Mir scheint, was wir hier gerade tun ist recht sinnlos.
Ich meine, wir speichern hier hunderte oder tausende von Beiträgen, liefern im Dutzend Information an Social Networks, Konsumentenzielgruppenforscher und Addressensammler ab. Da draußen sitzen dutzende von Einzelpersonen und Gruppierungen, die der Idee anhängen, dass sie unser Selbst durch die möglichst genaue Erfassung von möglichst viel Information entlang des Zeitlaufes begreifen werden. Und danach entscheiden können, ob wir für sie arbeiten dürfen, welche Bücher wir lesen wollen oder welche Personen Lebensabschnittspartner für uns werden können.
Diese Idee - das man Personen als eine Addition von Selbstäußerungen oder Wahrnehmungen erfassen und einteilen kann - ist sehr bescheuert.
Ich will ein paar Gründe dafür aufführen:
Ein interessantes Beispiel sind Social Networks. Es war vermutlich sogar dieses Jahr noch, dass in allen Medien auf und ab gebetet wurde, dass Arbeitgeber diese überwachen und als Entscheidungsgrundlage heranziehen würden, wenn sie einen anstellen würden.
Einer gewissen Stacy Synder ist dies tatsächlich passiert. Man verweigerte ihr den Abschluss zum Lehramt, sie durfte nicht Lehrerin werden, weil ein Teilnehmer ihres Kurses ein Bild von ihr im Internet fand und an den Kursleiter weiterleitete:
Drunken Pirate
Eine solche Person ist moralisch als Lehrkraft nicht tragfähig.
Was das erste Problem gleich mal herausstreicht: Kontext. Hallo, wir sind im Internet. Im Internet findest du Fakten und keinen Kontext. Die Suchmaschine ordnet die Treffer nicht nach Kontext sondern nach überprüfbaren Stichworten. Und nachdem der anonyme Melder das Bild als "most inappropriate behaviour for a future teacher" gemeldet hatte, nahm natürlich niemand mehr den Kontext der Social Networks war.
Der nicht ist, das Verhalten dieser Person in einer schulischen Umgebung widerzugeben.
Da wurde Schindluder mit einem Photo getrieben. Gleichwohl mit diesem hier:
Frau Merkel ist offensichtlich eine Gefahr für das Leben aller Deutschen...und für den Weltfrieden. Denn es ist schwer zu glauben, dass sie das Töten nur auf Deutschland beschränken wird.
Haha? Nicht wirklich. Das dies Haha sein sollte, lernen wir in der ersten Vorlesung über Medientheorie, aber in der Allgemeinheit ist noch nicht angekommen, dass ein Photo - also eine technologische Abbildung der Lichtverhältnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt - erst durch verschiedene Manipulationstechniken Bedeutung bekommt. Die Kontextualisierung durch Beschriftung und Bildausschnittwahl sind dabei die mächtigsten.
Held der Unterdrückten
Feind der freien Welt
Ikone der Spaßgesellschaft
Mit welcher Bildunterschrift würdet ihr den Mann einstellen?
Zweitens:
Meine Goodreads-Page.
Amazon kooperiert mit der Seite und greift auf die Information zu, die ich da freigebe. In der Hoffnung, dass sie mit der Information ein besseres Käuferprofil erstellen können.
Natürlich habe ich die circa 1500 Comics in meinem Besitz auf der Seite mit keinem Wort erwähnt.Gleichfalls sind weder die tausenden Kindersachbücher, die Fantasyromane oder die Scifi darauf angegeben. Warum? Weil ich kein Interesse habe, mich online an diese zu erinnern.
Hier treffen Faktensuche und Kontext zusammen: Im Kontext des Internets würde ich gerne Fakten über meine gelesenen Bücher zur Verfügung haben.
Ich will schnell nachsehen können, ob ich das Buch schon gelesen habe.
Hinzu kommt der Zeitlauf: Dies sind alle Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe und die ich für meine Person im Moment als bedeutend empfinde.
Ich benötige diese Information online, da die Bücher über viele Orte verstreut sind.
Da ist viel Information verfügbar und die Information ist aktuell genug, dass mir Amazon sagen könnte, welches Buch ich als nächstes für das Internet lesen sollte. Blos lese ich nicht für das Internet, danke.Habt noch Spaß mit eurer Information.
Drittens: Ich lebe und meine Grenzen sind groß.
Ich bin mir selbst ein Mysterium. Kontext und Zeitverlauf machen, dass vieles von dem, was ich vor einem halben Jahr hier im Forum geschrieben habe heute für mich Nonsense ist. Als ich auf den ersten CT ging, fand ich mich ständig überrascht von mir selbst.Die Leute sprachen von einer Variante von mir, die für mich als Person irrelevant war. Für sie als Personen stellte sie aber mich selbst dar.
90% der wertvollen Information ist total veraltert, da ich mich als Person weiter entwickle und viele Kontexte für mich selbst habe. Ihr könnt gerne in meiner verflogenen Zeit nach einem Schlüssel suchen, aber genauso gut könntet ihr die Erde, zu der mein Exkrement inzwischen geworden ist nach mir fragen.
Was hier auch erwähnt werden sollte, ist die Unsittlichkeit des Erinnerns.
Die moralischen Implikation der ständigen Erinnerung, die man im Internet über uns aufbaut sind nicht ganz unwichtig. Erinnern und erinnert zu werden ist mitunter unsittlich grausam. Einem Freund kann man den Unsinn, den er vor Jahren gemacht hat noch jahrelang nachziehen, wenn man sich erinnert. Insofern wie er darüber nichts mehr tun kann und aus der Ermahnung nur die versammelte Gruppe einer billige Erheiterung zieht, verletzt man dadurch die Freundespflicht. Für einen kurzen Moment vergällt man ihm die Gesellschaft der Freunde, stellt ihn an den Rand und weist ihn darauf hin, dass er seinen Platz in unserem Kreis hat und diesen auf eigene Gefahr bricht. Nur seine Anwesenheit hält den Damm der Erinnerung geschlossen. Dies ist eine recht gewöhnliche Form der gesellschaftlichen Grausamkeit, aber sie ist insofern noch verzeihlich, da ihr ultimatives Ratio die Bindung einer Person in einen ihr nicht unbedingt unangenehmen Kontext darstellt.
Ich verweise hier auf das erste Beispiel zurück. Es ist in meinen Augen unsittlich, dass ein Fremder glaubte, einfach so das Recht zu haben Stacy Synder an ihre Handlung zu erinnern.
Und nun auf, auf in die wundervolle Irrelevanz, mein Beitrag.