2. Kapitel: Die Stebsame

Genüsslich verschlang Andria ein Schokoladenstück nach dem anderen. Schokolade ist schließlich der beste Weg die Melancholie auszutreiben, hatten Wissenschaftler ungefähr dreihundert Jahre nach normalen Menschen raus gefunden. Wobei als Einschränkung noch angemerkt werden muss, dass das Suchtpotenzial von Schokolade sehr hoch liegt. Das wusste auch Andria, weshalb sie die zweite Tafel die Pünktchen ihr anbot, freundlich ablehnte. Sie war stolz auf sich, als ihr Geist sich gegen die gierig zuckenden Finger durchsetzte. Pünktchen steckte die Schokolade zurück in ihre Tasche. Neugierig betrachtete Andria die Frau vor ihr. Aus ihrer Kopfhaut sprossen schwarze, glatte Haare die mit einem roten Gummiband zu einem Zopf zusammengehalten wurden. Das Gesicht war freundlich und mit einer schwarzrahmigen Brille verziert. Die ~ Augen sahen hinter den Gläsern hin durch, nicht Andria anblickend, sondern fest auf irgendetwas in der Ferne gerichtet. Vielleicht in eine andere Welt. Oder vielleicht schlief sie nur mit offenen Augen. Als die Augen der Jägerin von dem Schädel auf die Kleidung ihres Gegenübers übersprangen, stellte das Gehirn fest, dass Pünktchen überhaupt nicht passend für eine Emojagd eingekleidet war. Sie trug eine schwarze Strickjacke mit rechteckigem Ausschnitt und einen weißen Rock der bis kurz über die Knie ragte. Um noch mehr unwichtige Fakten zu nennen; der Rock war mit schwarzen Kästchen überzogen, die mit lauter Blumenornamenten gefüllt wurden, die Strickjacke bestand aus 100% Baumwolle und man konnte auf dem ersten Blick anhand des Spiegelungswinkels der Brillengläser erkennen, dass sie 2 Dioptrien stark waren. Diese Frau war Andria gleich Sympathisch. Eigentlich war ihr so ziemlich alles sympathisch, doch diese Frau war ihr noch sympathischer als eine Viertel Torte. Und das wollte was heißen.
Abgesehen von dem Aufzug war Andria allgemein überrascht, eine weibliche Emojägerin anzutreffen. Nicht genug, dass weibliche Jäger erst seit vier Jahren zugelassen waren, nein es war auch sehr schwer für eine Frau aufgenommen zu werden. Einfach deshalb, weil das weibliche Geschlecht sensibler ist und eher der schwarzen Emomagie erliegt. Männer waren zu hohl dafür und deswegen als besser für die Jagd geeignet eingestuft als Frauen. Wobei Männer auf handfestere Methoden wie Prügeln oder niedersaufen vertrauten, um die Bestien zu normalisieren. Das funktionierte zwar meistens, rief aber immer wieder Tierschützer auf den Plan. So waren die Oberen doch sehr erfreut über die sanfteren Methoden Andrias. Diese sonnte sich schon mal im Voraus in den Loben der Oberen und grinste in das flammende Feuer. Pünktchen schien das zu bemerken und fragte nach dem Grund. Schnell suchte Andria nach einer Ausrede.
„Ich dachte nur gerade an, äh…, Schinken“, plapperte sie drauflos. Pünktchen hob eine Augenbraue, sagte aber nichts dazu. Stattdessen nutzte sie die Gelegenheit, um ein Gespräch anzufangen und hoffte inständig, dass kein Schinken oder sonstiges Paranormales darin vorkommen würde.
„Woher kommst du, Andria Tortenesserin?“, fragte sie und stocherte mit einem Stock im Feuer rum. Es sah aus, als suche sie darin nach Essen. Andria war sich kurz unsicher wie viel sie einer fremden Frau vertrauen konnte, aber sie war ja ihre Retterin vor dem Dasein als Emo und ihr auch noch sympathisch. „Ich komme aus der Provinzhauptstadt Dipz.“, erklärte sie. „Aus dem Viertel Schellerhau.“
Pünktchen nickte unsicher. „Ein Metallermensch also.“ stellte sie fest. Andria sah ihr Gegenüber an. Es stimmt zwar, aber so würde sich kein Mensch ausdrücken. Konnte es sein das -!
Pünktchen fuhr sich mit der Hand in den Ausschnitt und brachte eine Kette zum Vorschein. An dem silbernen Schmuckstück hing eine goldene Verzierung in Form einer Eins. Die Metallerin stürzte vor Überraschung fast von dem Stein auf dem sie saß. Jetzt bemerkte sie auch die runden Ohren die an Pünktchens Gesicht saßen. Andria hatte es nicht mit einer menschlichen Erscheinung zu tun! Vor ihr saß eine waschechte Strebsame! Bisher waren der jungen Dame nur Geschichten und Legenden über jene alte Rasse zu Ohren gekommen. Pünktchen wirkte sogleich um einiges Interessanter und Mysteriöser. Die Rasse der Strebsamen lebte seit Jahrhunderten in den dichten Bibliotheken des Landes, die kein Sterblicher einfach betrat. Nur wenn man mal was Gutes zum verfeuern suchte. Den Legenden nach wohnten die Streber, wie sie im Volksmund genannt wurden, in großen Pfefferkuchenhäusern die in den Tiefen der Bibliotheken herum standen. Allein der Gedanke daran ließ Andria das Wasser im Mund zusammenlaufen, sie hatte große Mühe den Mund geschlossen zu halten. Pünktchen sah sie dabei schon wieder merkwürdig an. Da fiel ihr plötzlich etwas in ihren Augen auf. Eine Art Weisheit, Alter das normalerweise schwer auf den Tränensäcken lastet. So etwas hatte sie bisher nur bei Alten und Kiffern gesehen. Andria wurde bewusst, wie alt Pünktchen eigentlich sein musste, als Angehörige der Strebenden. Man munkelte, sie seien das älteste der sterblichen Völker die auf der Erde wandelten und das Vernünftigste noch dazu.
Pünktchen erhob erhaben den Kopf zum Himmel und sagte seufzend: „Es ist nun leider an der Zeit für mich zu gehen. Die Pflicht ruft.“
Andria nickte. Sie hatte schon einiges vom Pflichtdrang des Volkes gehört und meinte altklug: „Ich kann verstehen, dass die Pflicht in dir Stark ist. Auch ich muss bald zurück zum Emo-Jäger Hauptquartier.“
Pünktchen legte den Kopf schief. „Die Pflicht in mir? Nein, wohl eher über mir.“ Sie zeigte mit dem Zeigefinger in den Himmel. Im Lichte des Mondes nahm Andria einen geflügelten Drachen wahr, der etwas Großes hinter sich her zog. Es schien ein gigantisches Pergament zu sein. Mit leuchtenden Buchstaben war darauf geschrieben: „Komm zurück Pünktchen Phoenix – Der Rat der Erhabenen wartet.“ Drum herum war noch Werbung von diversen Bier-, Schwert-, und Rotlichtviertelfirmen verteilt. Selbst die Strebsamen konnten sich dem größten Feind der Menschheit nicht entziehen – dem Kapitalismus.
Pünktchen schulterte ihre Tasche und umarmte Andria sanft. „Wir werden uns wieder sehen. Eines Tages.“, flüsterte sie leise. Dann verschwand sie in der Dunkelheit. Andria hatte dieses Versprechen schon oft gehört, und hätte es jemand Anderes als Pünktchen versprochen hätte sie es nicht geglaubt. Plötzlich stürmte diese wieder aus dem Gebüsch. Sie zog ein paar Leuchtstäbe aus der Tasche und winkte dem Drachen zu. Der flog näher an die Lichtung heran und eine Gestalt ließ eine lange Strickleiter runter. Ohne Andria mit mehr als einem Lächeln und einem Gruß zu beachten, kletterte die Strebende die Strickleiter hoch und flog noch im Klettern aus der Lichtung heraus. Andria sah ihr nach und schluckte vor Rührung.
Sie hatten sich tatsächlich wieder gesehen.