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Thema: Der Sinn meines Lebens

Hybrid-Darstellung

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  1. #1
    2. Kapitel: Liebeserklärung unter Prüfungsdruck


    Ich fühlte mich beobachtet.
    Ein leiser Seufzer entfuhr mir, während ich versuchte, halbwegs vernünftige Tafelanschriften zusammenzubekommen. Aber das war leichter gesagt als getan, wenn eine gewisse Schülerin einem durchgehend die Blicke in den Rücken bohrt.

    Endlich kam der erlösende Punkt und der Satz war angeschrieben. Ich konnte mich wieder umdrehen. Niemand ließ mir sonderliche Beachtung zukommen. Zwei aus der hinteren Reihe tratschten wieder, anstatt den Bericht von der Tafel in ihr Heft zu übertragen, ein anderer sah gelangweilt aus dem Fenster.
    Nur sie sah mich an. Ich warf ihr einen gleichgültigen Blick zu und nahm einen Stapel Blätter zur Hand, den ich auf dem Lehrerpult abgelegt hatte.
    „Seid ihr alle fertig?“, fragte ich beiläufig. Der ein oder andere nickte, andere reagierten überhaupt nicht.

    Ich musste lächeln. Gleich war es aus mit der Langeweile. „Gut, dann rutscht eure Tische auseinander und lasst alles, was auch nur im Entferntesten mit dem Unterricht zu tun hat, in eure Taschen verschwinden. Wir schreiben eine Arbeit.“
    Es dauerte keine Sekunde, bis das erste Murren erklang. Ekomi stöhnte auf.
    „Herr Orei! Das können Sie uns doch nicht antun!“
    „Du siehst doch, dass ich es kann. Shima, es bringt nichts, sich einen Spickzettel zu schreiben. Du erleichterst mir damit nur die Arbeit, deinen Bogen zu korrigieren.“

    Als nun endlich jeder außer Reichweite des Nachbarn saß, teilte ich die Arbeiten aus. Danach setzte ich mich ans Lehrerpult und beobachtete meine Schüler, wie sie sich mit den Aufgaben auseinander setzten, die ich ihnen stellte. Dabei fing ich erneut Yukis Blick auf, der zumindest jetzt lieber auf ihren zu bearbeitenden Blättern sein sollte.
    „Fräulein Kobaya, ich weiß, dass ich gut aussehe. Aber das heißt noch lange nicht, dass du mich die ganze Zeit anstarren musst. Oder erhoffst du daraus, dass dir die Lösungen zuflattern?“
    Die Röte schoss in ihr Gesicht und sie beugte sich rasch wieder über ihr Blatt. Scheinbar hatte sie es gar nicht bemerkt, dass sie mich beobachtet hatte.

    Nach einiger Zeit erklang der Schulgong und mit wenigen Sekunden verzweifelter Verzögerung standen die Schüler auf und brachten ihre Arbeiten zu mir.
    „Auf Wiedersehen. Und denkt daran, dass wir morgen den Ausflug in den Park haben. Zieht euch feste Schuhe an.“
    „Tz, meine Schuhe sind immer fest.“ Ekomi drückte mir schlecht gelaunt über die unangekündigte Prüfung ihre Blätter in die Hand und verwies auf ihre mindestens zehn Zentimeter langen Absätze.
    Ich verdrehte die Augen. „Tu, was du nicht lassen kannst. Aber am Abend brauchst du dich nicht bei mir beschweren!“

    Yuki war die letzte, die sich im Klassenzimmer befand. Ich ahnte schon, was wieder kommen würde und wappnete mich innerlich vor einem neuen Schwall an Liebesbekundungen und Schwärmereien. Aber sie übergab mir lediglich wie ihre Mitschüler vor ihr ihre Arbeit und ging ohne ein weiteres Wort.
    Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich ihr hinterher. Wahrscheinlich hatten ihr die Aufgaben nicht gefallen, die ich mir für meine Klasse ausgedacht hatte.

    Ich nahm mir die Zeit, kurz ans Fenster zu treten und auf den Schulhof hinab zusehen. Die Glücklichen. Während sie schon nach hause durften, hatte ich noch einen Berg an Prüfungen zu korrigieren, ehe ich auch nur an eine Heimfahrt denken konnte.
    Ich holte mir noch schnell einen Kaffee und setzte mich wieder an meinen Platz. Ich hätte auch ins Lehrerzimmer gehen können, aber einige meiner Kollegen – vor allem der weibliche Teil davon – nutze den frühen Feierabend noch gerne für einen mehr oder wenige kurzen Tratsch, was mich nur stören würde. Deswegen blieb ich lieber gleich in meinem Klassenzimmer und sparte mir dadurch sicherlich einiges an Zeit.
    Ich kämpfte mich durch eine Arbeit nach der anderen, teilweise erfreut über das überraschend gute Ergebnis, bei anderen verzweifelt über die weitere schlechte Note, die sich zu ihrem Repertoire gesellte.

    Yukis Bogen kam als letzter.
    Ich stutzte. Statt der mathematischen Formeln und den Zeichnungen der Trigonometrie stand nur ein langer Text darauf. Ich zögerte kurz, aber dann begann ich zu lesen.

    ‚Meine Freundinnen fragen mich oft, warum ich in Sie verliebt bin. Vielleicht ist es das verbotene einer solchen Beziehung, vielleicht Ihr gutes Aussehen, vielleicht Ihr Charme und das Verständnis, das Sie Ihren Schülern im Gegensatz zu vielen anderen Lehrern aufbringen. Aber das glaube ich nicht.

    Ich habe Sie beobachtet. Stunde um Stunde um Stunde. Seitdem Sie damals gekommen sind. Sie sind tollpatschig, manchmal schüchtern, mal frech … Sie sind ein Schussel und Sie haben manchmal – abgesehen von Ihrer geliebten Mathematik natürlich – von nichts eine Ahnung. Aber Sie stehen dazu und verstellen sich nicht. Ich kann mir vorstellen, dass ich Ihnen nur wie eine lästige kleine Schülerin vorkomme, eine von vielen, die Sie anhimmelt. Aber Sie bedeuten mir wirklich viel. Ich liebe Sie von ganzem Herzen und wünsche mir nichts mehr, als dass ich auch einmal … irgendwann einmal … zu einem Teil ihres Herzens werde.’

    Stutzig starrte ich auf das Blatt vor mir. Das war mir noch nie passiert. Sicherlich konnte man nicht leugnen, dass ich nicht schlecht aussah, und es hatten auch schon viele meiner Schülerinnen für mich geschwärmt. Aber sie haben mehr einen Sport daraus gemacht, zu versuchen, mir ihre Liebesbriefe unterzuschmuggeln. Doch noch nie hatte mir eine offen ihre Liebe gestanden oder gar eine Prüfung dafür versaut, nur um mir einen Brief zu schreiben.

    Ich schüttelte den Kopf. Wohin sollte das nur führen?

    ***

    Am nächsten Tag teilte ich wortlos die korrigierte Arbeit aus. Ich fragte mich, wie Yuki darauf reagieren würde, aber zu meiner Überraschung nahm sie die Blätter ebenso wortlos entgegen und sagte nichts dazu.
    Ich hatte lediglich zwei Zeichen darauf gemacht, meine krakelige Unterschrift und eine Sechs. Etwas Besseres konnte ich ihr darauf nicht geben, so Leid es mir tat. Eigentlich war sie eine recht gute Schülerin in Mathematik, aber scheinbar tat ihr die Schwärmerei zu mir überhaupt nicht gut.
    Und es war nichts anderes als eine Schwärmerei, ich blieb dabei. Aus welchen Gründen sollte man einen so viel älteren Mann lieben?

    Ich hatte wirklich die Hoffnung, nach dieser Ernüchterung hätte sie es aufgegeben, dieses Spiel (oder was auch immer es für sie war) weiterzuspielen. Aber schon als ich meine Klasse in den Bus gescheucht hatte, der uns zum Park bringen sollte, ging es wieder los.
    Ich ging gerade ganz munter und unbeschwert durch die Reihen der tratschenden Schüler, um sie abzuzählen. Es wäre nicht besonders gut für mich, wenn ich schon am Anfang des sehr stressig werdenden Tages einen von ihnen aus den Augen verlieren sollte.

    Als ich an Yuki vorbeikam, lächelte sie mich wie eh und je fröhlich an.
    „Herr Orei, ich stehe auf Sie! Wollen wir den Tag nicht für ein Date nutzen?“
    „Siebzehn“, zählte ich trocken auf sie deutend weiter, ohne auf ihre Worte einzugehen. Zu früh gefreut.
    Auch Ekomi, die neben ihr saß, seufzte. „Hey, Yuki, was findest du an dem? Der ist doch viel zu alt für dich.“

    Einfach weiterzählen, nicht aufregen, einfach weiterzählen …
    Es war doch etwas anderes, wenn man sich selbst als alt bezeichnet, als wenn man von anderen so genannt wird. Aber auch diese Situation meisterte ich mit Bravour, indem ich sie mehr oder weniger erfolgreich ignorierte.
    Manchmal konnte das Leben als Lehrer wirklich deprimierend sein …

    Als ich nun endlich sicher war, dass sich alle im Bus befanden, setzte ich mich nach vorne und gab dem Fahrer ein Zeichen, loszufahren.
    Ich hasste Ausflüge dieser Art. Zwar waren meine Schüler sicherlich schon alt genug, um auf sich selbst aufzupassen, aber eine gewisse Anspannung war durchaus da. Immerhin war ich der Schuldige, wenn einem von den Wildfängen etwas zustoßen würde.

    Die Fahrt dauerte einige Stunden. Man könnte meinen, wenigstens da hätte ich ein wenig Zeit für Entspannung gehabt. Dem war aber leider nicht so. Alle waren ausgelassen über den entfallenden Unterrichtstag, es flogen Papierkügelchen und –flieger, die einen drehten die Musik zu laut auf, die anderen meinten, sie müssten einen Spaziergang durch den Bus unternehmen.
    Verdenken konnte man es ihnen nicht, wenn man über einige Umwege dachte. Es war ihr erster Ausflug seit langem und die Schüler genossen die Ausgelassenheit, die dieser Tag mit sich brachte. Kein langweiliger beziehungsweise zu anspruchsvoller Unterricht. Keine Hausaufgaben, kein Lernen. Aber dafür die reinste Hölle für den Lehrer.

    Die Landschaft außerhalb des Fensters veränderte sich zusehends. Von den dicht an dicht stehenden Häusern der Stadt zu einer eher ländlichen Gegend, von den Wiesen und Feldern der Ebene zu den ersten Hügeln, die die nahenden Berge ankündigten.
    Von da ab dauerte es nicht mehr lange, bis wir den Park erreichten. Ich vereinbarte mit dem Busfahrer, dass er uns gegen achtzehn Uhr wieder abholen sollte, und stieg zu meiner Klasse aus.
    Die frische Luft schlug mir sofort entgegen. Erleichtert atmete ich tief ein. „Alles hergehört!“, rief ich dann dem unüberschaubaren Haufen an pubertierenden Tee-Nagern zu, um wenigstens ein bisschen ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. „Ich muss euch noch einmal darauf hinweisen, dass das hier eine schulische Veranstaltung ist. Das bedeutet kein Alkohol, kein Rauchen …“
    „Sex?“, fragte mich Shima herausfordernd.
    „Kein Sex“, ergänzte ich mit hochgezogenen Augenbrauen. „Möchtest du hier als Touristenattraktion enden? Ich sehe mich aber leider gezwungen, dich wieder mit nach hause zu nehmen.“
    „Och, schade.“

    Ich verdrehte die Augen. „Ich hoffe, ihr seid alt genug, damit ich euch in kleinen Gruppen von drei oder vier Personen ziehen lassen kann. Schaut euch die Gegend hier an, die exotischen Pflanzen, die es nur hier in der Gegend gibt oder setzt euch meinetwegen in irgendein Restaurant oder Café, um die Zeit totzuschlagen. Noch irgendwelche Fragen?“
    Yuki hob die Hand.
    „Ja bitte, Yuki?“, fragte ich schon leicht genervt. Von ihr konnte ja nichts Ordentliches kommen.
    „Darf ich Sie begleiten? Ich bin doch so verrückt nach Ihnen! Mein Angebot bezüglich des Dates steht immer noch.“ Sie grinste.
    Hatte ich es mir doch gedacht. „Danke, kein Interesse. Sonst noch jemand?“
    Ihre Hand schoss wieder in die Höhe, doch dieses Mal ignorierte ich es beflissen. „Keiner mehr? Dann Abmarsch. Und Morgen will ich von euch etwas über die Flora- und Faunapopulation hier wissen.“

    Ich sah ihnen noch zu, wie sie auseinander stoben, dann machte ich mich langsam auf den Weg. Ich hatte schon ein Ziel vor Augen, ich wusste, dass es in diesem großen Naturpark hier einige uralte Schreine heidnischer Götter gab, die ich besuchen wollte. Vor allem der der Göttin Cayra interessierte mich, ich hatte schon so einiges über sie gelesen.
    Mein Weg führte mich über einen kleinen Pfad durch die Pflanzenwelt, über Brücken und schmale Stege über den Abgrund, an Wasserfällen und rauschenden Bächen vorbei. Man konnte hier stundenlang spazieren gehen, ohne auf ein anderes menschliches Wesen zu stoßen.
    Ungefähr nach drei Stunden kam ich bereits leicht verschwitzt bei einem etwas abgelegenen Weg an, auf dem sich schon Laub und Zweige angehäuft hatten. Er war schon beinahe wieder zum Teil des Unterholzes geworden. Hier kamen wohl seltener Touristen vorbei.

    Ich kämpfte mir meinen Weg hindurch, bis ich bei einem altertümlichen hölzernen Schrein erreichte. Das Gebälk und die Wände waren schon morsch, teilweise sogar mit Moos überzogen. Um die Säulen davor rankte sich Efeu.
    Die Treppe knarrte unüberhörbar, als ich nach oben stieg, um das innere der Gedenkstätte zu betreten. Es war ziemlich düster, aber ich konnte Gemälde und Statuen erkennen. Auf einer Art Altar am Ende des Raumes stand die vergoldete Figur von Cayra, in der einen Hand ein Schwert von sich gestreckt, mit der anderen auf einen Stab gestützt. Ihre Augen waren mit einem Tuch bedeckt. Die blinde Göttin.
    Ich warf ein Geldstück in einen verrosteten Behälter und nahm mir eine lange schlanke Kerze von dem Stapel. Ich fragte mich, ob je jemand den Geldkasten ausleerte, aber das war nebensächlich.

    Ich kramte ein Feuerzeug aus der Tasche und entzündete sie. Der Raum wurde in das flackernde Licht der schwachen Flamme getaucht. Ich hielt sie einen Moment lang stumm in meinen Händen, dann steckte ich sie auf eine Reihe von Kerzenhaltern vor der Figur. Lange Wachstropfen hingen von dem eisernen Gestell, aber sie waren alle verstaubt.
    „Es gäbe für mich kein schöneres Geschenk, als das Wissen, dass Sie sie für mich aufgestellt hätten.“
    Erschrocken drehte ich mich um. Yuki stand hinter mir. Ich hatte sie trotz der morschen Treppe nicht kommen hören. Ihr Gesichtsausdruck war irgendwie verträumt. Sie trat langsam neben mich.

    „Aber dem ist vermutlich nicht so, nicht wahr? Für wen ist die Kerze? Das einsame Licht im Dunkeln …“
    „Für meine Frau.“ Ich warf ihr einen abschätzenden Seitenblick zu, aber sie rührte sich nicht.
    „Wie ist sie, Ihre Frau? Was hat sie, damit Sie sie so sehr lieben?“
    „Hast du nun vor, so wie sie zu werden, damit ich dich mehr beachte?“, fragte ich mit einem spöttischen Unterton. „Würdest du dich so sehr von meinen Meinungen und Ansichten verbiegen lassen? Denkst du, dass es das ist, was ich attraktiv fände?“ Sie erwiderte nichts darauf und eine Weile lang herrschte Stille zwischen uns. Nach einigen Minuten fuhr ich schließlich fort: „Sie ist blind. Sie braucht meine Hilfe.“ Ich wusste nicht, warum ich ihr das erzählte. Vermutlich, weil es mir wie eine schwere Last auf dem Herzen lag, eine Last, die ich unbedingt lindern wollte. Irgendwie. Alles in mir lechzte danach.
    Ich bemerkte, wie Yuki mich überrascht ansah.
    „Oh … Ich verstehe.“
    „Warum machst du das eigentlich?“, fragte ich sie plötzlich.
    „Was?“, kam eine überraschte Gegenfrage zurück.
    „Mir hinterherzustellen. Mir deine andauernd deine Liebe zu gestehen. Du weißt, was ich meine.“
    „Weil es wirklich so ist!“, gab Yuki zornig zurück. „Warum glauben Sie mir nicht? Hassen Sie sich selbst so sehr, dass Sie glauben, ich könne Sie nicht lieben?“
    „Nein. Ich kann dich nur nicht verstehen.“ Ich seufzte.

    „Ich wünschte mir manchmal, es wäre nicht so“, begann sie nach einiger Zeit langsam. „Manchmal verfluche ich mein Herz dafür, dass es mich einfach verlassen und zu Ihnen gegangen ist. Aber ich will nicht, dass es aufhört. Ich will nicht aufhören, Sie zu lieben. Je mehr ich von Ihnen in Erfahrung gebracht habe, desto mehr bewundere ich Sie. Sie sind ein wundervoller Mensch. Und ich würde am Liebsten den Rest meines Lebens mit Ihnen verbringen.“
    „Das geht nicht, und das weißt du“, erwiderte ich sanft. Schlag es dir aus dem Kopf, hätte ich am Liebsten gesagt. Aber langsam wurde mir klar, dass sie es auf ihre kindlich-naive Art und Weise ernst meinte. „Es ist verboten und außerdem habe ich Miara.“
    „Dann lassen Sie uns von hier abhauen! Ganz weit weg!“ Yuki packte mich am Arm und zwang mich, sie anzusehen. „Nur wir beide.“ In ihren Augen standen Tränen.

    Ich schloss die Augen. Ich wollte sie nicht sehen. „Miara braucht mich, Yuki. Ich bitte dich, hör auf damit. Es wäre naiv anzunehmen, dass wir einfach so davon kämen.“ Verdammt, was war nur los mit mir? Warum protestierten meine Gedanken und Gefühle nicht so heftig gegen die Vorstellung, wie sie es sollten? „Es wäre naiv anzunehmen, dass ich mit dir abhauen würde“, fügte ich leise, aber bestimmt dazu.
    Plötzlich spürte ich ihre Lippen auf den meinen. Erschrocken riss ich die Augen auf und wich zurück. „Bist du wahnsinnig geworden?“, entfuhr es mir entsetzt.
    Sie wandte sich wieder dem Gottesabbild zu. „Sie lieben sie wirklich sehr, nicht wahr? Miara…“
    Ich erwiderte nichts darauf. Mein Herz raste.
    „Was würde ich dafür geben, wenn Sie mich genauso gerne hätten …“
    „Irgendwann findest du bestimmt jemanden, der dir gerecht wird.“ Ich klang hilflos. Ich fühlte mich hilflos. Ich war in meinem Leben bisher nicht oft gezwungen gewesen, jemanden abblitzen zu lassen. Meine Frau war eine erste und große Liebe gewesen.
    „Nein!“ Yuki funkelte mich wütend und verletzt an. „Verstehen Sie denn nicht? Ich will gar niemanden anderes. Ich will nur Sie!“ Sie wirbelte herum und stürzte aus dem Schrein.

    Ich stützte mich deprimiert auf den Altar. Warum hatte ich mich unbedingt an ihre Schule versetzen lassen müssen?

    Geändert von Loriander (26.06.2010 um 17:25 Uhr)

  2. #2
    3. Kapitel: Der Sinn meines Lebens


    Ich stand leicht neben mir, als ich zurück am Treffpunkt an der Bushaltestelle stand. Langsam trödelten die Schüler ein. Rasch zählte ich sie durch, ohne sie genau anzusehen. Ich wollte Yukis Blick nicht begegnen.
    Dreiundzwanzig.
    Ich verzog das Gesicht. Dann eben auf ein Neues. Aber auch beim zweiten Durchgang kam ich auf dieselbe Zahl. Zwei Schüler fehlten.
    „Vermisst jemand seinen Partner? Seinen Banknachbar? Gruppenmitglieder?“, fragte ich genervt. Das hat mir gerade noch gefehlt. Den beiden konnte sonst etwas passiert sein.
    Niemand meldete sich. Ratlose Blicke spähten in die Runde.
    „Erzählt mir nicht, ihr …“ Ich stockte. Yuki fehlte. Yuki und Ekomi.

    „Hat irgendjemand Yuki und Ekomi gesehen?“ Ich ließ meinen Blick übers Gelände schweifen. „Sie dürfen doch gar nicht zu zweit unterwegs sein. War einer von euch bei ihnen dabei?“
    „Nein, Herr Orei. Sie wollten sich keiner Gruppe anschließen. Typisch eigenbrötlerische Zicken eben“, erwiderte einer der Jungs schulterzuckend.
    Ich seufzte. Na wunderbar. Der Bus war bereits vorgefahren. Der Fahrer sah mich fragend an.
    „Takamaru, du bist Klassensprecher. Sorg dafür, dass alle in der Schule ankommen und einigermaßen Ruhe im Bus herrscht.“
    Der Junge nickte. „Und was machen Sie?“
    „Ich werde die beiden suchen und später mit dem Zug zurück fahren. Wir werden zwar einige Male umsteigen müssen, aber das klappt schon irgendwie.“ Ich scheuchte meine Klasse noch schnell in den Bus, erklärte dem Fahrer, was los war, und sah ihnen noch kurz hinterher, bevor ich mich wieder dem Park zuwandte. Hoffentlich stellten die beiden keinen Unsinn an.

    Ich suchte in sämtlichen Restaurants und Cafés, die auf der Karte des Parks eingezeichnet waren. Ich fragte alle Leute, die mir begegneten. Aber niemand hatte die Mädchen gesehen.
    Ich wollte gerade eine alte Frau ansprechen, die mir Ekomi entgegengestolpert kam. Sie trug ihre High heels in den Händen und rannte barfuss auf mich zu. Sie war völlig aufgelöst.
    „Um Himmels Willen, was ist passiert?“, fragte ich sie erschrocken, als sie mir direkt in die Arme lief. „Wo steckt Yuki?“
    „Was haben Sie mit ihr gemacht? Was haben Sie zu ihr gesagt?“, fragte sie mich weinend und prügelte mit ihren Schuhen auf meine Brust ein.
    „Ganz ruhig, tief durchatmen.“ Ich schluckte. Ich ahnte nichts Gutes.
    „Sie dreht auf einmal völlig durch“, fuhr Ekomi schluchzend fort.
    „Wo ist sie?“ Ich rüttelte sie vorsichtig, als sie mir nicht antwortete. „Ekomi, bitte. Wir müssen ihr helfen. Wo ist sie?“, wiederholte ich meine Frage.
    Meine Schülerin deutete wortlos den Weg hinauf, den sie eben herunter gerannt war. Sie war sichtbar mit den Nerven am Ende.
    „In Ordnung“, entgegnete ich nervös. Mehr war aus ihr definitiv nicht herauszubekommen. „Du gehst jetzt zurück zum Treffpunkt und wartest dort auf mich, hast du mich verstanden?“, fragte ich sie ernst. „Die anderen sind schon gefahren, wir nehmen später den Zug. Ich bin bald wieder da.“
    Sie nickte immer noch weinend.

    Ich zögerte keine Sekunde länger, sondern hastete den Hang hinauf. Der Weg führte immer weiter nach oben und einen Moment lang kam mir der absurde Gedanke, wie es die Oma von vorhin so weit geschafft hatte.
    Ich stolperte mehr, als dass ich vorwärts kam. Überall ragten große Wurzeln aus der Erde und ich nahm mir nicht die Zeit, den Boden vor mir nach Hindernissen abzusuchen. Mein Blick schweifte durch das Gelände, ich suchte nach Yuki. Aber ich konnte sie nirgendwo entdecken.

    Ungefähr bei der Hälfte des Berges ging mir allmählich die Puste aus. Der Weg wurde immer steiler und obwohl meine Kondition nicht allzu schlecht war, musste man schon Goldmedaillengewinner im Ausdauerlauf sein, um die Strecke zu schaffen. Aber irgendwann war ich endlich oben angelangt.
    Auf einer Lichtung des sonst mit Bäumen bewachsenen Hügels stand die Ruine einer Kirche. Sie war bis auf ihre Grundmauern zerstört worden. Eine Bank für atemlose Wanderer stand davor, aber ich hatte jetzt keine Zeit, mich zu setzen.

    Ich ging um die Überreste der Kirche herum, hinein, kletterte hinauf, aber ich fand Yuki nicht. Zumindest nicht gleich. Erst als ich zu meinem Ausgangspunkt bei der Bank zurückkehrte, entdeckte ich sie endlich.
    Sie stand mit dem Rücken zu mir hinter den Ästen eines großen Baumes versteckt an einem Aussichtspunkt. Neben ihr war eines der Teleskope für Touristen, mit denen man den Ausblick noch besser genießen konnte, wenn man Geld dabeihatte.
    Bedächtig trat ich an sie heran. „Yuki?“
    „Ich wusste, dass Sie kommen.“ Ihre Stimme klang gefasst und als sie sich zu mir umdrehte, sah sie mich normal an.
    Ich seufzte erleichtert. „Bin ich froh, dich zu finden. Die anderen sind schon gefahren. Was hast du dir dabei gedacht? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“

    „Es freut mich, dass Sie Ihre Pflichten so gewissenhaft erfüllen wollen. Aber ich werde nicht mit Ihnen nach hause kommen.“ Yuki lächelte. Es wirkte nicht freundlich, sondern süffisant.
    Ich zog eine Augenbraue hoch. „Das kann ich leider nicht zulassen. Komm, wir gehen. Ekomi wartet schon. Du hast ihr mit irgendetwas einen furchtbaren Schrecken eingejagt, weißt du das? Das nenne ich wahre Freundschaft.“
    Ich drehte mich um und ging einen Schritt, merkte aber, dass sie mir nicht folgte. Ich seufzte noch einmal. „Yuki …“ Ich wandte mich wieder ihr zu und erschrak.
    Sie stand dicht über dem Abgrund, auf der anderen Seite des schützenden Geländers. „Ich werde nicht mitkommen. Für mich gibt es nur eines im Leben, was zählt. Und das sind Sie.“

    „Mach keinen Unsinn, Yuki!“ Ich näherte mich ihr vorsichtig. Jetzt drehte sie eindeutig durch. Aber die Vorstellung, dass sie sich umbrachte, schmerzte mich sehr.
    Viel zu sehr.
    Sehr viel sehr zu sehr.
    „Bleiben Sie stehen“, erwiderte sie ruhig. Ihre hellbraunen Locken wehten sanft im Wind, als sie sich halb zu mir umdrehte. „Es schmerzt mich zu sehr, Sie zu lieben. Aber der Schmerz ist zu süß, um diese Liebe zu begraben. Ich halte es nicht länger aus.“ Yuki sprach normal, so normal, als würde sie übers Wetter reden. „Ich brauche Sie nämlich auch. Diese Miara ahnt wahrscheinlich gar nicht, wie viel Glück sie mit einem Menschen wie Ihnen an der Seite hat. Ich beineide sie mehr als alles andere.“ Fast unmerklich bewegte sie sich weiter zum Abgrund.

    „Miara. Sie bedeutet mir viel.“ Ich schloss die Augen. „Aber ich liebe sie nicht, Yuki. Ich habe sie einmal geliebt, vor dem Unfall, der sie völlig verändert hat. Bei deinem Kuss vorhin…“ Ich merkte, wie mein Herz schmerzhaft klopfte. „Ich fürchte … Ich glaube … ich habe mich in dich verliebt.“
    Sie lächelte sanft. „Es ist schön, dass Sie das sagen. Auch wenn ich weiß, dass es gelogen ist.“
    „Nein, es ist … YUKI!!!“

    Sie ließ sich einfach fallen. Es kam mir vor, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ihre Locken umspielten ihre Figur wie ein Schleier. Yuki hatte die Augen geschlossen und verschwand über dem Rand des Abgrundes aus meinem Sichtfeld.


    ***

    Als ich nach hause kam, wartete Miara schon auf mich. Sie fragte mich wie immer, wie mein Tag gewesen sei und was es heute leckeres zu Essen gäbe. Ich gab ihr wie immer einen Kuss und verzog mich in die Küche. Wie immer.

    In den nächsten Tagen hatte ich einiges mit den Behörden und der Polizei zu klären. Ich blieb bei der Wahrheit, aber ich erzählte ihnen nicht alles. Nachdem sich der Rummel wieder gelegt und die Sache als Unfall abgetan worden war, kündigte ich meinen Platz bei der Schule und zog fort.

    Yuki überlebte den Sturz knapp. Ich erfuhr, dass sie in ein örtliches Krankenhaus eingeliefert worden war und dort behandelt wurde.
    Hinter mir schlug die Autotür ins Schloss. Gegen die Sonne blinzelnd betrachtete ich das hoch in den klaren Himmel aufragende Gebäude. Nur mühsam hatte ich mich dazu durchringen können, sie zu besuchen. Und auch jetzt kostete mich jeder Schritt in Richtung des Eingangsportals mehr Überwindung als alles zuvor.
    Bevor ich das Innere des Hospitals betrat, zögerte ich lange. Menschen hasteten oder schlenderten an mir vorbei, alleine oder zusammen, stumm oder fröhlich plaudernd. Mein Blick wurde leer.

    Wenn ich ihr jetzt unter die Augen trat, würde es die langsam verheilenden Wunden wieder aufreißen. Nicht die körperlichen, sondern die in Yukis Herzen. Ich hatte verstanden, dass es ihr ernst war. Aber ich hatte sie angelogen. Lange hatte ich in den letzten Tagen über meine Gefühle nachgegrübelt, hatte nachts kaum Schlaf gefunden. Ich liebte sie nicht. Yuki war mir als meine – ehemalige – Schülerin sehr wichtig. Ich konnte ruhigen Gewissens behaupten, sie sehr gerne zu mögen. Aber Liebe war etwas gänzlich anderes.
    Von einer größeren Gruppe Passanten wurde ich durch die Tür geschoben. Ehe ich mich versah, blickte mich die Frau vom Empfang erwartungsvoll an.
    „Möchten Sie jemanden besuchen?“, fragte sie mich höflich.
    Ich brachte kein Wort hervor, sondern starrte sie lediglich unwillkürlich verständnislos an.
    „Mit wem möchten Sie sprechen“, fragte sie noch einmal eindringlich, während ihre Augenbrauen nach oben wanderten.
    „Mit …“
    „Ja?“
    „,… niemandem.“ Ich senkte den Blick und wandte mich zum Gehen. „Entschuldigen Sie, dass ich sie aufgehalten habe.“

    Ich war ein Feigling, ein schrecklicher Feigling. Aber ich konnte es nicht. Nach all dem, was zwischen uns geschehen war, konnte ich ihr einfach nicht mehr in die Augen sehen.


    Ich weiß nicht, was aus Yuki geworden ist.
    Ich habe seitdem nie wieder etwas von ihr gehört.


    *Ende*

    Geändert von Loriander (26.06.2010 um 17:25 Uhr)

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