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Thema: Brauchen wir Feuchtgebiete?

Hybrid-Darstellung

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  1. #1
    Ich behaupte ja immer noch, dass das alles gar nich so unharmlos ist. Ich finde auch, unsere Gesellschaft ist schon weitaus tiefer gekommen als Feuchtgebiete - anderenfalls würde man "Wichsen" nicht in Anführungsstriche setzen müssen, um zu beklagen, dass es seine ursprüngliche Denotation vollkommen verloren hat.

    Die Frau vertritt damit eine Lebenseinstellung, das machen heutzutage nich mehr so viele Leute mit ihren angeblich bahnbrechend tabubrüchigen Auswürfen, wenn wir allein mal an Katie Perry und ihr "Ich habe ein Mädchen geküsst, aber ich bin dermaßen hetero, dass ich gleich mal dazusagen muss, dass ich eigentlich einen Freund habe und es sowieso alles nur unter Alkoholeinfluss und aus Spaß heraus passiert ist! SO, jetzt habe ich ein Tabu gebrochen! Bujah!"-Geplärre denken.
    Dann haben wir da noch Heino, der mit 70 noch ein paarmal die Woche Sex hat, oder Dieter Bohlen und seine 5 Penisbrüche und letztendlich findet sich doch alle paar Wochen mal ein Schönheitschirurg im Interview, der genau bestätigt, dass Schauspielerin XY Implantate hat und RTL hält sowieso immer fein mit der Kamera drauf, wenn beim Fettabsaugen dieser eklig-lange Stab, der nie sonderlich steril aussieht, unter die Bauchdecke geschoben wird.
    Und wie viele Messie-Wohnungen sieht man bitteschön in den Doku-Soaps am Tag? Wie viele hyperextremst fettleibige Menschen hat jeder handelsübliche Fernsehbesitzer schon gesehen? Mal ganz abgesehen von diesen "Funny Clips", wo Menschen synchron mit eingeschalteten Kettensägen vom Baum fallen und Kinder bei Erlebnissen, die sie erstmal zum Weinen bringen, gefilmt werden (nicht, dass das entwürdigend wäre, nein) oder den täuschend echt präpariert halbverwesten Leichen in amerikanischen Mainstreamkrimiserien.

    Schockierende/Eklige/Verspottende/Hundsintime Sachen sind schon lange nich mehr privat und vor allem ist die Gesellschaft sensationsgeil genug, um noch mehr Zeug weniger privat zu machen und Profit daraus zu schlagen. In Großbritannien konnte man jüngst einem todkranken Mann bei der Selbsttötung zuschauen, Splatterfilme verkaufen sich nicht gerade schlecht, Pornographie ist die wohl einzige Industrie, der es nie schlecht gehen wird und es gibt nich umsonst den Begriff des "sexuellen Drucks unter Jugendlichen".

    Und Fräulein Roche sagt: "Hallo Frau, schäm dich mal nich für deinen Körper und vor allem mach damit, was du willst, nich, was dir irgendwelche Normen vorschreiben." Bof. Die Kuh!
    Ich will nich mal sagen, dass ihr das gelungen ist (obwohl ihr Schreibstil doch schon besser ist als der von so manchem Billig-Fantasy-Roman), aber wenn man gerade an der Stelle mit dem Fremdschämen anfängt, ist das irgendwie etwas heuchlerisch, zumal ich mal behaupte, dass der Geschlechterzwang eine der letzten großen Bastionen des großkollektiv Spießertums ist.

    Es ist ein Buch. Es geht um medizinisch mehr oder weniger bekannte Tatsachen und die leicht beschränkte Gedankenwelt eines Teenagers.

    "Zeig' mir ja nich, dass du genauso ein Mensch bist wie ich, der furzt, an den Nägeln kaut und manchmal zu faul ist, die Unterwäsche zu wechseln! Ich könnte erkennen, dass ich auch ein bisschen eklig bin."

  2. #2
    Zitat Zitat von Eynes'Prayer Beitrag anzeigen
    In Großbritannien konnte man jüngst einem todkranken Mann bei der Selbsttötung zuschauen, [...]
    Hierzu sei angemerkt, dass die primäre Intention dahinter keineswegs darin bestand, die Sensationsgeiheit der Konsumenten zu befriedigen, sondern die Gesellschaft ein Stück offener für die freiwillig gewählte Sterbehilfe zu machen. Sicher haben auch viele eingeschalten weil, boah, da einer stirbt. Wenn du allerdings damit ausdrücken willst, dass die Macher alleine dieses Ziel verfolgt haben, liegst du daneben.

    Ansonsten gebe ich dir allerdings Recht. In "Feuchtgebiete" geht es nicht ausschließlich darum, irgendwelche Ekel-Tabus zu brechen und möglichst viele abstoßende Dinge in einen Roman zu packen. Es geht darum, eine neue Offenheit zu etablieren, die aber nicht zwangsläufig in medial verpackten Exhibitionismus enden muss. Es gibt immer noch genug Menschen, die es trotz oder vielleicht sogar wegen des in der Öffentlich gefeierten Themas "Sex" nicht schaffen, über ihre persönlichen Tabus hinaus zu kommen und danach womöglich ein glücklicheres Leben zu führen. Zu stark sind von Gesellschaft und Erziehung auferlegte Moralvorstellungen, die in manchen Fällen zwar recht nützlich sein können, oft aber auch nur behindernd wirken.
    Nicht, dass Roches Buch das jetzt mit einem Schlag überwinden könnte. Aber wenn man fragt ob es gut ist, dass es "Feuchtgebiete" gibt, würde ich deswegen auf jeden Fall "Ja" sagen - und wenn's nichts nützt, hat man immerhin ein bisschen Zeit vertan.

  3. #3
    Ich denke, am Ende gab es in die Richtung schon Millionen andere Bücher, die nur nicht so erfolgreich waren, was ich tatsächlich ausschließlich auf Vermarktung, und auch darauf, dass jene Bücher es meistens subtiler getan haben, schieben würde.
    Imho also eher "es ist gut, dass sich mal so ein Buch verkauft hat", als "dass es das gibt". Wenn man jene Tabus für brechenswert befindet. Aber ja, klar, dadurch, das das extreme (imho nicht wirklich brechenswerte) angetastet wird,sinkt natürlich auch die Hemmschwelle für die weniger abstoßenden Sachen. A la "wenn die Frau ihre Körpersäfte beschreibt, darf ich auch über Sex reden".

    Zitat Zitat
    "Zeig' mir ja nich, dass du genauso ein Mensch bist wie ich, der furzt, an den Nägeln kaut und manchmal zu faul ist, die Unterwäsche zu wechseln! Ich könnte erkennen, dass ich auch ein bisschen eklig bin."
    Ich verstehe die Philosophie hinter dem Satz. Die Praxis sieht in meinen Augen aber anders aus: Wieso sollte man diese Ekligkeit offen vorführen? Du beschreibst sie ja selbst als Ekligkeit, und schon das Wort impliziert irgendwo, dass es nichts angenehmes ist. Und das hat mit Tabus ebenso viel zu tun wie mit Zivilisation, Tabus zu brechen ist nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Ich kann schon verstehen, warum Leute selten vor eine Parkbank kacken.
    Aber wie oben erwähnt, durch das Ansprechen der extremen Tabus sinkt natürlich auch die Hemmschwelle für überflüssige Tabus. Ob wir dafür die Roche-Brachialmethode brauchen, oder ob HipHop und Internet nicht auch reichen, ist eine andere Frage.

  4. #4
    Angenommen alle Menschen wären wie die Autorin dieses Buches... wie sähe die Welt aus?

    Also ich bin für ein dickes PRO für gewaschene Menschen mit Manieren.

  5. #5
    Zitat Zitat von Darkrei Beitrag anzeigen
    Angenommen alle Menschen wären wie die Autorin dieses Buches... wie sähe die Welt aus?
    Ich finde nicht, dass das eine Annahme ist, von der man ausgehen kann, denn letztendlich ist es sehr gut und erstrebenswert, dass alle Menschen vollkommen unterschiedliche Auffassungen von jeder noch so kleinen Lebenslage haben.

    Zitat Zitat
    Also ich bin für ein dickes PRO für gewaschene Menschen mit Manieren.
    Hast du noch nie an den Nägeln gekaut oder mal gepupst?
    Es geht auch nicht darum, dass die Menschen ihre Manieren vergessen und sich nich mehr waschen sollten, sondern um den Kampf gegen geradezu aufoktroyierte Wertevorstellungen.
    Warum muss frau sich die Beine bis hin zum Schambereich rasieren? Warum sollte man sich über Verletzungen/Krankheiten im unteren Bereich mehr schämen, als für einen Schnupfen oder ein gebrochenes Bein? Das hat alles nichts mit Sauberkeit und Manieren zu tun, sondern mit natürlichen Vorgängen, die es eben nur in die Fachzeitschriften und nicht in die GEOlino geschafft haben.

    Im Übrigen ist man nach 12 Stunden nunmal nicht mehr überall frisch, ich denke, wir hatten alle schonmal Schweißfüße oder haben unangenehm aus dem Mund gerochen (um das mal etwas breiter zu spannen). Das ist natürlich, nicht böswillig oder asozial; darum gehts.

    Zitat Zitat von Broken Chords Can Sing A Little Beitrag anzeigen
    Hierzu sei angemerkt, dass die primäre Intention dahinter keineswegs darin bestand, die Sensationsgeiheit der Konsumenten zu befriedigen, sondern die Gesellschaft ein Stück offener für die freiwillig gewählte Sterbehilfe zu machen. Sicher haben auch viele eingeschalten weil, boah, da einer stirbt. Wenn du allerdings damit ausdrücken willst, dass die Macher alleine dieses Ziel verfolgt haben, liegst du daneben.
    Das war tatsächlich etwas schlecht in den Zusammenhang eingebettet. Ich fand nur, wenn man Leuten schon beim Sterben zuschauen darf, sollte das mit der Analfissur nich mehr so das Problem sein. Ich bin mir über die Intention des Filmes durchaus im Klaren. Vielleicht sollte ich das nächste Mal nich einfach stupide und pauschal aufzählen, was gerade so im Fernsehen kam =3.

    Zitat Zitat von La Cipolla Beitrag anzeigen
    Ich verstehe die Philosophie hinter dem Satz. Die Praxis sieht in meinen Augen aber anders aus: Wieso sollte man diese Ekligkeit offen vorführen? Du beschreibst sie ja selbst als Ekligkeit, und schon das Wort impliziert irgendwo, dass es nichts angenehmes ist. Und das hat mit Tabus ebenso viel zu tun wie mit Zivilisation, Tabus zu brechen ist nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Ich kann schon verstehen, warum Leute selten vor eine Parkbank kacken.
    Naja, es geht hier eben um ein recht explizit einschränkendes Tabu. Roche hat beispielsweise in einer Talkshow (irgendwas Öffentlich-Rechtliches) angesprochen, dass die Werbung so und so viele Stunden Frische bei Damenbinden verspricht (noch so ein Tabubruch übrigens, warum darf die Werbung über sowas reden?), aber keine Frau mehr nach so und so vielen Stunden untenrum frisch ist, ihr also suggeriert wird, dass sie unnormal und eklig ist. Wieviel "Böswilligkeit" man der Werbung da jetzt tatsächlich unterstellen darf, sei mal dahingestellt, aber man muss ihr schon rechtgeben, wenn man das mit dem sexuellen Druck unter Jugendlichen gleichsetzt.
    Es soll ja jetzt auch keiner öffentlicher mit seinem Körper umgehen, als das nötig ist, und in die Fußgängerzone kacken; nur im Grunde ist diese tatsächlich ein wenig abstoßend-eklige Analfissur-Sache der Rückschlag gegen die Gleichmacherei der Medien oder von schießmichtot wem, die einem ständig erzählt, wie minderwertig man doch eigentlich ist. Denn über die Periode, Warzen, Damenrasierer und Klopapier wird in der Werbung tatsächlich ziemlich frei geredet - warum darf man nich auch die etwas ehrlichere Seite zeigen, wenn auch leicht übertrieben und in literarisch eher niederer Form? Blut und Innereien sind übrigens auch eklig, aber Medizin findet jeder toll, weil sie Leben rettet. Jetzt versucht man halt mal das gesunde Selbstwertgefühl zu retten.

    Geändert von Mordechaj (12.12.2008 um 22:23 Uhr)

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