Okay, da ihr das Ganze ernst nehmt, ziehe ich mit!
Ich wäre vorsichtiger mit dem historischen Argument, selbst wenn es um Europa geht.
Der aktuelle Stand der Geschichtswissenschaft ist (meines Wissens immer noch?), dass unser Bild von historischen Sitten- und Moralvorstellungen massiv von den letzten 200 Jahren geprägt ist – namentlich von den Umbrüchen, die um die industrielle Revolution herum geschehen, also Urbanisierung, Entwicklung eines Mittelstands, extreme Kolonialisierung etc. Und das ist auch die Zeit, in der die wildesten Prüderien um sich greifen und vor allem massentauglich (!) werden: In viktorianisch-englischen Mittelstands-Wohnzimmern wird das Nicht-Arbeiten (und "Verniedlichen") der Frau zu einem Statussymbol, Seife ist en vogue, um sich symbolisch "reich(und weiß-)zuwaschen", und die Biedermeier in Deutschland wollen am liebsten gar nicht mehr wissen, was draußen auf den Feldern und in den Fabriken passiert; stattdessen gibt es ein eskapistisch-geordnetes, gänzlich "unpolitisches" Familienleben mit Gott und einem – beizeiten wortwörtlich – ausformulierten Geschlechterbild.
Die Sache ist: Davor könnte es ziemlich anders ausgesehen haben! Und ich sage "könnte", weil sich die Quellenlage in der vorindustriellen Zeit plötzlich ähnlich zweiteilt wie die Gesellschaft. Stark vereinfacht gesagt gibt es einen zahlentechnisch winzigen Adel, der regelmäßig Historiker und Schreibende bezahlt, um sich so zu verewigen, wie es ihm passt, und es gibt die 95%, über die kaum jemand berichtet, und erst recht nicht aus ihrer Perspektive. Und was wir heute, über den Umweg des 19. Jahrhunderts, wie selbstverständlich über diese Zeit zu wissen glauben, ist OFTmals 1. eine Idealvorstellung 2. des Adels. Denn genau das wollten die ganzen neuen Mittelständler nach 1800 erreichen, das war das Idealbild ... und die Geschichtswissenschaft hat ihnen ziemlich lange geglaubt.
Relativierung: "Oft" und "ziemlich" und "könnte" sind hier natürlich essentiell, weil niemand mit Verständnis behaupten wird, dass Leute vor 3000 Jahren unsere Vorstellungen von Geschlechtergleichheit & Co. geteilt hätten. Aber das ist ja auch das andere Extrem. Die Idee allerdings, dass Frauen "niemals gekämpft" und "selten geherrscht" oder überhaupt "wenig gesagt" hätten, dürfte genauso (!) falsch sein – zumindest für den größten Teil der Bevölkerung, der von der materiellen Realität getrieben ist.
Gute Beispiele sind Geschlecht und Religion. In unserem Kopf sind Mittelalter-Bauern immer megachristlich, was sich aber nicht unbedingt mit allen historischen Fakten verträgt. Natürlich gab es eine "selbstverständliche Religion" in Mitteleuropa, aber wenn es praktisch oder notwendig war (durch Invasionen oder eine wilde Herrscheridee), wurde die auch schon mal gewechselt, von einer nicht unerheblichen Menge der Leute; und im Alltag dürfte es sowieso drittrangig gewesen sein. Wahrscheinlich ist dieses Megachristliche also zumindest teilweise eine religiöse Propaganda, der die Akademik lange aufgesessen ist. Macht Sinn, Mönche haben halt besonders gerne "Geschichte" geschrieben. Und ähnlich vermuten viele Wissenschaftler heute auch die Geschlechtersache: Eine Rollenverteilung hat es sicherlich gegeben, aber in den zahlentechnisch relevanten Ständen dürfte das eine sehr pragmatische Geschichte gewesen sein. Dass arme Frauen in kriegerischeren Kulturen gar nicht kämpfen konnten, wäre ähnlich weird wie in einer Agrarkultur nicht auf dem Feld zu arbeiten. Das sind alles Ideen aus dem 19. Jahrhundert, wo sich (Geld vorausgesetzt) plötzlich auch der neue Mittelstand leisten konnte, jemanden dauerhaft "zuhause" zu lassen.
Am Ende des Tages finde ich die Geschichte aber zweitrangig, und tatsächlich irreführend in dieser Diskussion, außer als Krücke.
Die spannendere Frage bleibt für mich: Warum stört genau DAS so viele Menschen? Warum ist 90% unserer "Gamer" völlig egal, dass Leute die komplett unrealistische Klamotten tragen, komplett ahistorische Waffen benutzen, dass ihre ganze SPRACHE nichts mit tatsächlich historischer Sprache zu tun hat, dass im mittelalterlichen Europa plötzlich Kartoffeln gegessen werden und religiöse oder mystische Praktiken komplett verzerrt werden? Und das ist imho der Punkt, der immer wieder reflektiert werden muss: Was genau macht die Themen, die Leute immer noch unter "woke" zusammengefasst werden, so explosiv, dass wir nicht nur SOFORT merken, wenn etwas "off" erscheint, sondern uns auch gleich emotional angegriffen fühlen? Was macht sie so persönlich? Warum ist es so wichtig, dass genau diese Dinge in unser Weltbild passen? Etc.
(Ich hatte oben erst "99%" stehen, aber seien wir ehrlich, Gamer sind weird. Ich weiß, dass zu viele von uns Probleme mit den falschen Schwerter oder den Kartoffeln hätten ...)