Peter Watts - Blindflug (2008)
Im Orginal Blindsight (2006)
Blindflug ist ein Science Fiction Roman der vom Erstkontakt der Menschheit mit etwas völlig Fremden berichtet. Wobei Menschheit ein dehnbarer Begriff ist. Im Jahre 2080 hat sich unsere Zivilisation doch deutlich gewandelt. Die technologische Singularität ist eingetreten oder auch nicht, jedenfalls gab es nicht den großen Knall den man im Allgemeinen erwartet, aber die Folgen sind doch sichtbar. Die meisten Menschen werden genetisch optimiert geboren, eine Cornucopia Maschine (Molecular Assembler) wurde erfunden und die Speerspitzen der Menschheit sind durch umfangreiche Implantate, Mensch-Maschine Interfaces oder gewaltige neuronale Veränderungen dem Rest der Menschheit intellektuell weit überlegen und arbeiten an Problemen, welche der Normalsterbliche nicht einmal begreift. Daneben haben Wissenschaftler unter Verwendung von fossilem genetischem Material es geschafft eine menschliche Unterart zu erschaffen, welche dem Menschen was räumliche Vorstellungskraft, Erinnerungsvermögen und allgemeinem Intellekt weit überlegen ist. Das diese Unterart dem normalen Menschen alleine auf Grund ihrer Art bereits größtes Unbehagen und Angst verursacht ist dabei vernachlässigbar, aber später mehr dazu. Denn dem Großteil der Menschheit ist das alles aber relativ egal, den immer mehr Menschen entschließen sich ihr Leben auf der Erde aufzugeben und in den „Himmel“ zuziehen. Ihre Körper werden an Lebenserhaltungssystem angeschlossen und ihr Gehirn mittels Mensch-Maschine Interface an einen Rechner angeschlossen. Diese vollkomme Virtuellen Realität können die Bewohner des Himmels nach ihren eignen Vorstellungen formen. Der Vorgang soll zwar reversibel sein aber das Buch legt nahe das keiner(?) aus dem Himmel wieder zurück kommt. Der Rest der Menschheit fragt sich außerdem wo der gewaltige Platz für die Lagerung der Menschen herkommen soll und ob nicht doch irgendwann die unnützen Körperteile der Himmelsbewohner entfernt werden um Platz zu schaffen… Den Kopf oder zumindest das Hirn braucht man aber noch solange bis es gelingt einen Menschen zu uploaden, ihn völlig zu digitalisieren.
Und in diesem Zustand erscheinen ohne Vorwarnung und in perfekter Synchronisation 65536 Objekte am Himmel und ziehen nach einem offensichtlichen Muster als Sternschnuppen durch den Himmel bevor sie alle gleichzeitig verglühen und dabei ein verschlüsseltes Signal aussenden. Die Menschheit bleibt mit runtergelassenen Hosen zurück und fragt sich was dass als Irrlichter bezeichnete Phänomen war. Die Vermutung dass man den Planeten, soeben in seiner Gänze kartographiert und abfotografiert hat löst allerdings Unbehagen aus und so entschließt man sich ein Raumschiff in den Kuiper-Gürtel zuschicken, wo man kurz nach den Irrlichtern ein Signal mit vergleichbarer Verschlüsselung aufgefangen hat, um nachzufragen ob man unseren Google Streetview Eintrag nicht doch nochmal löschen könnte.
Und so begleiteten wir die Theseus und ihre Crew auf dem Weg zum Kuiper-Gürtel. Und auch der Blickwinkel aus dem wir diese Reise verfolgen ist alles andere als Gewöhnlich. Siri Keeton der Ich-Erzähler der Geschichte musste sich in seiner Kindheit einer radikalen Operation unterziehen um seine Epileptische Krankheit zu heilen. Seitdem lebt er nur noch mit der Hälfte seines Gehirns (+ einigen Implantaten) und ist nicht mehr derselbe. Er legt seitdem ein eher autistisches Verhalten an den und nimmt ausschließlich die Rolle eines Beobachters ein. Von Berufswegen her ist er ein Synthesist. Er vermittelt die Erkenntnisse der superintelligenten menschlichen Speerspitze, an diejenigen die damit nicht mehr mithalten können. Und auf der Theseus wird er gebraucht, denn die Menschen schicken natürlich das Beste was sie zu bieten haben ins Unbekannte. Da wäre eine „schizophrene“ Linguistin für den Fall das man mit dem Fremden kommunizieren kann. Doch ihr Gehirn ist derart verändert das ihr Kopf vier separate Persönlichkeiten enthält die sowohl unabhängig als auch zusammenarbeiten können. Da ist ein Biologe der so umfangreich modifiziert wurde, das er Röntgenstrahlung sehen und Ultraschall schmecken kann, der jedoch ohne sein Feedback Handschuhe nicht einmal mehr seinen eignen Körper erfühlen könnte. Und schließlich noch eine Militärtaktikerin die mit ihren Implantaten dutzende bewaffnete Drohnen gleichzeitig steuern kann. Für den Fall der Fälle. Angeführt werden sie von einem unbeliebten und undurchschaubaren Sarasti einem Angehörigen der Menschlichen Unterart, der seine Augen ständig hinter einem Visor versteckt um den Anderen keine Angst einzujagen. Er ist auch der einzige der mit dem Bordcomputer der Theseus kommunizieren kann. Und er nennt ihn Käpt'n. Wie Siri einmal anmerkt sind sie alle so unersetzlich, das für sie alle ein Ersatzmann im Kälteschlaf mitgeführt wurde, für alle bis auf Sarasti. Und nicht nur der Leser fragt sich ob die Repräsentanten der Erde nicht noch Fremder sind als das was sie erwartet. Ohne zu viel vorweg nehmen zu wollen, das wird nicht der Fall sein.
Der Roman widmet sich ausführlich dem Thema Erstkontakt und den Problemen die daraus erwachsen, und wer erwartet das bereits nach 50 Seiten Freundschaft geschlossen wird oder aufeinander geschossen wird, der wird enttäuscht werden. Und dabei lässt sich der Raum nicht mal sonderlich viel Zeit mit der Vorbereitung und dem Hinflug. Außerdem wirft einen der Roman ins kalte Wasser und erklärt am Anfang nicht alle Begebenheiten. Über die ersten Seiten des Buchs sind die Informationen zum Hintergrund verstreut die man sich selbst zusammen suchen muss. Die Informationen über die Erde werden z.B. in Rückblenden aus Siri Vergangenheit erzählt, durch die wir uns etwas besser in die doch recht fremden Gedanken unseres Ich-Erzählers einfinden können. Genauso wie Siri sind alle Charaktere der Mission aber doch recht schwierig und keine klassischen Sympathieträger. Dies ist ein Punkt der Anderorts kritisiert wurde, aber in Anbetracht der Tatsache dass uns diese Charaktere fremd erscheinen sollen und wir sie ohnehin nur die Augen eines „Gehirnamputierten“ wahrnehmen fand ich die die Darstellung der Charaktere völlig angemessen. Der Roman will aber nicht nur eine Geschichte erzählen sondern auch seine Ideen und das damit zusammenhängende Gedankenexperiment vermitteln, deshalb kann man ankreiden das bei den Charakteren und dem Spannungsbogen Kompromisse eingegangen wurden. Trotzdem bleibt Rätsel der Fremden bis zum Ende des Romans spannend. Als Roman mit eben diesem Anspruch (mehr als Unterhaltungsliteratur zu sein) stellt er auch an die Leser gewisse Ansprüche. Er setzt entweder solide Naturwissenschaftliche Vorkenntnisse voraus oder die Bereitschaft sie nachzuschlagen. Vieles wird erklärt aber manche Sachen werden auch als Bekannt vorausgesetzt. Insgesamt würde man das Buch also ruhigen Gewissens unter Hard-SciFi einordnen.
Allerdings hat der Autor noch einen Curveball bereit für die Leser von (Hard-)SciFi. Den bei der aus fossilem Material entwickelt menschlichen Unterart handelt es sich um einen Vampir. Ein Science Fiction Buch mit Vampiren? Das dürfte dem ein oder anderen Science Fiction Fan absolut nicht schmecken. Der Autor entwirft aber einen recht glaubhaften wissenschaftlichen Hintergrund für den Homo vampiris der bereits vor mehreren Hunderttausend Jahren ausgestorben ist. Angefangen von den fehlenden Proteinen die der Grund für seine „kannibalischen“ Ernährung ist, über Überlegungen zur Populationsdynamik (die zur Entwicklung eines Winterschafts führen) bis hin zu letztendlichen Grund ihres Aussterbens. (Der Entwicklung der euklidischen Geometrie und Architektur mit ihren rechten Winkeln die in der Natur praktisch nicht vorkommen, bei den Vampiren aber epileptische Anfälle auslösen.) Da man für die Rolle der genetisch erschaffenen der Menschheit überlegenen Spezies auch einfach eine beliebige hätte erfinden können, gehe ich davon aus der Autor mit Absicht den Vampir genommen hat um den Leser ein wenig auf die Probe zustellen. Wenn es gar zu sehr stört ersetzt den Vampir im Kopf einfach mit etwas das ihn weniger stört.
Fazit:
Insgesamt halte ich den Roman für absolut lesenswert solange man keinen reinen Unterhaltungsroman erwartet. Die Problematik des Erstkontakts ist ein Puzzle das über den gesamten Roman behandelt wird und dabei immer wieder neue Facetten offenbart. In dieser Komplexität der Fremden stellt das Buch auch einen gewissen Anspruch an den Leser. Aber er wird dafür mit einem interessanten Gedankenexperiment belohnt das zum Grübeln anregt.
Wer jetzt Interesse an dem Buch dem kann ich noch ein paar Tipps mit auf den Weg geben. Wenn möglich dann ignoriert das „Kapitel“-Verzeichnis am Anfang des Buches. Das Buch hat ohnehin nur 3 Kapitel und eins davon ist auch noch ein Spoiler. Also einfach drüber blättern. Wer das Buch auf Englisch lesen mag der findet das Buch auf der Seite des Autors *klick* zum kostenlosen Download. Allerdings sind auch auf dieser Seite weiter unten die Kapitelnamen angeben. (Blindflug ist nebenbei bemerkt auch ein blöder Titel. Die direkte Übersetzung Blindsicht wäre besser gewesen.) Und als letztes noch die Info das im August mit Echopraxia ein neuer Roman von Peter Watts in der Romanwelt von Blindflug auf Englisch erscheint. Ich freue mich sehr drauf bin mir aber noch unsicher ob ich mir den Roman auf Englisch geben will. Aber bei der deutschen Science Fiction herrscht momentan eher Flaute und ob (und wenn ja wann) wir das Buch auf Deutsch bekommen steht in den Sternen.
Achja noch als Kontext. Ich bin ein Spätstarter was Science Fiction Literatur angeht und dementsprechend ist mein Repertoire an gelesen Büchern noch recht klein. Man möge mir also mögliche Unwissenheit im Bezug auf das Genre verzeihen.