Naja, aber wie willst du dich denn mit einem Stück kalten Stein identifizieren. Ich finde, deinen Charakter kann man viel leichter abtun als andere. Dein Charakter ist mir regelrecht unsympathisch, weil er in den Bildern in meinem Kopf in seinen gebleichten Jeans nichts weiter macht, als rational vor sich hinzuexistieren, er hinterfragt diese Ruhe ja nicht einmal, er nimmt sie quasi als gegeben hin, tja, eben noch ein unwichtiges Ereignis in einem ansonsten genauso unwichtigen Leben. Bei dieser blinden, leeren Rationalität bleibt das Gefühl eben auf der Strecke (und der Text gewinnt eben auch nicht gerade an Spannung oder Tiefgründigkeit). Ich meine, du überschätzt deinen Leser dort, wo du von ihm verlangst, Charakterzüge in das Stück kalten Steins reinzumeißeln, und unterschätzt ihn deutlich dort, wo du ihm zutraust, deine Skulptur eines Charakters unreflektiert beiseite zu stellen.
Das mit den Literaturvorstellungen ist übrigens falsch rüber gekommen (und das liegt an mir, weil ich mich nicht deutlich ausdrücken kann). Der Charakter im amerikanischen Mainstream (der nunmal vorwiegend zu uns rüberschwappt) ist per definitionem ein gesellschaftlich akzeptiertes Bild (Workaholic aus einer tieferen Gesellschaftsschicht, der sich an die Spitze arbeitet; Nerd; cooler Typ, dessen in der Realität eher untugendhaften Charakterzüge glorifiziert werden; Ausländer, der sich in der weißen Gesellschaft beweist; ungeouteter Schwuler zwischen Akzeptanz und strikter Ablehnung von Außen; etc.pp.). Da gibt es nur so kleine niedliche Neurosen wie Tollpatschigkeit, Schminkwahn, Stalkern, Zwangsstörungen (die prinzipiell belustigend dargestellt sind - "Woohoo! Schaut mich an; ich muss mich selbst immer wieder demutigen, wie lustig ist das denn!"). In Europa wird das so gut aufgenommen, weil es als feuchtfröhliches Abenteuer epischen Ausmaßes umworben wird, aus Amerika kommt und es grundsätzlich ein Produkt mit höchster Qualität ist - wir würden zum Beispiel weniger Hollywoodfilme gucken, wenn die Kameratechnik nicht so verdammt gut wäre -, obwohl es immer das selbe Geleier um die selben langweiligen Charakter ist, die dann auch noch in einem verqueren Rollensystem, das aller paar Jahre mal wechselt, verhaftet sind.
In Europa (wohlgemerkt dort, wo man nicht versucht, die Amis nachzuahmen) ist ein Charakter schonmal grundsätzlich psychisch gestört, immerhin sind wir die Erben Freuds und einer Menge verschrobener Leute (Rilke, Buñuel, Napoleon), da hat jeder noch so normale Mensch psychische Konflikte - selbst Harry Potter ist nach dem Schema aufgezogen. Letztenendes könnten wir uns ohne dieses Bild des abnormen Menschen gar nicht mehr mit unserer eigenen Kultur identifizieren, genausowenig aber verstehen wir emotionale Zusammenhänge, wenn der Charakter nicht ein Mindestmaß an Irrationalität - dargestellt in seiner abnormen Form - mitbringt. Ein Grund dafür, dass dieses "typisch amerikanische Charakterbild" (ich weiß, dass es genug Ausnahmen gibt und diese Pauschalisierung eigentlich entsetzlich doof ist) sich nur in Krimi, Thriller, Comedy und schnulzige Romane ohne tiefere gesellschaftliche Abstrusitäten übersetzen lässt.
Dein Charakter ist jetzt so ein leeres Schema, allerdings als tragenden Rolle in einem Text, der ein Gefühl vermitteln will. Das ist ein bisschen wie die Neuverfilmung von "Die Welle": Tiefgreifendes Konzept mit schlechten Darstellern, die die noch schlechtere Charakterausprägung so rüberbringen, dass der eigentliche Gedanke verfälscht und in Fragwürdigkeit versenkt wird (und das wie jeder deutsche 08/15-Film damit endet, dass jemand mit ner Waffe in der Hand davon überzeugt werden muss, das Teil wegzulegen, um noch etwas Drama einzufügen - Gott, der Film ist grausig). Kurzum: Dein Protagonist denkt und fühlt zu wenig (und ja, auch Ruhe und Leere muss man in einer gewissen Weise fühlen), dein Leser wird in eine unangenehme Distanz versetzt, die erzählende Medien niemals geben sollten (das ist wie der stinkende Typ im Bus: man kennt ihn nicht, weiß nicht, ob er sich für seinen Gestank schämt und letztendlich ist das einem auch egal, weil er einfach stört - in einem Buch ist der Typ ein desillusionierter Säufer à la Harry Haller).
Das klingt jetzt alles erstmal derbe fies und überheblich, nicht zuletzt, weil ich deinen Text in gewisser Hinsicht gerade in den Schmutz geredet hab. Ich wäge mich aber, bereits genug von dir gelesen zu haben, um zu sagen, dass du das besser kannst und dass es hier einfach nur an (zugegebenermaßen recht essentiellen) Details scheitert. Beispielsweise müsstest du deinem Leser auch mehr Denkanstöße hinwerfen (das was ich zitiert hatte, war ein ausgesprochen guter), damit er zumindest versucht, Zugang zu der Figur zu finden; wie gesagt ist Irrationalität das Mittel schlechthin (warum spricht der Typ da solchen Nonsense - ist er vielleicht verstört?). Außerdem solltest du, gerade wenn du auf Charakterhüllen baust, die der Leser füllen soll, in der ersten Person schreiben, weil dann die Distanz zum Protagonisten erstmal überwunden wird und man sozusagen den Herzschlag mit ihm teilt (nicht zuletzt schreibt man ihm dann auch intuitiv mehr Lebensnähe auf den Leib). Weiters müsste man ihn auf eine Augenhöhe mit dem Leser bringen:
Das erhebt den Protagonisten über den Leser (oder umgedreht? Ich finde diese Vorstellung, die Individualität überwunden zu haben, jedenfalls beinahe grausam), entfremdet beide noch mehr voneinander, als der natürliche Zustand des Fremdseins das jemals könnte. Diese Entfremdung kann sogar gut sein, sie kann sogar etwas ausdrücken, aber dann musst du das deinem Leser näherbringen, bspw. zeigen, wie es dazu gekommen ist oder was eigentlich das Besondere an der Fremde ist.Zitat
Alles was ich sage, ist, dass die charakterliche Tiefe auf die Textintention abgestimmt sein sollte; dieses Gleichgewicht fehlt hier eben ein bisschen.
Du schreibst ansonsten mit wünschenswert großem Feingefühl, vor allem stichst du damit auch eindeutig aus diesem großen grauen Sud von "Ich will was schreiben, aber dabei nicht erzählen müssen!" heraus. Es fehlt aber zumindest hier an einer gewissen Personalisierung; ich hatte bis auf ein paar Grundinformationen auch fast schon wieder vergessen, worum es in dem Text eigentlich geht, weil in meinem Kopf immer dieses <Fügen Sie hier bitte eine beliebige Charakterisierung ein.> aufblinkte (und Bryan Adams machte diese Vorstellung nicht unbedingt angenehmer ;P ).