Resonanz wäre diesmal ganz schön.
Im Vergleich zu Pars pro toto habe ich meine Schreibgewohnheit geändert: Nicht alles toteditieren, lieber schnell zu einer inhaltlich kompletten Fassung kommen.


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Mein Jugendzimmer ist zweigeteilt. Hier, wo ich stehe, befindet sich der abgedunkelte Schlafbereich; vor mir eine Rumpelkammer, in der Licht brennt. Eine dünne, nachträglich hochgezogene Wand trennt die beiden Räume voneinander. Sie lassen sich über einen offenen Durchgang wechseln, wobei der erste Weg immer in den Schlafbereich führt.

Familie und Freunde haben sich in der Rumpelkammer versammelt. Ich schaue am Durchgang aus einem Winkel hinein, der das warme, gelbe Licht darin fern erscheinen lässt und mich missmutig stimmt. Stimmen dringen diffus und ununterscheidbar zu mir durch, als wäre ich unter Wasser. Mein Blick wandert zur dunkelbraunen Holzverkleidung des Durchgangs. Auf Brusthöhe fällt mir eine glänzend goldene Schraube auf, die schief und auch nur halb reingedreht wurde, augenscheinlich aber sowieso nie einem Zweck gedient hat. Zumindest bis jetzt, denn in mir weckt sie Hoffnungen auf einen warmen Schoß, in den es sich zu versinken und verlieren lohnt; auf Liebe; auf Zeitlosigkeit.
Ich gehe einen Schritt auf die anderen zu, da zieht mich ein gewaltiger Schmerz am linken Fuß wieder zurück. Mit Tränen in den Augen hebe ich ihn an, um zu sehen, dass in der Sohle eine goldene Schraube steckt, genauso glänzend wie die andere, aber groß wie ein Schienenbolzen und sauber bis zum Kopf drin. Solche Geschichten hört man öfters. Dass jemand in eine Schraube getreten ist, deren spitzes Ende oben wieder rauskommt. In meinem Fall kommt oben nichts raus - die Verletzung ist nur unten drunter zu sehen und bluten tut sie auch nicht.
Das Treiben in der Rumpelkammer löst sich auf, verteilt sich im ganzen Zimmer und ist teilweise im Begriff sich zu verflüchtigen. Ich versuche meinen Vater, der jetzt neben mir steht, auf meinen Schmerz aufmerksam zu machen. Nicht, damit er etwas gegen ihn unternimmt; ich will ihn nur wahrgenommen und geteilt wissen. Er ignoriert mich nicht, sondern grinst und fragt immer wieder nach, was ich ihm mitzuteilen versuche. Durch die Lichtverhältnisse und die allgemein heitere Stimmung der anderen muss mein verrotztes und schmerzverzerrtes Gesicht für ihn aussehen wie eine lustige Fratze. Wir beide mögen lustige Fratzen.

Ich bin am Bahnhof. Gleis 2. Es gibt kein Gleis 1. Ich muss eingeschlafen sein. Hier warte ich auf den Zug, damit er mich dorthin bringt, wo ich schon bin, oder wo ich herkomme - ich weiß es nicht. Die Einfahrt des Zuges bleibt von mir unbemerkt, denn ich bin noch mit meinem Fuß beschäftigt. Der Schmerz ist zwar weg, aber nur, weil ich mich davor hüte richtig aufzutreten. Mit meinem großen, schweren Koffer ist es schwierig auf einem Bein humpelnd einzusteigen. Ich schaue die ganze Zeit nach unten. Mein Fuß ist nackt; sauber und gepflegt, so dass sich keiner dran stört. Es ist interessant bei jedem kleinen Schritt vorwärts auf den metallischen Klang meines leichten Aufsetzens zu horchen - dumpf auf Pflasterstein und hallend auf der Einstiegskante.
Den Koffer auf die Gepäckablage gewuchtet und im Zug Platz genommen - Fensterplatz, Fahrtrichtung links - sehe ich meine Familie am Gleis stehen, wie sie mir verhalten zulächelt. Ich kann nicht reagieren, denn meine Augen werden schwer, wie immer auf Zugfahrten. Während wir losfahren, versuche ich meine Familie im Blick zu behalten. Ihr zaghaftes Lächeln wird breiter und je mehr sich der Zug vom Bahnhof entfernt, desto näher erscheinen mir ihre Gesichter. Erst als ich mich zur anderen Seite drehe, wird mir bewusst, dass ich wirklich unterwegs bin. Meine Augen werden wieder schwerer, klappen abrupt auf und zu, als lägen viele kleine Tunnel auf der Strecke. Schließlich schlafe ich ein.

In dichtem Gedränge werde ich wach. Ich kann kaum sehen oder überhaupt klar denken und lasse mich wie im Vollrausch aus meinem Sitz in den Mittelgang drängen. Der Schmerz in meinem Fuß zeigt sich, nachdem ich ihn während der Fahrt vergessen hatte. Auf Hacken verlasse ich den Zug und finde mich dort wieder, wo ich eingestiegen war. Es ist Nacht. Meine Sinne sind mittlerweile zurückgekehrt, da fällt mir auf, dass mein Koffer fehlt. In meinem Rücken fährt der Zug bereits ab. Eigentlich befindet sich in dem Koffer nichts Wichtiges: Dreckwäsche und ein paar Bücher. Für mich geht es trotzdem um Leben und Tod.
Jetzt stehe ich hier in der Dunkelheit, mit einem goldenen Bolzen in meinem Fuß und einem verlorenen Koffer.