Die Nacht war klar und kalt. Hoch am Himmel thronte der Mond über der Stadt und warf sein schwaches Licht auf sie. Nachtwind lag an der Grenze zum Nordreich und galt als gut befestige Handelszentrale. Sie schmiegte sich an das Nahe Gebirge und hatte somit einen natürlich Schutz von Hinten. Die Mauern waren gerade so hoch, dass sie die unteren Häuser überragte.
Ein kühler Westwind kam von Westen und trieb den Rauch aus den Schornsteinen nach Osten. Durch eine der Gassen zwischen den hohen, eng aneinander gebauten Häusern gingen zwei in dunkle Mäntel gehüllten Personen, ein Mann und eine Frau. Beide verbargen ihr Gesicht unter einer Kapuze. Ihre Schritte lenkten sie auf eine größere Straße zu, der Handelsweg, und dort dann gen Süden zu einer Taverne. Von außen ließ sich schon erkennen, dass dies kein Haus für einfache Hafenarbeiter war. Die Fenster waren aus dickem Milchglas und das gelbe Licht aus dem Inneren fiel durch sie hindurch auf die Pflastersteine. Über der dicken Eichentür hing ein Schild, auf dem ein Bett und Besteck abgebildet waren.
Einer der Beiden öffnete die Tür, und sie traten ein. Es war warm und Pfeifenrauch hing in der Luft. Als der Mann und die Frau den Schankraum betraten, schauten einige Leute, einschließlich des Wirtes, sie mit prüfenden Blichen an und begannen zu tuscheln. Sie gingen auf einen Tisch am anderen Ende des Raumes zu. Die Frau zog den Umhang aus und hängte ihn an ihren Stuhl. Fragende Blicke der anderen Gäste trafen sie, denn ihre Kleidung war seltsam und in einer Hand hielt sie einen Totenschädel in.
Die Frau kam aus den östlichen Ländern, was durch ihr Äußeres deutlich wurde. Ihre Haut war leicht gebräunt, sie hatte leicht schräg stehende, mandelförmige Augen, eine kleine Nase und lange, glatte schwarze Haare. Ein erneutes Tuscheln und Flüstern ging durch den Raum, denn solche Leute sieht man hier, so weit im Norden, nur sehr selten. Der Mann hingegen gab sich nicht zu erkennen. Er behielt seinen Mantel an und verbarg sein Gesicht auch weiterhin unter der Kapuze. Unter dem Stoff seiner Kleidung holte der Mann zwei leicht gekrümmte Schwerter, die in ihrer Hülle steckten, hervor und legte sie auf den Tisch. Dann setzten sich beide hin.
Die Ostländerin streichelte mit ihren Fingern der einen Hand, über den Schädel in ihrer anderen. Sie flüsterte leise etwas und schaute das Knochenstück fragend an. Dann nickte sie ihm zu und schaute aus dem Fenster. Nach kurzer Zeit kam eines der Schankmädchen an ihren Tisch. „Kann ich euch etwas bringen?“, fragte sie und stützte sich an ihrer Hüfte ab. Eine tiefe, raue Stimme drang unter der Kapuze hervor als der Mann zu Reden begann: „Ein Krug Met und einen Becher Ziegenmilch.“ Die Ostländerin beklagte sich mit ihrer hellen und klaren Stimme: „Ziegenmilch? So jung bin ich nun auch nicht mehr! Lass mich auch einen Krug Met trinken, ich würde so gern wissen wie er schmeckt“, Sie hob den Schädel an und drehte die Augenhöhlen in die Richtung ihres Begleiters, „Mein Freund hier würde es auch gerne einmal probieren“, sagte sie und legte eine flehende Miene auf. Fin wunderte sich immer noch über sie. Trotz ihres Alters benahm sie sich manchmal wie ein kleines Kind. Er vermutete, dass dies mit ihrer Vergangenheit zusammenhängen musste, irgendein Trauma oder eine Störung.
„Nein“, antwortete der Mann knapp. „Ach komm schon, bitte Fin, nur dieses eine Mal!“, jammerte sie, lehnte sich über den Tisch und kam mit dem Knochenschädel dichter an ihn heran. Eine kurze Stille trat ein. Dann schnaubte die Ostländerin und setzte sich wieder richtig auf ihren Stuhl. Verärgert drehte sie sich wieder zum Fenster und drückte sich das Knochenstück an die Wange. Das Schankmädchen wartete kurz, und als keine weitere Regung zu sehen war, ging sie zurück zur Theke und gab die Bestellung auf.
Die Ostländerin schaute kurz zu Fin hinüber. Er saß wie immer da, wenn sie in einer Taverne waren, steif und still. Es schien fast so, als konzentriere er sich auf etwas. Zudem verbarg er sein Gesicht unter der Kapuze, sodass sie auch keine Schlüsse aus seiner Miene ziehen konnte. Langsam drehte sich die junge Frau wieder zurück und legte den Schädel auf den Tisch, ließ aber eine Hand bei ihm. „Morgen gehen wir also zur Burg, oder? Dort wartet doch unser Auftraggeber nicht war? Wenn ich mich richtig erinnere, der Stadtherr von Nachtwind“, begann sie. Fin jedoch gab keine Antwort von sich. Aus Langeweile trommelte die Ostländerin mit den Fingern einer Hand auf dem Holz des Tisches. Plötzlich ertönte die Stimme unter der Kapuze wieder: „Mizoku, bitte!“ Die junge Frau stöhnte und hörte auf mit den Fingern herum zu spielen. „Was hast du nur immer, wenn wir in einer Taverne oder an anderen öffentlichen Plätzen sind?“, fragte sie. Wieder gab es keine Antwort.
Nach kurzer Zeit kam das Schankmädchen mit den bestellten Getränken zurück und stellte sie auf den Tisch. Die Rechnung bezahlte Mizoku mit ein paar Silbermünzen aus einem ihrer Säckchen am Gürtel. Widerwillig nahm sie die Ziegenmilch und trank ein paar Schlücke. Dann starrte sie auf ihren Begleiter. Sie war nun schon seid einiger Zeit mit ihm unterwegs. Damals hatte Fin sie aufgenommen, nachdem er sie halb verhungert am Straßenrand gefunden hatte. Schon da war er recht ruhig und still gewesen. Er verdingte sich seinen Lebensunterhalt wie heute immer noch als Söldner. Sie selbst begann irgendwann ihm zu helfen. Zwar konnte sie nicht besonders mit irgendeiner Waffe umgehen, allerdings beherrschte sie die Kunst der Magie, und das nicht einmal schlecht für ihr Alter.
Fin regte sich kurz. Seine Schultern verspannten sich und sein Griff um seinen Krug mit Met wurde stärker, bis der Ton nachgab und das Gefäß zerbrach. Das süße Getränk floss auf den Tisch und verteilte sich dort. Fins Hand presste auf das Holz. Mizoku sah hilflos zu ihm. Dann beruhigte sich ihr Gefährte auf einmal wieder und schien wie aus einem Traum erwacht. Eine der Schankmaiden kam zu ihrem Tisch mit einem Tuch in der Hand. „Entschuldigt, das wollte ich nicht“, erklärte sich Fin, trocknete den Tisch ab, und sammelte die Scherben in der Mitte des Stoffes. Dann kehrte die Kellnerin zurück zur Theke.
Mizoku fragte erst gar nicht, denn sie wusste, sie konnte keine Antwort erwarten. Die Zeit verstrich, und nachdem die Ostländerin den letzten Schluck der Ziegenmilch getrunken hatte, stand Fin auf. „Wir nehmen uns hier ein Zimmer, morgen früh werden wir unseren Auftrag entgegen nehmen“, sagte er, nahm seine Waffen und schritt auf die Theke zu. Die junge Frau warf sich den Umhang um, und folgte ihm, mit dem Schädel in der Hand. „Ein Zimmer bitte“, begann Fin. Der Wirt sah die beiden prüfend an, dann schüttelte er den Kopf: „Tut mir leid, wir sind voll belegt.“ Der Söldner holte einen Beutel mit Münzen hervor und ließ ihn auf die Theke fallen. „Ein Zimmer bitte“; wiederholte er. Die Augen des Wirts wurden größer und er nickte leicht: „Da fällt mir gerade ein, wir hätten da noch eines am Ende des ersten Stockwerkes zur Verfügung. Einfach nur die Treppe rauf und dann die letzte Tür rechts.“ Fin holte fünf Münzen heraus und gab sie dem Wirt. „Das müsste reichen“, sagte er und ging dann auf die Treppe zu, gefolgt von Mizoku. Der dickliche Tavernenbesitzer drehte das Ende seines Bartes zwischen seinen Fingern und ließ das Geld in seinen Händen klimpern.
Im Zimmer angekommen, ließ sich die Ostländerin auf das Bett fallen: „Ah, wie schön, ich bin müde vom langen Reisen.“ Den Schädel legte sie neben das Kissen und den Umhang auf den Boden. Fin setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum, und öffnete zuvor das Fenster. Dann entzündete Mizoku die Kerze, die in einer Halterung an der Wand hing, mit einem Zauber. Der Söldner warf die Kapuze zurück und sein Gesicht kam zum Vorschein. Es war nicht besonders schön, aber ehrlich. Was allerdings viele Leute abschreckte, waren die schwarzen Linien, die sich über die gesamte rechte Hälfte zogen und unter seiner Lederrüstung verschwanden, dazu kam noch, dass das rechte Auge komplett weiß war, ohne Pupille, wie von einem Blinden.
Sie nahm den Schädel wieder in die Hand und hielt ihn über sich der Zimmerdecke entgegen. „Was glaubst du, was das für ein Auftrag ist, den der Stadtherr für uns hat?“, fragte die Ostländerin. Fin drehte sich um und schaute zu ihr. Er wollte gerade etwas sagen, als Mizoku wieder das Wort ergriff: „Wirklich? Ein Auftrag der uns weiter in den Norden führt?“ Fin lächelte. Er hatte ganz vergessen, warum sie damals, dort am Waldrand lag. Sie wurde vertrieben, nachdem sie einen Schädel aus einem der Hausaltare in einem Dorf geklaut hatte. Mizoku erzählte ihm, sie könne mit den Toten reden. Er glaubte ihr.
„Gehen wir morgen direkt zur Burg?“, fragte die junge Frau. Nach kurzer Zeit begann sie von neuem: „Fin, hörst du mir zu? Ich hab dich was gefragt!“ Der Söldner drehte sich zu ihr. „Ich dachte du würdest immer noch mit ihm sprechen“, sagte er, „Ja, wir gehen morgen direkt zur Burg. Vorräte und andere Besorgungen machen wir erst, wenn wir wissen, was unser Auftrag ist.“ „Ich frage mich, warum uns der Stadtherr nicht in seinem Schreiben mitgeteilt hat, um was es geht“, flüsterte die Ostländerin. „Der Botschafter meinte, dass es verständlicher wäre, wenn er es uns selbst erzählen könne“, gab Fin von sich. Mizoku drehte sich im Bett auf die Seite und legte den Schädel vor ihr Gesicht. Mit den Fingern fuhr sie die Kanten entlang und starrte in die schwarzen Augenhöhlen.
Der Söldner stand auf und entledigte sich von seiner Rüstung. Darunter trug er ein Wollhemd und eine Wollhose. Das Hemd zog er aus. Um seine Haut, einschließlich der Arme, Hände und Beine, waren graue Bandagen gewickelt. Mizoku wusste, dass er damit das Muster von schwarzen Linien verdecken wollte. Sie hatte bisher nicht erfahren was es damit auf sich hat.