Im fünften Stock angekommen entpuppte sich Mister Eastworl als ein, wie seine Tochter fröhlicher und pummliger, Mittsechziger, der, kaum hatte ich den Raum betreten, auch schon seine Hand entgegen streckte.
„Ich lass euch Beide jetzt allein. Ich muss mich noch um die Post kümmern. Und sag Ed mal, er soll im dritten Stock nach der Frau in Zelle zwölf gucken, sie schreit mal wieder.“ Damit verschwand Claire wieder.
Ich setzte mich auf eines der roten Sofas, die vor dem Schreibtisch des Anstaltleiters standen.
„Ist hier immer so wenig los?“ fragte ich, denn die Worte Claires hatten mir ins Gedächtnis gerufen, dass ich weder einen Betreuer noch einen Patienten im Haus gesehen hatte.
„Nein, nein. Die meisten schlafen. Es ist jetzt…11 Uhr. Und die anderen sind in den Therapiezimmern. Etwas Tee?“ „Ja, gerne“ antwortete ich auf seine Frage, woraufhin er aufstand und sich an einem Wasserkocher, der auf einem kleinen Tischchen stand, zu schaffen. „Sie werden sich jetzt vielleicht wundern, weshalb wir Sie so schnell eingestellt haben“ fuhr Mister Eastworl in einem etwas ernsteren Ton fort. „Die Wahrheit ist, dass Ihr neuer Arbeitsplatz, unsere neue Station, erst vor wenigen Tagen geöffnet wurde und wir so schnell wie möglich geschultes Personal brauchten. Denn genau vier Tage zuvor wurde unser erster Patient eingeliefert, der dringest Ihrer Hilfe benötigt.“ Er reichte mir eine Tasse mit schwarzen Tee. „Wenn Sie mir bitte folgen würden…“

Von der warmen Heimeligkeit des Vorzimmers wurde ich nun in den unangenehmeren Teil des Stockwerkes geführt – den Zellen.
Es roch nach frischer Farbe, die Türen waren komplett neu und die Bodenfliesen erst kürzlich verlegt worden.
Den Gang hinunter zählte ich zehn Räume. Ein Unbehagen ergriff Besitz von mir, gegen das ich mich nicht wehren konnte, eine unheimliche Beklemmung lag über dem Ganzen.
Doch das, was mich am meisten erstaunte, war ein Zimmer, das ähnlich einem Verhörraum der Polizei war. Eine große Glasscheibe trennte den Gang vom Inneren. Dort saß, den Kopf auf eine Hand gestützt, mit der anderen unsichtbare Kreise auf den Tisch vor ihm zeichnend, ein Mann. Erst nach längerem Betrachten fiel mir auf, was so anders an ihm war. Er war klein. Klein genug um seine Beine vom Stuhl baumeln zu lassen.
„Das ist Charlie. Unser erster Patient dieser Art.“ Mister Eastworl reichte mir eine Akte. „Hier steht alles drin, was wir über ihn wissen. Morgen wird ein Mitarbeiter der Polizei Sie abholen kommen und Ihnen einmal sein Haus zeigen. Ich lasse Sie jetzt allein. Ich muss mich um die anderen Patienten kümmern. Unterhalten Sie sich mit ihm und sagen mir dann, was Sie von ihm halten“ Damit reichte er mir einen Schlüssel für das Zimmer und verschwan den Gang hinunter.

Als ich eintrat blickte der Mann nicht auf. Er ließ seinen Finger nur weiter seine Bahnen ziehen, sein struppiges braunes Haar tauchte sein Gesicht in Schatten. Seine Kleidung war normal, ein etwas zerlumpter Anzug. Keine Zwangsjacke. Dass hatte ich bei einem Psychopathen nicht erwartet.
Dafür war die neue Station geöffnet worden. Für Psychopathen.
Erst als ich den leeren Stuhl vom Tisch wegzog und mich setzte, musterte er mich mit einem strengen Blick.
„Guten Morgen.“ Ich versuchte es möglichst freundlich klingen zu lassen, so freundlich, wie man in der Nähe eines nicht „gesicherten“ psychisch Kranken sein konnte.
„Sie sind neu hier“ bemerkte er trocken. „Ja und ich soll mich um Sie kümmern, Mister…“ verzweifelt suchte ich in den Akten nach einem Nachnamen, doch anscheinend war nur der Vorname vermerkt.
„Ich bin Charlie. Meine Eltern sind früh gestorben. So früh, dass ich meinen Nachnamen nicht weiß.“ Er lehnte sich zurück. „Jetzt wollen Sie bestimmt wissen, was ich gemacht habe, dass ich hier so sitze. Hören Sie. Wenn Sie für mich ein gutes Wort einlegen, kann ich hier noch mal raus“ raunte er mir zu. „Also, überlegen Sie sich, was Sie den Leuten hier erzählen. Bitte.“
„Erstmal sehen wir nach, was du für einer bist, Charlie“ sagte ich ruhig und schlug die Akte erneut auf, diesmal auf der Seite mit dem Krankheitsbild. Währenddessen betrachtete mich Charlie aus seinen braunen Augen.
Ich fühlte mich ganz und gar nicht mehr wohl.
Als ich endlich den richtigen Vermerk gefunden hatte, zuckte ich entsetzt zusammen.
„Du bist…du bist ein…“ stotterte ich. Ich war zwar wirklich nicht ängstlich oder zart besaitet, aber dass war dann doch etwas zu grotesk.
„Ja, ich bin ‚kannibalistisch’ veranlagt. Ist das so schlimm?“


So, dass ist der Anfang. Was sagt ihr?