„Alter, ich bin so angry, das geht gar nicht“, sagt Johannes, so heißt der Kerl nämlich. Das dritte Bier hat unsere Zungen endlich gelöst, wir sitzen nun in einer Kneipe nahe dem Bahnhof und schütten uns zu, nichts hilft besser dabei, eine Freundschaft für’s Leben aufzubauen, als Alkohol.
„Wieso, was’s los?“, frage ich.
„Ey … zuhause, pass auf, ich erzähl dir mal was. Ich mach jetzt Abi nach, hab vorher bei Aldi Verkäufer gelernt und mir war alles scheiß egal, ich wollte danach nur noch raus aus deren Mühlen. Jetzt mache ich Abi nach, hab noch ein Jahr und bin mega in Zugzwang, weil von allen Seiten einfach nur kommt …“
Ich falle ihm ins Wort. „Studier bloß was richtiges, womit du auch Geld verdienen kannst.“ Ich ahme unbewusst die Stimme meiner Mutter nach.
„Ja ja ja ja ja“, flucht er. „Ja ja ja. Genau. Mudder und Vadder waren zuhause mal sau nicht hilfreich, boah ich hab nie richtig eine pubertäre Phase ausprägen können, weil von deren Seite sowieso alles klar ging. Das macht gar keinen Bock, dich mit 14 zu besaufen, wenn dir dafür keiner ein schlechtes Gewissen machen will und so. Du lernst gar nicht, wie man aneckt. Alter, ich kann das heute noch nicht. Guck dir das hier mal an.“
Er hebt sein Bein und klatscht seinen Schuh auf den Tisch, woraus folgt, dass die Kellnerin uns einen vernichtenden Blick zuwirft und schon einschreiten will, doch schnell genug findet sein Schuh den Weg zurück auf den Boden.
„Guck dir die Scheiße an, mit den Schuhen könnte ich noch locker zwei Jahre laufen, in den Dreck gehe ich ja nicht. Und letzte Woche sag ich mir völlig irrational: Ich brauch neue Schuhe. Alter, wie behindert ich bin. Jetzt hab ich neue Treter für scheiß fünfzig Euro und was ist? Ich renn mit denen hier rum, weil die anderen kann ich ja nicht anziehen. Die sind ja neu!“
Das kommt mir so bekannt vor, ich lasse ihn aussprechen.
„Auf der einen Seite schimpfe ich wie so’n Idiot über Konsumgesellschaft hier, Kommerzscheiße da und dann wiederum renne ich hinter irgendwelchen Marken-T-Shirts her. Boah ich hab so’n Hass, manchmal. Ich will auch nicht so werden wie meine Ellis, die haben ihren Hof und streben nach nix mehr, Vadder will noch arbeiten, bis er kaputt ist und Ende. Toll. Bloß nicht anecken, bloß nirgendwo anecken, ich hass das so, weißte? Immer den Ball flach halten, immer schön feucht bleiben und überall durchflutschen. Ich hatte nie ne Schlägerei, ich hatte gar nichts in der Richtung, das hat mich total schwach gemacht.“
„Kenn ich“, sage ich und bestelle uns zwei weitere Biere. Jetzt, wo ich spreche, vernichtet er seines beinahe ex. Saufen kann er. „Weiß genau, was du meinst. Stell dir mal vor, einer fährt auf nem Fahrrad an dir vorbei und guckt dich blöde an. Was willste am liebsten machen?“
Er rülpst. „Dem auf die Fresse hauen.“
„Ja!“, rufe ich aus und der Nachbartisch wirkt alarmiert. „Du willst dem auf die Fresse hauen, du willst alles von dir werfen, stehen und liegen lassen und dem hinterher rennen, ihn von seinem scheiß Fahrrad runterzerren und ihn so kaputt schlagen, dass er für’s Leben gezeichnet und behindert ist. In Wahrheit fragt der dich aber, warum du so scheiße guckst. Und was machst du?“
„Mich entschuldigen“, sagt er und schüttelt den Kopf, als könne er nicht fassen, wie ähnlich zwei Menschen die Welt sehen können.
„Ja, du senkst den Blick und sagst Entschuldigung, das meinst du nicht so, aber du willst ja auch keinen Stress.“
Die Kellnerin unterbricht mich, sie bringt unsere Biere.
„Zwei Tequila“, sage ich.
„Es ist kurz nach zwölf Uhr mittags“, wendet Johannes ein.
„Worüber reden wir eigentlich grade?!“, bringe ich mich gegen ihn auf.
„Bring gleich vier“, sagt er zu der Kellnerin und sie zieht von dannen. Sie sieht nicht so aus, als liebe sie ihren Job. Sie sieht aber auch nicht so aus, als würde sie jemand lieben.
Er zieht die Hälfte des neuen Bieres runter und knallt das Glas auf den Tisch – neben den Bierdeckel –, dass der Inhalt überschwappt. „Das Problem ist doch, dass wir keine Eier haben.“
Ich will schon widersprechen, finde das aber sinnig, also höre ich zu.
„Alter, wir haben keine Eier. Kollege vom Kollegen von mir, wir nennen den alle nur Fotzi, aber frag mich nicht warum. Fotzi hat Abi gemacht, hat sau die Bonzeneltern und meint nach’m Abi: Ich hau mal nach Indien ab. Alter, dann hat der drei Jahre in Indien gelebt, wo du für’n Euro wochenlang speist wie’n Kaiser, ja und dann ist der weiter Richtung Japan. Seine Ellis hören jahrelang nichts mehr von dem, weil er mega asozial ist und auf alles scheißt. In Japan geht der hin, quartiert sich bei nem Schreiner ein, kann keinen Ton japanisch und verständigt sich mit dem nur über Gesten und ich denk mir nur: Was – is – los? Warum hab ich die Eier nicht? Einfach mal auf alles scheißen und so.“
Punkt an ihn, die Kellnerin stellt den Tequila bei uns ab und ich ordere neue. Bevor wir weitersprechen vernichten wir die ersten Pinnchen. Heute interessiert es uns nicht und dass mich später noch ein Vorstellungsgespräch erwartet hätte, ist mir auch egal.
„Was willst du’n studieren?“, frage ich beiläufig.
„Kein Plan, ich weiß es nich’.“
„Findeste nix gut?“
„Alter nein, ich find alles scheiße. Ich seh die Dinge viel zu realistisch, alles was auf eine Art toll ist, ist auf 100 Arten behindert und das kotzt mich voll an. Ich gehör ja auch nirgendwo zu, ich bin ja kein Emo, kein Punk, kein Rocker, keiner von den schwulen Studis, die nur megaexklusive Weiber bangen und so. Es gibt ja Leute, die gehen hin, lassen sich von oben bis unten tätowieren, sehen aus wie geschissen und fühlen sich dabei mega geil. Das ist deren Identität. Ich hab gar keine Identität. Woher denn?!“
Die zweite Ladung. Bamm, das brennt.
„Ich hab gar keine Identität, ich weiß gar nicht, wer ich bin und was ich machen will, weil ich alles sau kacke finde. Ich sag dir, wenn morgen einer anruft und sagt: Morgen bring ich dich um, Alter, ich würd’ dem sagen: Lass kommen, weil ich echt auf alles scheiße. So von Natur aus.“
Das kommt mir nun vollends bekannt vor, ich nicke und stütze die Ellbogen auf. Ich kann fühlen, wie die Rage, in der er sich hineinredet, auf mich übergreift. Wir sind nicht wütend auf irgendjemanden, wir sind wütend auf uns und das macht uns gerade zu Verbündeten, zu Freuden. Wütenden, angetrunkenen Freunden.
Vor mir steht nichts mehr zu saufen, das macht mich im Augenblick noch wütender.
„Ich kenn eine“, sage ich und merke, wie mir die Galle hoch kommt. „Ich kenn eine, die ist mega öko drauf. Die rennt rum wie der letzte Schlunz und geht jedem mit ihrer Ökoscheiße auf den Sack. Fernsehen hat der Teufel erfunden und so. Die saß mal inner Klapse, weil sie über alle möglichen Drogen voll psycho geworden ist und hat sich früher vor Castortransporte geworfen, so behindert ist die.“
„Ach was!“
„Weißt du was? Die hat gelebt, die ist heute völlig mit sich im Reinen, die weiß, wer sie ist und die ist so scheiße im Kopf, dass sie mega zufrieden ist. Gibt’s das?“
Johannes sieht mich abwartend an.
„Wir sind aber auch von Natur aus benachteiligt“, sage ich.
„Wat?“, fragt er.
„Ja, ernsthaft, ich mein, guck dir die ganzen Player an. Sehen genetisch bedingt aus wie in Stein gemeißelt, müssen nur zweimal in ihrem Leben eine Hantel heben und werden ihren Traumbody nie wieder los und deren Tussen benutzen ihre überdimensionierten Pimmel als Maulsperren und wenn die Tussen nicht spuren, dann behandeln die Kerle die einfach scheiße und dafür sind die blöden Hühner dann dankbar.“
„Dem ist nichts mehr hinzuzufügen“, sagt er und erzeugt ein Paradoxon, dass mich in meinem angeheiterten Zustand verwirrt. „Und die haben nicht nur riesige Schwansen, die haben auch noch Eier.“
Ich stimme zu.
„Die haben Eier“, wiederholt er. „Die haben Eier und ich hab keine. Die ficken eine nach der anderen und ich krieg nichts auf die Reihe.“
„Stell dir mal vor“, sage ich. „Stell dir mal vor, in zehn Jahren stehst du mal vor nem Swingerclub und willst einfach mal ausflippen und dann stehste da und traust dich nich’. Dann rufste dir’n Taxi und fährst nach Hause.“
Vor lauter Wut legt er den Kopf in den Nacken und ahmt den Schrei eines Dinosauriers nach!
„BOAH GENAU!“, ruft er und die anderen Gäste nehmen nun endgültig Anstoß an unserem Verhalten. Als er mich ansieht, hat er wieder den irren Blick von vor einer Stunde. „Der Taxifahrer ist dann irgendso’n fetter Libanese oder so und den interessiert alles einen Scheißdreck und ich sag dann zu dem, ich hätte mich verlaufen, weil ich mich vor nem fetten Libanesen schäme. Ich rechtfertige mich vor einem fetten Libanesen, weil ich mich schäme! So geht’s doch nicht weiter!“
Er haut mit der Faust auf den Tisch, dass es unsere Gläser abräumt.
Fünf Minuten später, wir mussten den Schaden ersetzen, stehen wir auf der Straße. Eine stinksaure Kellnerin, zusammen mit einem stinksauren Geschäftsführer, hat uns auf die Straße gesetzt. Die nächste Zeit braucht sich keiner von uns mehr dort blicken zu lassen. Wir sind nicht weniger wütend. Und die brennende Sonne macht uns nicht weniger angetrunken.
„Weißt du, was wir machen sollten?!“, fahre ich ihn an, obwohl er mir nichts getan hat. „Alter, wir lassen uns Bärte wachsen!“
„Nicht mal der wächst bei mir ordentlich“, jammert er.
„Maul, wir lassen uns Bärte wachsen. Wir hören auf, uns die Zähne zu putzen, wir …-“
„Ich will nicht aufhören, mir die Zähne zu putzen. Das ist sau eklig und daran ist nichts cool“, beschwert er sich.
„Wir hören auf, uns die Zähne …-“
„Daran ist nichts cool!“
„Ja dann putz dir deine Scheißzähne halt weiter! Mir egal, aber lass dir nen Bart wachsen und dann stehen wir jeden Morgen um vier Uhr auf und fressen Cornflakes und mit verdammten Cornflakes meine ich Haferflocken, eingeweicht in Doppelkorn und wir verlassen das Haus, wenn überhaupt, nur noch schwer alkoholisiert und machen alles kaputt und …“
Er sieht skeptisch aus.
„… und wenn das langweilig wird, treten wir dem Islam bei und gehen in die Wüste und lernen Kamele zu reiten und dann suchen wir uns Gleichgesinnte, die sich mit uns besaufen und plündern wie eine Horde grantiger Sarazenen irgendwelche Dörfer und ficken alles kaputt!“
„Nein.“
„Ja, aber du weißt, was ich meine, verfickte Scheiße!“
Er sieht zum Himmel und nimmt einen tiefen Atemzug, dann nickt er und sagt: „Ja.“
Er weiß ganz genau, was ich meine.