Bithor wurde wieder einmal von der Unruhe geweckt, die an diesem Morgen im Dorf herrschte. Die Bestien mussten wieder einmal zugeschlagen haben. Aber wer war das Opfer? Langsam erhob sich Bithor aus seinem Bett und marschierte auf seinen Stab gestützt zum Dorfplatz und versuchte die Richtung auszumachen, aus der das Getuschel stammte. Ein Schrecken durchfuhr ihn, als er sie endlich identifiziert hatte. Die Bestien hatten doch nicht etwa ...

Eiligen Schrittes wandte sich Bithor dem Pfad zu Olmas Haus zu. Die Stimmen wurden lauter und in ihm wuchs die innere Verzweiflung. Die Bestien hatten es tatsächlich fertig gebracht, die Dorfälteste Olma zu ermorden. Kalte Wut wuchs in ihm. Nicht einmal vor dem Alter hatten die Bestien jetzt noch Respekt. Bithor hatte Olma gekannt seitdem er ein kleines Kind war. Früher hatte er sie sogar als "Oma" angesprochen. Salzige Tränen flossen seine Wangen herunter. Olma war tatsächlich das letzte Überbleibsel seiner Kindheit gewesen. Er würde sie definitiv vermissen. Schlagartig wurde ihm allerdings auch bewusst, dass er nun das älteste Mitglied der Dorfgemeinschaft war. Hoffentlich würde niemand auf die Idee kommen und ihn nach weisen Ratschlägen fragen. Dafür war er vielleicht die denkbar unpassendste Person und Olma konnte er eh nicht ersetzen.

Durch den grauen Schleier schnappte Bithor jedoch den Begriff "seltsame Kugel" auf. Angestrengt dachte er nach. Irgendwo hatte er schon einmal etwas davon gehört. Aber wo nur? Plötzlich fiel es ihm wieder ein und er ehob seine Stimme:

"Mivey, womit wir es hier zu tun haben, ist kein Teufelswerk. Nein, vielmehr handelt es sich um eine Tradition, die lange vor deiner Zeit und lange bevor Leute wie Vater Nerys oder Niniel in diese Gegend kamen, praktiziert wurde. Es handelt sich dabei, um eine Überbleibsel der alten Religion, die einst sehr mächtig in dieser Gegend war. Heute künden nur noch die Sagas von dieser Tradition und nur noch wenige Menschen sind in der Lage die alten Bräuche korrekt auszuüben.

So wie du das Objekt beschreibst, muss es sich dabei um eine der legendären Göttinnenkugeln handeln, die angeblich alle zerstört wurden. Es wundert mich, dass es tatsächlich immer noch eine davon gibt, aber es passt zu Olma, dass sie die Hüterin eines solch großen Schatzes war. In Verbindung mit den alten Traditionen ermöglicht sie nämlich, die wahre Identität einer Person zu erfahren. Leider wird sie ihre Tradtion nun nicht mehr an die nächste Generation weitergeben können."


Behutsam hob Bithor die Kugel auf und nahm sie an sich.

"Bei mir wird sie wohl am besten aufgehoben sein. Es ist gut, dass Niniel gerade auf Reisen ist. Er würde diesen Gegenstand wahrscheinlich lieber gestern als heute zerstört sehen."

Noch einmal musste er sich beim Gedanken an die tote Olma eine Träne wegdrücken. Blinde Wut erfasste ihn, als er an die Bestien dachte. Rasch drehte er sich zu der ohnmächtigen Aurelia um, wies mit dem Stab auf sie und begann zum Dorf zu sprechen:

"Nun aber zu dir, Aurelia! Wie aus meinen Beschreibungen hervorgeht, müsste dir klar sein, dass Olma über das zweite Gesicht verfügte. Erinnern wir uns einmal an Olmas letzte Aussagen, als wir alle zusammen saßen und diskutierten, wer ein Werwolf sein könnte. Olma hat damals eindeutig darauf hingeweisen, dass wir Aurelia im Auge behalten sollten.

Wisst ihr, was ich vermute? Ich glaube, dass Aurelia uns die ganze Zeit etwas vorgespielt hast. Oh ja, sie hat die Rolle überzeugend gespielt, um uns alle in Sicherheit zu wiegen. Aber zieht man Olmas Fähigkeiten in Betracht, so bin ich der festen Überzeugung, dass sie eine der Bestien ist!"


Mit diesen Worten streckte Bithor die Kugel demonstrativ mit beiden Händen in die Luft und ließ sie in der Sonne glänzen.