einer Lichtung des sonst mit Bäumen bewachsenen Hügels stand die Ruine einer Kirche. Sie war bis auf ihre Grundmauern zerstört worden. Eine Bank für atemlose Wanderer stand davor, aber ich hatte jetzt keine Zeit, mich zu setzen.
Ich ging um die Überreste der Kirche herum, hinein, kletterte hinauf, aber ich fand Yuki nicht. Zumindest nicht gleich. Erst als ich zu meinem Ausgangspunkt bei der Bank zurückkehrte, entdeckte ich sie endlich.
Sie stand mit dem Rücken zu mir hinter den Ästen eines großen Baumes versteckt an einem Aussichtspunkt. Neben ihr war eines der Teleskope für Touristen, mit denen man den Ausblick noch besser genießen konnte, wenn man Geld dabeihatte.
Bedächtig trat ich an sie heran. „Yuki?“
„Ich wusste, dass Sie kommen.“ Ihre Stimme klang gefasst und als sie sich zu mir umdrehte, sah sie mich normal an.
Ich seufzte erleichtert. „Bin ich froh, dich zu finden. Die anderen sind schon gefahren. Was hast du dir dabei gedacht? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“
„Es freut mich, dass Sie Ihre Pflichten so gewissenhaft erfüllen wollen. Aber ich werde nicht mit Ihnen nach hause kommen.“ Yuki lächelte. Es wirkte nicht freundlich, sondern süffisant.
Ich zog eine Augenbraue hoch. „Das kann ich leider nicht zulassen. Komm, wir gehen. Ekomi wartet schon. Du hast ihr mit irgendetwas einen furchtbaren Schrecken eingejagt, weißt du das? Das nenne ich wahre Freundschaft.“
Ich drehte mich um und ging einen Schritt, merkte aber, dass sie mir nicht folgte. Ich seufzte noch einmal. „Yuki …“ Ich wandte mich wieder ihr zu und erschrak.
Sie stand dicht über dem Abgrund, auf der anderen Seite des schützenden Geländers. „Ich werde nicht mitkommen. Für mich gibt es nur eines im Leben, was zählt. Und das sind Sie.“
„Mach keinen Unsinn, Yuki!“ Ich näherte mich ihr vorsichtig. Jetzt drehte sie eindeutig durch. Aber die Vorstellung, dass sie sich umbrachte, schmerzte mich sehr.
Viel zu sehr.
Sehr viel sehr zu sehr.
„Bleiben Sie stehen“, erwiderte sie ruhig. Ihre hellbraunen Locken wehten sanft im Wind, als sie sich halb zu mir umdrehte. „Es schmerzt mich zu sehr, Sie zu lieben. Aber der Schmerz ist zu süß, um diese Liebe zu begraben. Ich halte es nicht länger aus.“ Yuki sprach normal, so normal, als würde sie übers Wetter reden. „Ich brauche Sie nämlich auch. Diese Miara ahnt wahrscheinlich gar nicht, wie viel Glück sie mit einem Menschen wie Ihnen an der Seite hat. Ich beineide sie mehr als alles andere.“ Fast unmerklich bewegte sie sich weiter zum Abgrund.
„Miara. Sie bedeutet mir viel.“ Ich schloss die Augen. „Aber ich liebe sie nicht, Yuki. Ich habe sie einmal geliebt, vor dem Unfall, der sie völlig verändert hat. Bei deinem Kuss vorhin…“ Ich merkte, wie mein Herz schmerzhaft klopfte. „Ich fürchte … Ich glaube … ich habe mich in dich verliebt.“
Sie lächelte sanft. „Es ist schön, dass Sie das sagen. Auch wenn ich weiß, dass es gelogen ist.“
„Nein, es ist … YUKI!!!“
Sie ließ sich einfach fallen. Es kam mir vor, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ihre Locken umspielten ihre Figur wie ein Schleier. Yuki hatte die Augen geschlossen und verschwand über dem Rand des Abgrundes aus meinem Sichtfeld.
***
Als ich nach hause kam, wartete Miara schon auf mich. Sie fragte mich wie immer, wie mein Tag gewesen sei und was es heute leckeres zu Essen gäbe. Ich gab ihr wie immer einen Kuss und verzog mich in die Küche. Wie immer.
In den nächsten Tagen hatte ich einiges mit den Behörden und der Polizei zu klären. Ich blieb bei der Wahrheit, aber ich erzählte ihnen nicht alles. Nachdem sich der Rummel wieder gelegt und die Sache als Unfall abgetan worden war, kündigte ich meinen Platz bei der Schule und zog fort.
Yuki überlebte den Sturz knapp. Ich erfuhr, dass sie in ein örtliches Krankenhaus eingeliefert worden war und dort behandelt wurde.
Hinter mir schlug die Autotür ins Schloss. Gegen die Sonne blinzelnd betrachtete ich das hoch in den klaren Himmel aufragende Gebäude. Nur mühsam hatte ich mich dazu durchringen können, sie zu besuchen. Und auch jetzt kostete mich jeder Schritt in Richtung des Eingangsportals mehr Überwindung als alles zuvor.
Bevor ich das Innere des Hospitals betrat, zögerte ich lange. Menschen hasteten oder schlenderten an mir vorbei, alleine oder zusammen, stumm oder fröhlich plaudernd. Mein Blick wurde leer.
Wenn ich ihr jetzt unter die Augen trat, würde es die langsam verheilenden Wunden wieder aufreißen. Nicht die körperlichen, sondern die in Yukis Herzen. Ich hatte verstanden, dass es ihr ernst war. Aber ich hatte sie angelogen. Lange hatte ich in den letzten Tagen über meine Gefühle nachgegrübelt, hatte nachts kaum Schlaf gefunden. Ich liebte sie nicht. Yuki war mir als meine – ehemalige – Schülerin sehr wichtig. Ich konnte ruhigen Gewissens behaupten, sie sehr gerne zu mögen. Aber Liebe war etwas gänzlich anderes.
Von einer größeren Gruppe Passanten wurde ich durch die Tür geschoben. Ehe ich mich versah, blickte mich die Frau vom Empfang erwartungsvoll an.
„Möchten Sie jemanden besuchen?“, fragte sie mich höflich.
Ich brachte kein Wort hervor, sondern starrte sie lediglich unwillkürlich verständnislos an.
„Mit wem möchten Sie sprechen“, fragte sie noch einmal eindringlich, während ihre Augenbrauen nach oben wanderten.
„Mit …“
„Ja?“
„,… niemandem.“ Ich senkte den Blick und wandte mich zum Gehen. „Entschuldigen Sie, dass ich sie aufgehalten habe.“
Ich war ein Feigling, ein schrecklicher Feigling. Aber ich konnte es nicht. Nach all dem, was zwischen uns geschehen war, konnte ich ihr einfach nicht mehr in die Augen sehen.
Ich weiß nicht, was aus Yuki geworden ist.
Ich habe seitdem nie wieder etwas von ihr gehört.
*Ende*
Geändert von Loriander (26.06.2010 um 17:25 Uhr)
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