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Lehrling
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Ich sage dir, wer du bist
Ich sage dir, wer du bist. Du bist der Leser. Und wenn ich mich kurz vorstellen darf, ich bin der Autor. Ich bin dein Autor. Ich bin dein Gott, ich erschaffe die Wirklichkeit deines Lesens, ich schreibe jedes Wort, das du liest, und forme dich aus meinen Gedanken. Und wenn du Leser bleibst und nicht jetzt abbrichst (das steht dir frei), nach dem nächsten Wort das Buch ärgerlich zuschlägst und entschieden zur Seite legst (solche Geschichten mochtest du noch nie) dann wirst du etwas lesen, von dem ich, der Autor, denkt, dass du etwas Ähnliches noch nie gelesen hast und du nun in den Genuss etwas Besonderem kommst. (Das denkt jeder Autor von jedem seiner Texte, das sie etwas ganz Besonderes wären, genau so wie jede Mutter von ihrem Kind denkt es wäre etwas ganz Besonderes. In gewisser Weise ist das unschuldig, man könnte aber auch sagen, dass es töricht ist.) Leser, hörst du gerade jetzt auf deine wertvolle Zeit mir und meiner Schöpfung zu widmen, gerade hier nach dem abschließenden Punkt dieses Satzes, wirst du nicht mehr Leser sein. Und es wird auch keinen mehr geben, der dir sagt, wer du bist.
Na bitte, du liest also weiter. Aber ich muss dich warnen: es wird nicht spannend sein, auch nicht unterhaltend und es wird dir keine neuen Horizonte eröffnen. Und wenn ich ehrlich bin, ja so ehrlich bin ich und kann es auch sein, weil ich der Autor bin, es wird auch nichts völlig Neues sein, natürlich die Worte in eben jener Reihenfolge wirst du noch nie gelesen haben (Kopien untersagt sich der Autor aufs strengste), aber etwas Neues, etwas Bahnbrechendes, Revolutionäres wird es nicht sein, was du liest. (Ist das überhaupt noch möglich?) Es gibt einige andere Autoren, die so etwas wie dieses hier schon durchdacht und geschrieben haben (somit bin ich ein Gott unter Göttern) und Germanisten haben auch schon einen Fachterminus um es in eine Schublade einzuordnen. (Germanisten können alles einordnen). Was ich dir aber versichere, Leser: Was du liest, das wird von mir geschrieben sein. Mehr nicht.
Da sitzt du nun im Alten Botanischen Garten einer süddeutschen Universitätsstadt. Es ist heute (ein heute was auch morgen noch heute sein wird, weil dieses Wort nur diese eine Bedeutung hat: unausweichliche, unerträgliche Gegenwart, das Präsens des Hier- und- Jetzt). Heute ist der neunte Juni 2009 vierzehn Uhr acht und achtundfünfzig Sekunden (und es wird nie eine Sekunde mehr werden, sich kein Hundertstel verlieren oder hinzufügen, da ich nie vierzehn Uhr acht und neunundfünfzig Sekunden schreiben werde). Du bleibst im Jetzt und genau dort, ich schreibe dir noch eine Bank unter den müden Hintern, das gönne ich dir, aber dann bleibst du da sitzen, für diesen einen Moment, der erst enden wird, wenn du das letzte Wort dieses Textes gelesen haben wirst.
Am Himmel ziehen die Wolken der letzten Nacht vorbei. Geregnet hat es letzte Nacht, die Tropfen trommelten wild und unrhythmisch wie die Percussionsgruppe aus deinem Heimatort auf dem Dachfenster, du konntest nicht schlafen und in Gedanken an dieses wunderschöne Mädchen, dass du am nächsten Tag hoffentlich wieder im Alten Botanischen Garten sehen würdest, hast du dich unruhig von einer auf die andere Seite gewälzt. Das Mädchen in dem weißen Bikini mit den kleinen roten Punkten, du hofftest, du wünschtest dir inständig, dass der Regen mit der ersten Bläue die sich in dünnen Bahnen in das Dunkel der Nacht einwebt verschwindet und die Sonne deinen Tag erhellen würde, damit du sie wieder sehen könntest.
Und jetzt (ja, genau jetzt, wo du das liest), jetzt scheint die Sonne zwischen den grauweißen Fetzen deiner Welt hindurch. Ich habe dir deinen Wunsch erfüllt. Gut, ich gebe zu, das Mädchen, an das du dachtest hat auch mein Interesse geweckt. Ich wollte es auch sehen. Wir, du, mein Leser und ich, dein Autor, sitzen also jetzt zusammen auf der Bank im Park und warten auf das Mädchen. Das Gras ist vor kurzem von den Angestellten der Stadt geschnitten worden (Menschen mit „Migrationshintergrund“ oder Leute, die man in der Presse als „Ein- Euro- Jobber“ bezeichnet, Leute, die man dem „Abgeschnittenen Prekariat“ zurechnet und die sehr fern von deiner Lesewirklichkeit sind, Leute, die keine andere Wahl haben, also Laub zusammen zu rechen, Bäume in städtischen Grünanlagen zu schneiden und das Gras auf der Grünfläche zu mähen, auf der gestern- du erinnerst dich- dieses sagenhafte Mädchen lag.)
Von weitem erkennst du den Verrückten, den Spinner, der mit entblößtem Oberkörper über die Rasenfläche schlendert und immer wieder stehen bleibt, um körperlosen Gegnern Karatetritte zu verpassen. (Vielleicht kannst du seine Gegner aber auch nur nicht sehen.) Was du siehst, sind die Bankangestellten, sie laufen nie weniger als zu zweit, in ihrer kurzen Mittagspause, zwei Paar spitze Halblederschuh neben einander, über die gekiesten Wege des Parks. Du siehst ihre grauen Anzughosen und ihre schrillen Hemden und Krawatten in jeder Farbe des Regenbogens, als wollte der eine schneller als der andere über die Himmelsleiter in den Olymp aufsteigen. Wie wohl es dir doch wäre, denkst du, wenn sie einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte tragen würden. Schließlich ist die Bank für dich ein Ort der Trauer, die Zahlen des Kontoauszugs rot statt schwarz. (Woher ich das weiß?) Immer unterhalten sie sich entweder über Aktienkurse, sie selbst haben für ein paar hundert Euro auf dem Tipp eines „Freundes“ angelegt, oder sie spähen nach deinem Mädchen und reißen schlüpfrige Witze, die du nie gehört haben möchtest. Und plötzlich weißt du, dass sie nicht kommen wird. Es tut mir Leid, ich habe mein Interesse verloren. Sie wird heute nicht kommen und nie mehr. Das weißt du. Ich sage es dir. Ja, ich gestehe, das ist hart. Nein, dränge mich nicht. Du wirst sie nicht wieder sehen. Es ist besser für dich. Was hättest du davon, wenn sich deine Zuneigung zu mehr auswachsen würde? Wenn das zarte Pflänzlein deines Begehrens zu mehr werden würde, ich es zu einem Streben schreiben würde, gar zu so etwas wie Liebe emporhöbe? Du würdest tot unglücklich werden. Du würdest dich nie trauen sie anzusprechen. Wenn das Ganze hier in diese Richtung geht, dann bist du hässlich, ein Nichtsnutz, ein… Du würdest sie nie ansprechen. Das erlaube ich dir nicht. Du könntest sie höchstens von weitem betrachten. Mehr gestehe ich dir nicht zu. Du wärest tot unglücklich, glaube mir. Über fröhliche Menschen schreibe ich nicht gerne. Nein, ehrenwerter Leser, du bekommst keine Chance. Du kannst mir nichts geben, was ich nicht ohnehin schon hätte, was ich dir nicht vorher gegeben habe. Erfolg? Du, Leser, willst mir Erfolg geben. Du willst mich rühmen? Sei nicht albern, dafür ich schreibe ich zu schlecht. Liebesgeschichten lesen wohl viele Leute gerne, du hast Recht, aber ich gehöre nicht dazu und welcher Autor würde etwas schreiben, was er nicht auch lesen würde, ich, Autor, bin Gott und ein unverschämter Egomane. Die Richtung, in der sich das hier entwickelt gefällt mir nicht. Damit du aufhörst zu quängeln, biete dir einen Wettkampf an. Vielleicht wird es doch noch so etwas wie „spannend“- dieses ekelhafte Wort- aber auch ich möchte mich unterhalten. Lese:
Irgendwo zwischen dem Gare du Nord und dem Gare du l’Est. Es ist nach null Uhr. Eine der immerhellen Pariser Nächte. Über dem was geschehen wird, poltert die Metro. Es riecht intensiv nach Urin. Die Pfützen an den Stützpfeilern für die Metro kommen nicht vom Regen. Wir haben beide getrunken, ich trinke zu gerne, schon zum Mittagessen Weißwein in einem schönen Café direkt an der Straße. Du hast wenig getrunken, einen Pastis vielleicht. Ich bin ein großer Schwarzafrikaner, mich gibt es oft in Paris, groß und dunkel, mit glänzenden Muskeln, hohen Wangenknochen, ich arbeite irgendwo, dort wo mich keiner sieht und wo die Bezahlung schlechter ist, als es sich ein zivilisierter Mensch vorstellen kann. Du siehst mich gerne an, wenn ich in einem Hinterhof den Müll wegräume, ich bin für dich ein schönes Tier. Du bist kleiner, klein bist du, ein Magrehbiner vielleicht, sehnig und zäh, auch dich sieht man hier oft auf den Straßen, deine Eltern kamen vor dreißig Jahren aus Algerien hier her, Akademiker, ehrbare Leute, deren Stolz in der Metropole gebrochen wurde. Sie wohnen heute ihn Marsaille. Dein Vater rasiert sich sonnabends scharf aus und spielt mit seinen Freunden Boule, dazu trinkt er in kleinen Schlücken Pastis. Na gut, also los. Ich habe zu viel getrunken, kann mich schlecht wehren. Du schlägst mich und ich wanke, du schlägst mich wieder und wieder, ich taumle zurück, in deiner Hosentasche spürst du das Messer, aber du weißt, das wäre nicht fair und du kommst auch ohne es mit mir zurecht. Du prügelst auf mich ein. Ich stoße dich immer wieder von mir. Zwischen uns steht sie, sie ist wunderschön; gekleidet nach der neusten Pariser Mode: Schwarze kurze Stiefel, eine schwarze Strumpfhose, ein weites, aber kurzes Kleid. Sie ist dünn, aber nicht zu dünn, das ist Mode, ein tolles Gesicht, nicht das einer Puppe, es ist ein schönes Gesicht ohne im Betrachter Langeweile auszulösen. Sie ist weiß geschminkt mit tiefroten Lippen. Ich verstehe dich gut, sie ist begehrenswert. Für sie würde ich sterben wollen, genau so wie du es tun wirst. Du schlägst mich ins Gesicht, in den Bauch. Du versuchst mir die Beine weg zu treten, aber ich bleibe stehen. Unsere Szene ist unterlegt mit klassischer Musik, wie sie im Parkhaus vom Gare du Nord im Treppenhaus läuft. Das hat doch was? Sie schreit, ganz leise, dann lauter, bis es zu verstehen ist. C’est n’est pas juste. C’est n’est pas juste. Herrlich, nicht? Und ihre Stimme ist tiefer als ihr zarter Körper vermuten lässt. Ich liebe tiefe Frauenstimmen. Sie möchte dich zurückhalten. Das Spiel David gegen Goliath ist alt. Ich lasse es anders enden. Dieses Mal wird Goliath triumphieren. Du stehst zu nahe vor mir, hast mich unterschätzt, der besoffene Kerl kann nicht mal seine langen Krakenarme mehr heben. Du holst aus für einen Schlag in die Magengrube, irgendwann muss er doch einknicken, denkst du. C’est n’est pas juste. Ich habe Zeit. Ich sehe den Schlag voraus. Ich kenne deine empfindlichste Stelle. Ich wanke, aber bleibe stehe. Mir genügt ein Schlag, direkt ins Gesicht- ich spüre die wunderbare Kraft meiner jungen Muskeln, die Sehnen, das Zucken des Impulses vom Kopf in die geballte Faust, die Fingerknöchel, deine Haut, die Knorpel und Knochen deiner Nase darunter und ihr Nachgeben- die Nase schiebt sich ins Gehirn. Du bist tot. Mausetot. Das Mädchen küsst mich.
Ich danke dir. Für heute hatte ich meinen Spaß. Ich lege den Stift beiseite.
Geändert von Hänsel (23.06.2009 um 13:20 Uhr)
Grund: Ein paar mehr Punkte als Kommas. Und etwas mehr deutsche Rechtschreibung.
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