Zitat von Aenarion
Die letzte Kerze
Das Lichtlein flackert. Einsam, in schwarzer Unendlichkeit. Es wehrt sich verzweifelt. Doch im Kampf gegen die Dunkelheit verbraucht es sich selbst. Es ist die letzte Kerze am Christbaum. Kälte und Nacht drängen immer weiter vor.
Vor dem lichtlosen Baum sitzt das Mädchen. Gebannt starrt es auf die Flamme. Sie darf nicht ausgehen, denn dann ist es alleine. Die Flamme kämpft weiter.
Der Vater ging. Er nahm Rapier und Muskete und den blauen Soldatenrock. Krieg ist, Krieg ist, ruft die Trommel, dein Leben für dein Land. In der eisigen Winterluft trägt ihr Ruf weit. Die Tür geht auf. Frisch entzündete Kerzen erlöschen im eiskalten Luftzug und mit ihnen ein Kinderlachen.
Die Mutter ging ihm nach, kein Blick zurück. Krieg ist, Krieg ist, ruft die Trommel, Krieg bringt Arbeit zuhauf'. In dem leeren Haus hallt ihr Ruf nach. Sie gehen. Kein Wort – nur die Trommel. Tan-ran-tan, tan-ran-tan. Immer wieder. Langsam versinkt der Helmbusch hinter dem Hügel. Weiße Feder im weißen Schnee.
Das Mädchen steht auf der Schwelle. Ihr Herz ist kälter als der heulende Wind. Schlägt es noch? Tan-ran-tan, tan-ran-tan. Krieg ist, Krieg ist, Kinder sind für den Frieden gut.
Viel lauter als das Herz die Trommel. Tan-ran-tan, Tan-ran-tan. So kalt und langsam wie ein Gletscher fließt die Zeit; genau so drückend, genau so unerbittlich. Tan-ran-tan, Tan-ran---
In der Stille fällt der Schnee so laut. Eine Wolke schiebt sich vor den Mond. Alleine. Das Mädchen verschließt die Türe vor der Einsamkeit.
Aussichtslos tapfer kämpft die Flamme gegen die Unendlichkeit der Nacht. Die Augen des Mädchens sind von dem Lichtlein gebannt. Die letzte Bastion vor der endlos einsamen Schwärze. Ein Eiszapfen bricht klirrend. Der Ruf einer Eule. Wenn nur diese Stille nicht wäre.
Die Flamme Kämpft, das Herz wird zur Trommel. Tan-ran-tan, tan-ran-tan. Doch die Kerze verbraucht sich selbst, wie der Krieg die Soldaten, die ihn führen.
Tan-ran-tan. Die Flamme wird schwächer. Wie gepeinigt flackert sie hin und her. Rauch steigt auf. Tan-ran---
Der Docht verglüht. Eisig stille Schwärze erdrückt die Welt.
Frost weckt das Mädchen. Im toten Zwielicht hat die Welt so harte Kanten. Die Eiskristalle auf dem Fenster auch. Unter dem Baum knarrt das handgeschnitzte Schaukelpferd in der Kälte. Am Dach zerreißt eine Krähe die Stille. Auf der Wange des Mädchens ist eine Träne gefroren. Sie will rufen. Vater! Mutter! Die Stille erstickt ihre Worte. Blaue Lippen bewegen sich tonlos.
Die laute Ruhe schmerzt. Kein menschlicher Laut ist zu hören auf dieser Welt. Crôa, crôa, ruft die Krähe auf dem Dach.
Etwas ist hinter ihr. Komm mit. Eine kalte Hand auf ihrer Schulter. Komm mit. Ein Seufzer entfährt den halb geöffneten Lippen. Komm mit. Sanft lässt sie sich entgleiten.
Das Haus steht leer und kalt. Crôa, crôa, ruft die Krähe auf dem Dach.
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