Ich bin sehr beeindruckt. Einige kleine Holprigkeiten sind noch drin, auf die ich gleich noch kurz eingehen mag, aber ansonsten ist dir hier wirklich etwas gelungen, worauf du zurecht stolz sein darfst. Was du aber weglassen solltest, ist die letzte Strophe, die hat so was Belehrendes. Dein Leser kommt auf diesen Pfad selbst und die Strophe ist in sich nicht wirklich poetisch. Streich die einfach raus, das Gedicht gewinnt dadurch.

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Am Scheideweg

Frau Leben steht am Scheideweg,
wo sie noch nie gestanden war,
von Depressionen, Trauer, Krieg
zersaust ihr bodenlanges Haar.

Tränen rollen. Kühl Gewissen!
Ihr zitternd zarter Körper bebt.
Und ihre Seele: halb zerissen,
weil alles leidet, was da lebt; -

Leidet, hasst, zerstört und mehr.
In Dunkelheit sieht sie kein Licht.
Ihr Kopf gesenkt, ihr Blick ist leer,
denn ihre Schöpfung, die schafft nicht.

So bedecken Kratzer, tiefe Wunden,
schamlos ihren blanken Leib.
Von eigener Schöpfung ward geschunden
all ihr Wollen je von Eitelkeit.

Schon setzt sie an die Brust das Messer,
von Tränen und von Schweiß verklebt.
Denn dieser Weg macht alles besser,
vernichtet alles, was da lebt.

Da säuselt ihr sanft zu der Wind,
der sich auch heimlich Hoffnung nennt.
"Kennst du die Zukunft denn, mein Kind,
die man selbst als du nur schwer erkennt?

Behalte, wenn du willst, dein Messer
und schärfe es - doch warte noch,
ob Geschaffenes wird nicht doch noch besser:
Wenn's wird - doch stirbt - wär's schade doch."
Die kursiven und unterstrichenen Stellen (eine hab ich voll Dreistigkeit selbst geändert, wie du siehst) sagen noch wenig aus bzw. passen nur schlecht in die ansonsten klare Inszenierung. Da solltest du vielleicht noch einmal feilen. Beben und Zittern sind in etwa das gleiche, vielleicht fällt dir hier noch etwas besseres an Attributierung ein.

Ansonsten bin ich wie behauptet sehr beeindruckt, inhaltlich ist das eine sehr reife Leistung, stilistisch hast du dich wirklich zum in der kurzen Zeit bestmöglichen weiterentwickelt und, wenn ich das noch etwas frech anmerken darf, deine Inversionen sind jetzt endlich lesbar.

Klasse jedenfalls, noch ein letzter Schliff und das ist richtig richtig gute Literatur.