Heute: Männer, die Ziegen treten - Radiata Stories
Japaner haben ein gestörtes Verhältnis zu Tieren. Um das mitzukriegen, muss man sich nicht mal per Greenpeace auf einen Wal ketten, es reicht schon, ein durchschnittliches Japano-Rollenspiel zu beginnen. Die „gute“ Variante: Irgendwann am Anfang des Spiels fällt ein Nebensatz wie „Etwas stimmt nicht... dunkle Macht bla bla... die Tiere im Wald sind AGGRESSIV GEWORDEN!“, und - YEAH! - jetzt können die Programmierer den Spieler stundenlang mit Spinnen, Wölfen, komischen Stechmücken-Mutanten und anderem Viehzeug bewerfen, ehe sie sich Gedanken um richtige Gegner machen müssen. Aber immerhin, in diesem Fall ist der Genozid krampfhaft in die Story eingebunden. Die weniger logische Option hält sich nicht mit dermaßen überflüssigen Erklärungen auf. Sie schleudert den Spieler einfach in einen Wald/eine Ebene/eine Höhle und hetzt die gesammelte Fauna des jeweiligen Habitats auf die Charaktere - die sich dann mit Schwertern und Magie gegen Kakerlaken und andere ähnlich furchteinflößende Gegner verteidigen. Denn, wer ist nicht schon mal über eine Wiese gegangen und musste mit Ziegen und Schweinen um sein Leben kämpfen? Ach ja… JAPANER, offensichtlich. Ich glaube, eine jährliche Exkursion in die zwei Hektar unbebautes Land irgendwo in Hokkaido würde den Rollenspielprogrammierern gut tun.
Radiata Stories bestätigt mich in dieser Hinsicht und geht sogar noch einen Schritt weiter (oder eher einige Tausend Tritte), und zwar mit dem gleichen Anlauf, mit dem es auch so ziemlich alle anderen Klischees des Genres mit sich reißt. Allerdings hat es auch einen ganzen Batzen an netten Ansätzen, die man nicht untergehen lassen sollte.
Die Geschichte und wie sie sich so anfühlt
Die Story um den Helden Jack beginnt, wie sie beginnen muss: Mit einem großen Erbe, dem Willen, ein toller Held zu werden, dem Vornamen „Jack“ und ähnlichen Selbstverständlichkeiten. In den ersten paar Stunden gibt es inhaltlich keinerlei Überraschungen, dann jedoch dreht sich das „Bleh!“-Rad ein wenig und der ein oder andere doch schon unerwartete Schwenk schiebt sich ins Geschehen. Unterhaltsam bleibt das Ganze aber weniger wegen ausgeklügelten Plotstrukturen, sondern mehr aufgrund der liebenswürdigen Art und Weise, mit der das Spiel atmet und lebt. Angenehme, teils lustige Musik, ein nettes, weiches Grafikdesign und das gelegentliche Detail, das einen zum Lächeln bringt (mein Favorit: Alkohol-liebende Zwerge mit russischen Namen und Akzenten). Die Atmosphäre erinnert gut und gern an Disney meets Japan.
On a related note... ist das Wort „goofy“ absolut perfekt, um den Witz des Spiels zu beschreiben! Wer mit überzogenen Charakteren, auf-die-Fresse-fliegen-Humor und ähnlichem nichts anfangen kann, lässt lieber die Hände von Radiata Stories. Zumal es sich niemals wirklich ernst nimmt. Anspielungen gibt es einige (ein ziemlich korpulenter Hauptcharakter trägt bspw. die Klamotten von Claude aus Star Ocean 2, inklusive „Super Ocean“ Aufschrift), aber allen voran die illustre Präsentation der Story wird den gelegentlichen Japano-Hardcore-Gamer die Hände über dem Kopf zusammenschlagen lassen. Ich fands klasse.
Etwa bei zwei Dritteln stellt Radiata Stories den Spieler vor eine essentielle Entscheidung, die im weiteren Verlauf sowohl die grundlegende Storyperspektive als auch die Auswahl an Begleitern vorwegnimmt. Ein netter kleiner Ansporn für einen Re-Run, aber danach zieht die Geschichte an. Es ist fast schon ein Stilbruch, wie ernst der Tonfall plötzlich wird, und ein nicht zu kleiner Teil Tragik zieht in die Atmosphäre ein.
Charaktere und was man so mit ihnen macht
Charaktere sind ein gutes Stichwort, denn von denen gibt es Dutzende (Hunderte?). Ein großer Teil des Spiels handelt in der namensgebenden Stadt Radiata, die liebevoll gemacht und RIESENGROSS ist. Dementsprechend viele Leute treiben sich auch darin herum. Einige schließen sich der Gruppe schon nach einem kurzen Gespräch zur richtigen Tageszeit an, andere muss man umwerben, beschenken oder auch mal treten. Ja, treten. Denn Radiata Stories hat einen Knopf, um Dinge zu treten. Im Ernst. Wie geil ist das denn? Wer wollte nicht schon immer mal den nervigen NPC an der Ecke treten? Oder jeden einzelnen Gegenstand in jedem verdammten Haus, um an irgendwelche Items zu kommen. Oder… ich nehme an, das Bild wird deutlich. Jedenfalls wehren sich getretene NPCs auch noch (und man kann sie in einem Kampf verprügeln!), und so entsteht eine interessante, durchaus irgendwie lebendig wirkende Welt, was nicht viele Japano-RPGs hinkriegen.
Um einen Eindruck von den Charakteren (und dem Art Style) zu kriegen, hier ein Video, bei dem man ab 0:30 eine Rundreise durch ein komplettes "Friends Book" kriegt. Lasst es während des Lesens im Hintergrund laufen - es braucht vier Minuten im Schnelldurchlauf.
Die Abenteuer, in die der Held verwickelt wird, sind etwa zur Hälfte storyrelevant, der Rest funktioniert nach einem Auftragsschema. Bei jenen Aufträgen (und einigen wichtigen Quests) kann man drei Charaktere aus der Hundertschaft auswählen und mit ihnen in den Kampf ziehen. Die Prügeleien sind nett, aber nichts Revolutionäres. Echtzeit-Kampfsystem meets Kombos meets Zusammenarbeit meets nette Exploits für Taktiker und sonst einen gut gemachten Schwierigkeitsgrad. Die Charaktere, ihre Kommentare und die wenigen knuffigen Gegner, die über Ziegen und Wölfe hinausgehen, versetzen das Ganze auch hier mit einer zuvor ungekannten Goofiness. Im Ernst, nicht mal Kingdom Hearts hatte soviel goofy.
Und warum das Ganze dann doch nur Mittelmaß ist
Man kann erstaunlich gut festmachen, woran das Spiel leidet, was an ihm nagt und seine Qualitäten mit Füßen tritt (a-ha-ha… haha *vergräbt sich*).
1. Rumrennerei, gestreckte Spielzeit: Man läuft. Und läuft. Und wartet. Und läuft… Die „Dungeons“ an sich sind noch ganz ordentlich gemacht, man kämpft gegen ein, zwei Dutzend Gegner, danach kommt ein (meistens cool gemachter) Endboss und dann sollte auch Schluss sein. Ist es aber nicht. Man darf wieder zurück rennen und noch mal den gleichen Gegnern ausweichen. Noch schlimmer ist es in Radiata: Einmal durch die Stadt zu rennen, braucht gut und gerne einige Minuten, und das Ganze (Zwecks neuer Charaktere) zu erkunden, ist noch viel schlimmer. Dabei sollte gerade das doch das „Besondere“ an dem Spiel sein! Zumal der durchaus klug gemachte Tag- und Nacht-Zyklus einen oftmals zum Warten verdammt, wenn man eine bestimmte Person treffen möchte. Man kann zwar verstehen, warum die Entwickler das Spiel etwas länger machen wollten (mit Rumrennen habe ich 30 Stunden gebraucht), aber hier wäre weniger definitiv mehr gewesen. Von Teleportpunkten in der Stadt mal ganz zu schweigen.
2. Keine Konsequenz bei den Spielkonzepten und verdrehte Prioritäten: Was bringen einem Hunderte Charaktere, wenn man nur drei auf einmal benutzen kann, wenn sie alle lediglich drei verschiedene Sätze sagen, nur ihre Werte verändern und auch sonst sehr blass bleiben? Fünfzig Charaktere und dafür ein Bisschen mehr Charakter wären doch auch noch außergewöhnlich gewesen. Zumal (so gerne ich die nicht-ganz-so-normalen Figuren habe!) zehn verschiedene Bauern irgendwie unnütz sind. Das gleiche Problem bei dem generell ganz netten Auftragssystem: Warum kann ich Aufträge auswählen, wenn ich am Ende doch sowieso alle machen muss? Wieso gibt es nur so wenige? Wieso wird mir sehr oft vorgeschrieben, welche der tollen Charaktere ich mitnehmen muss? Und letztendlich: Wieso werde ich beim Auswählen der Pfades auf der Hälfte des Spiels dazu gezwungen, eine Seite zu wählen oder den Großteil meiner Charaktere im Stich zu lassen?
Ein enttäuschtes Fazit
Ich könnte mich ziemlich lange über Radiata Stories aufregen. Und das liegt nicht daran, dass es so schlecht wäre, sondern daran, wie gut es hätte sein können. Die Atmosphäre und die Herangehensweise mit Charas und Aufträgen ist außergewöhnlich, das Kampfsystem nett, der Art-Style großartig. Es gibt eine tolle Stadt und sympathische Charaktere. Man kann sogar Dinge treten! Aber leider waren die Entwickler der Meinung, an essentiellen Punkten nicht sonderlich weit zu denken. Und irgendwie traut sich in Japan immer noch niemand, „20 Stunden Spieldauer!“ auf die Packung eines Rollenspieles zu schreiben, und wenn es noch so angebracht wäre.
Wirklich schade, denn viel Arbeit hätten die notwendigen Veränderungen nicht gemacht. Ich spiele jetzt weiter Persona 3, denn das macht mir nochmal deutlich, dass Radiata Stories nur dann eine echte Empfehlung wert ist, wenn man die wirklich guten Spiele der Generation durch hat. Und wenn man Goofy mag.
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Ein klassisches Rollenspiel, reduziert auf den Zauber des alten Genres: Wortgewaltige Sprache. Fordernde Kämpfe. Drei, die einen Drachen töten – und was sie dazu führen mag ... Jetzt für 2€ auf Steam, werft mal einen Blick drauf! =D