+1
Ich hab, seit ich in Japan lebe, glaub ich zwei- oder dreimal Gothic Lolitas auf der Strasse gesehen. Dieser Mythos von der japanischen Zwangsgesellschaft, die alle Jugendlichen in Subkulturen treibt ist nicht mehr oder weniger wahr als woanders auf der Welt auch. Wenn ich etwas tiefer in die soziologische Trickkiste greife, dann kann ich jede Subkultur dieser Welt mit tristem Alltag erklaeren. Punks sind Punks, weil sie ein Statement gegenueber der Gesellschaft setzen wollen, Grufties sind Grufties, und Lolitas sind eben Lolitas. Selbst Computer-Nerds bevorzugen (heute und damals) den Online-Umgang mit anderen gegenueber anderen Medien, weil sie sich dabei in der Gesellschaft wohler fuehlen.
Auch ist dieses Gerede von den japanischen Arbeitsbienen, die bis zum Tod in einer Firma schuften, deutlich weniger drastisch als das einige Leute (ja, auch bekannte Japanologen) immer wieder behaupten. Die Gesetzgebung verbietet es inzwischen mit relativ drakonischen Strafen, dass zu viele Ueberstunden geschoben werden, und wenn das passiert, dann muessen die bezahlt werden. Vermutlich setzen sich mehrere Firmen auch heute noch darueber hinweg, aber vor allem Firmen die entweder ins Ausland expandieren wollen oder fuer in Japan lebenden Auslaender attraktiv sein moechten, koennen sich das klassische japanische System (lebenslange Anstellung und Senioritaetsprinzip) nicht mehr leisten. Meine Freundin ist selten laenger als wirklich von 9 bis 5 im Buero, und wenn das mal vorkommt, dann kriegt sie die Ueberstunden bezahlt. Und ja, sie kann sich auch zwei Wochen Urlaub nehmen, ohne dass irgendwer sie bloed anguckt ... obwohl letzteres vor allem in der aelteren Generation tatsaechlich noch unueblich ist. Da verbaut man sich seinen Urlaub lieber ueber Brueckentage.
Zusammengefasst: den Japaner an sich gibt es genau so wenig, wie es den Deutschen an sich gibt. Und wer heute noch Ruth Benedict heranzieht, um die japanische Gesellschaft zu erklaeren, der hat was nicht verstanden.