Das Ende von Alice

„Wer ist sie, dass sie von dieser Lust belastet ist, dieser eigenartig erworbenen Neigung zum frischesten Fleisch, dass sie eine Geschichte erzählt hat, bei der einige von euch grinsen werden, andere jedoch grimmig wüten, dass dieser Albtraum, dieser Horror aufhören muss. Wer ist sie?“


Ich lese ja nicht oft Bücher, weil ich meisten enttäuscht von ihnen bin, da sich die aufgebrachte Zeit nur selten durch den Genuss, den das Buch bereithält, entschädigen lässt. Und auch bei diesem Buch hatte ich anfangs meine Zweifel, ist es doch als "Skandalbuch" angepriesen und das bedeutet ja meistens, dass dem Buch es wichtiger ist, den Leser zu schocken statt die Kontroverse als Teil der Aussage zu nutzen. Trotzdem lies ich mich dazu hinreißen, dieses Buch zu kaufen, nachdem ich kürzlich durch eine Referenz in einer Visual Novel darauf aufmerksam geworden bin, da die Thematik einfach zu gut klang um es nicht zu lesen.

Als ich das Buch dann aufgeschlagen hatte und es sogleich mit einem Zitat von Lewis Carroll anfing, wusste ich, dass ich keinen Fehlkauf gemacht habe.

Geschrieben ist das Buch aus der sehr persönlichen Sicht des Hauptcharakters Chappy. Dieser ist nicht dumm, ganz im Gegenteil, und so sind seine Schilderungen rhetorisch anspruchsvoll und am Anfang auch schwer zu folgen. Doch schon nach kurzer Zeit hat man sich daran gewöhnt und Chappy zieht den Leser bewusst und durchaus auch manipulativ in seinen Bann, besonders wenn er den Diskurs mit dem Leser selbst sucht und seine Argumente und Thesen gar nicht wie die Gedanken eines Verrückten klingen, die man eigentlich erwartet hätte. Und wenn man dann noch nicht vor Ekel das Buch in die Ecke geworfen hat, so findet man sich mit Unbehagen der viel zu mächtigen Immersionskraft ausgeliefert, über die der Ich-Erzähler verfügt.
Am Spannendsten ist sein Briefwechsel mit einem neunzehnjährigen Mädchen, die fasziniert von ihm ist und ähnliche Gelüste in sich findet wie die Chappys. Er ermutigt sie und sie schildert ihm im Gegenzug detailliert von ihren Abenteuern. Dabei interpretiert Chappy ihre Briefe für den Leser statt sie einfach nur zu zitieren.

Das ist großartiges Writing, so vielschichtig in der Interpretation und gleichzeitig so nur scheinbar charakterisierend. Den Höhepunkt erlebt der Schreibstil im letzten Drittel des Buches, wenn der Leser ordentlich (aber hallo!) getrollt wird. Ich liebe es, wenn das Medium selbst zum Stilmittel wird.

Ich fand übrigens das Buch gar nicht so extrem und böse, wie überall behauptet wird. Das skandalöse an dem Buch ist eher, dass es 15 Jahre gedauert hatte, bis sich jemand getraut hat, es in Deutschland herauszubringen. Und es einige Versuche gab (besonders in England) das Buch zu verbieten. Lächerlich, und ironischerweise auch eine der Kritiken, die das Buch üben möchte. Ich finde es höchst lustig, wie sich die moderne Gesellschaft da mal wieder selbst dekonstruiert.
Für ein "wichtiges Buch" unserer Zeit, wie manche Kritiker behaupten, ist es mir dann aber doch etwas zu flach, die Geschichte zu konstruiert. Das habe ich persönlich aber begrüßt; ich wollte vorrangig ein gutes Buch lesen, weniger eine sozialkritische Studie. Ein paar harmlose Vereinfachungen und Klischees nehme ich für eine bessere Dramaturgie gerne in Kauf.

Fazit: Gutes Buch. Literarisch anspruchsvoll, thematisch faszinierend und einnehmend. Trolling gegen Ende war einer der besten Lesemomente, die ich je hatte.