Erynn legte das Kohlestück wieder weg. Sie setzte sich mit dem Rücken zum Eingang des Raumes, Parwen gegenüber, und zog bedächtig ihre Lederhandschuhe aus. „Die beiden habe ich erwischt, als sie gerade vom Nahrung sammeln zurückkamen. Aber den Clan an sich wird das nicht allzu hart treffen. Man müßte in die Höhle gehen und das ganze Nest ausräuchern, wenn wir diese Plage irgendwann in den Griff bekommen wollen. Vor allem um die alte Mine an der Straße, in der Nähe des Friedhofes, sollte sich jemand kümmern. Dort werden am häufigsten Leute von den Viechern erwischt.“
Parwen stützte das Kinn in beide Hände: „Jemand“, fragte sie mit einem spöttischen Funkeln in den Augen. „Heißt das, du selbst willst deine Nase nicht in diese Stollen stecken?“ Erynn verdrehte die Augen. „Komm schon. Ich bin Bogenschützin, genau wie du. Für so eine Aktion bräuchte man am Besten vier schwergerüstete Orks, die mit Streitkolben bewaffnet durch die Gänge stürmen und alles plattwalzen, was ihnen vor die Füße kommt.“ Die Bosmer grinste bei dem Bild, das sich hinter ihrer Stirn formte. „Ich sehe gerade vier eingedoste und wütende Orks vor mir, die alle gleichzeitig durch einen engen Stollen trampeln und dabei stecken bleiben. Nein, man müßte das schon etwas intelligenter angehen.“
Erynn lehnte sich weit nach rechts und öffnete die Klappe eines windschiefen Schranks, der unter dem Fenster stand. Sie nahm sich ein Bier heraus und öffnete die Flasche, indem sie ihren Dolch als Hebel benutzte. „Ist es dafür nicht noch etwas zu früh?“
„Wieso? Bist du jetzt meine Mama, Parwen?“ Sie ließ den Dolch wieder in ihrem rechten Stiefel verschwinden. „Außerdem bin ich schon seit lange vor Sonnenaufgang wach. Für mich ist es bestimmt schon Nachmittag.“
„Ja, ja.“ Jetzt war es an Parwen, die Augen zu verdrehen. „Es wäre schlauer, zwei Magier am Eingang zu plazieren, die Feuerbälle mit Flächenwirkung in den Stollen schleudern. Ein halbes Dutzend Bogenschützen, in einem Halbkreis vor der Höhle verteilt, könnte sich dann um die Goblins kümmern, die noch herausgekrochen kommen.“
Die Dunkelelfin nahm einen Schluck von dem Bier. „Wo willst du denn zwei Magier herkriegen? Aus der Gilde? Daß ich nicht lache! Eine kombinierte Aktion mit denen würde sicherlich schon daran scheitern, daß sie sich ihre feinen Roben nicht schmutzig machen wollen...“ Die beiden grinsten sich an. Der gegenseitige Spott gehörte zum Habitus beider Gilden. Vergeistigte Bücherwürmer gegen minderbelichtete Haudraufs. So war es schon immer gewesen, so würde es immer sein, und beiden Seiten würde ernstlich etwas fehlen, sollte sich das jemals ändern.
„Wie dem auch sei: Wer bliebe sonst noch übrig? Allenfalls die Legionskampfmagier. Die Jungs sind wirklich hart im Nehmen, aber bis das Militär uns welche von denen freistellt, sind sogar wir beide alt und grau. Außerdem... die kaiserliche Administration schickt keinen von der Elitetruppe, um ein paar Gobbos zu töten. Schon gar nicht in diesen Zeiten.“ Sie starrte kurz ins Leere. „Nein, das ist alles Spinnerei. Ich weiß nur, daß ich nicht versuchen werde, mich allein durch einen Goblinbau zu schnetzeln. Ich würde wohl als Spießbraten für die nächste Clanfete enden, oder sowas ähnliches.“
Parwen seufzte resigniert: „Zumal ganz Tamriel zur Zeit andere Probleme hat. Ein toter Kaiser, die ungeklärte Thronfolge und nicht zuletzt diese seltsamen Tore, die überall aus dem Nichts auftauchen. Schauderhaft, sag ich dir.“
„Hast du schonmal eins gesehen?“
„Mhm.“ Parwen griff nach der Bierflasche und nahm einen kräftigen Zug. „Hier in der Westebene, ungefähr auf halber Strecke zwischen Skingrad und dem, was von Kvatch noch übrig ist. Es steht einfach da, mitten in der Wildnis. Ich hab nur die Beine in die Hand genommen und bin gerannt.“ Die Stimme der Waldelfin war leise geworden, und ihre Augen blicken auf ein Bild, das die Andere nicht sehen konnte. Schließlich schüttelte sie sich, um die Erinnerung zur Seite zu schieben. „Ich sage dir, wenn ich die Wahl hätte, in so ein Ding zu gehen oder in einen Goblinbau – ich würde die Goblins wählen.“
Die Dunkelelfin nickte. Die Bosmerin war eine kluge und umsichtige Kämpferin, und man konnte sich auf ihre Einschätzungen verlassen. Sollte sie selbst einmal auf solch ein Tor treffen –und angesichts der Situation war das nicht ganz unwahrscheinlich- würde sie mehr als vorsichtig sein. „Ich habe noch ein paar Sachen zu erledigen“, gab sie ihrer Freundin zur Antwort. „Wir sehen uns später. Vielleicht rede ich demnächst mal mit Ah-Malz. Die Tore ändern auch nichts daran, daß Reisende an der Straße von Goblins angegriffen werden, und das wirft ein schlechtes Licht auf die Gilde. Sowas können wir uns nicht leisten.“

Sie griff nach ihren Handschuhen und ging nach oben. Hier bewohnte sie ein kleines Zimmer unter dem Dach, das ihr ein wenig Privatsphäre bot. Sie warf die Handschuhe auf das Bett, Schwert, Bogen und Köcher folgten. Dreizehn Pfeile waren noch übrig. Ich sollte mir ein paar neue besorgen, diese hier werden nicht mehr lange reichen. Und dann muß ich mich dringend nach einem Auftrag umsehen, der ein paar Septime in meine Kasse spült. So langsam wird es knapp. Wenn der Graf uns wenigstens die abgeschossenen Goblins bezahlen würde, wäre mein Leben um einiges leichter.
Sie dachte kurz zurück an ihr Elternhaus in Cheydinhal. Da war alles irgendwie unkomplizierter gewesen, und sie hatte sich nie Gedanken machen müssen, wo sie Geld für Ausrüstung und Essen herbekam. Von den Kosten für das Pferd ganz zu schweigen. Aber sie wollte nicht wieder dorthin. So langsam, mit zweiundfünfzig Jahren, war sie irgendwo zwischen halbstark und erwachsen, und Cheydinhal war zu eng für sie geworden. Nein, es ist schon alles gut so, wie es ist. Bedächtig löste sie die Schnallen des Schulterschutzes und des Lederharnischs, beugte sich vor und wuchtete die Rüstungsteile über ihren Kopf, bevor sie diese ordentlich auf den Rüstungsständer hängte, der neben einem kleinen Sekretär in einer Ecke des Raumes stand. Nur gut, daß ich keinen Kettenpanzer trage... Erynn setzte sich aufs Bett, zog mit einiger Mühe die Stiefel aus und schnallte die Beinschienen ab. Sie schnüffelte prüfend an der leinernen Kleidung, die sie unter der Rüstung trug, und entschied sich dafür, sich umzuziehen. Wenn das Wetter warm blieb, würde sie heute Abend in dem kleinen Teich hinter dem Surilie-Weingut ein Bad nehmen. Wenn nicht, würde sie eben noch einen Tag länger stinken. Den Zuber aufzustellen und eimerweise Wasser zu erhitzen würde Stunden dauern, und das war ihr heute definitiv zu anstrengend.
In der Kleidertruhe am Fußende des Bettes wühlte sie nach etwas Passendem zum Anziehen, und entschied sich schließlich für ein dunkelgrünes Hemd und einen langen Rock aus hellbraunem Leinen. Als sie die alten Kleider ablegte, sah sie an sich herunter. Ihre Beine und Arme waren schlank, wenngleich sich die durchtrainierte Muskulatur deulich abzeichnete. Ihr Bauch war flach; leider galt das ebenso für den Bereich darüber. Ob sich das irgendwann nochmal ändert? Eigentlich wäre ich gern weniger... eckig. Verwundert über sich selbst schüttelte sie der Kopf. Vor einem oder zwei Jahren hätte sie sich niemals Gedanken darüber gemacht. Seufend legte sie Rock und Oberteil an und schlüpfte in weiche Hirschlederschuhe. Eine kurze Überprüfung ihres Geldbeutels ergab ein Gesamtvermögen von dreiundsiebzig Septimen, nicht allzu viel, wenn sie auch noch Pfeile kaufen wollte.

Erynn begab sich wieder nach unten. Im Vorbeigehen grüßte sie den Portier, dann verließ sie das Gildenhaus und wandte sich nach rechts. Ihr Ziel war die Herberge der „Zwei Schwestern“, wo sie zu Mittag essen wollte. Die Herberge „Zur Westebene“ war ihr zu teuer, außerdem fand sie die Wirtin seltsam.
Sie stieg die steinerne Treppe zum Eingang des „Zwei Schwestern“ hoch und betrat die Taverne. Hier fand sie sich auf einer Empore wieder, von wo aus sie in den Schankraum hinunterschauen konnte. Durch die leicht rauchige Luft erkannte sie, daß der Laden gut gefüllt war. Viele Leute nahmen hier ihr Mittagessen ein, bevor sie sich weiter ihren Pflichten widmeten.
Die Elfin schlenderte die Treppe herunter und zur Theke, wo sie bei der Wirtin Mog gra-Mogakh etwas gebratenes Wild und Salat bestellte. Die gut gelaunte und redselige Orkfrau versprach, sich schnellstmöglich darum zu kümmern, und schob Erynn ungefragt eine Flasche Wein über den Tresen. „Das geht aufs Haus, Kleines“, sagte sie mit ihrer dunklen, kräftigen Stimme. Es war billiges Zeug, aber die Kämpferin wußte die Geste dennoch zu schätzen und bedankte sich mit einem warmen Lächeln. Sie hatte sich vor nicht ganz einem Monat um ein paar Riesenratten in Mogs Keller gekümmert, und die beiden Frauen waren ins Gespräch gekommen. Da die eine genauso gerne quasselte wie die andere, war es ein langer Abend geworden, an dem Erynn eine neue Freundin gewonnen hatte. So nahm sie die Flasche als ein zusätzliches Dankeschön und setzte sich an einen freien Tisch, um auf ihr Essen zu warten.
Währenddessen lauschte sie den Gesprächen in dem Lokal. Es ging, wie so oft in letzter Zeit, um den mysteriösen Mord am Kaiser, die seltsamen Tore, die anstehende Weinlese. Leider konnte sie keinen Hinweis aufschnappen, der sie vielleicht zu einem einigermaßen gut bezahlten Auftrag führen würde, wenn sie nicht gerade als Erntehelferin arbeiten wollte. Sie beschloß, später zur Burg Skingrad zu gehen und zu fragen, ob nicht vielleicht irgendjemand einen Boten oder Geleitschutz benötigte. So käme sie auch mal wieder für längere Zeit aus der Stadt hinaus, und auch Falchion würde die Bewegung gut tun.
Schließlich kam Mog an ihren Tisch und brachte die Mahlzeit. Sie nahm sich die Zeit für ein Schwätzchen mit der Elfin, erzählte von der neuen Küchenhilfe, die zwar dumm sei wie ein Scheffel Roggenschrot, aber fleißig und freundlich. Im Gegenzug erzählte Erynn zwischen einzelnen Bissen von der Goblinjagd am frühen Morgen und ihrer Suche nach Arbeit. Mog schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich habe leider keine Ratten mehr, die du jagen könntest. Aber das weißt du ja selbst am besten. Übrigens: Alle meine Gäste waren sehr angetan von dem Eintopf, den ich am darauffolgenden Tag serviert habe“, sagte sie mit einem verschwörerischen Augenzwinkern. Erynn grinste. Aus irgendeinem Grund hatten die Leute in Cyrodiil ein Problem damit, Rattenfleisch zu essen. Bei ihr zuhause hatte es solcherlei Gerichte allerdings recht häufig gegeben; ihre Mutter hatte da einige großartige Rezepte aus Vvardenfell mitgebracht. Das einzige Problem war, daß man nach dem Genuß des fettigen Fleisches regelmäßig im Freßkoma lag.
Nachdem sie mit dem Essen fertig war, bezahlte sie ihr Essen und verabschiedete sich von der Wirtin. Die Flasche mit dem Wein nahm sie mit. Vielleicht hatten am Abend ein paar Leute in der Gilde Lust auf einen gemütlichen Abend, dann könnten sie das Zeug gemeinsam niedermachen.


Um zehn Septime ärmer, dafür mit gut gefülltem Magen, verließ sie das „Zwei Schwestern“. Sie nahm einen Umweg und schlenderte an der Kapelle vorbei, über die Brücke, welche sich über Skingrads Durchgangsstraße spannte, zu Agnetes Schmiede. Ein Blick auf den Sonnenstand sagte ihr, daß es langsam so spät sein dürfte, daß die trinkfreudige Nordfrau ihren Kater überwunden haben und mittlerweile schon wieder gut dabei sein dürfte. Erynn war egal, wie viel sie soff, sie war die verdammt noch mal beste Schmiedin diesseits der Valusberge! Und sie kannte sich auch mit Pfeilen aus.
Ihr Besuch im „Hammer und Zange fiel kurz aus. Agnete hatte gerade keine fertigen Eisenpfeile vorrätig, versprach aber, der Dunmerin bis zum Abend fünfundzwanzig Stück davon herzustellen. Sie einigten sich auf einen Preis von fünfzig Septimen. Dazu kaufte Erynn noch eine Rolle gewachstes Garn. So langsam wird es wirklich knapp. Ich gehe am besten gleich zur Burg. Hoffentlich braucht dort jemand einen Boten oder Söldner, sonst muß ich mich für die nächsten Tage auf Kosten der Gilde durchfressen. Das wär mir echt peinlich.

Von der Tür zur Schmiede wandte sie sich direkt nach Süden zur Burg Skingrad, die außerhalb der Stadt auf einer Anhöhe stand. Die hohe Brücke zum Burgtor war von Feuerschalen gesäumt, was selbst am hellichten Tag beeindruckend wirkte. Des Nachts war es geradezu überwältigend. Am Tor gab sie sich bei dem diensthabenden Wächter als Mitglied der Kriegergilde zu erkennen, und er ließ sie eintreten, nachdem er ihre kleine Gestalt einer mißtrauischen Musterung unterzogen hatte. Ja, verdammt. Ich bin kein Schrank, aber das heißt nicht, daß ich nicht kämpfen kann, Blödmann. Die Elfin stapfte das kurze Stück zum Ratssaal hoch. Unterwegs fragte sie sich, warum sie in letzter Zeit so gereizt reagierte, wenn jemand sie intensiver ansah. Sie zuckte mit den Schultern und schob sich eine schlohweiße Haarsträhne hinter das spitze Ohr, dann trat sie in die große Halle.
Eine Argonierin in grünem Gewand trat auf sie zu, kaum daß sie das wuchtige Portal hinter sich geschlossen hatte. Sie stellte sich als Hal-Liurz vor und erkundigte sich nach Erynns Wünschen. „Mein Name ist Erynn Releth, meine Dame“, erwiderte sie. „Ich bin Mitglied der Kriegergilde und auf der Suche nach Arbeit. Sagt, gibt es etwas, womit ich der Stadt Skingrad zu Diensten sein kann?“ Die Argonierin überlegte einen kurzen Moment, während sie die Dunmerin abschätzend musterte. „In der Tat“, antwortete sie dann. „Ihr kommt zur rechten Zeit. Ich werde Euch zwei Botschaften mitgeben, die für die Administration von Bravil bestimmt sind. Bitte wartet hier einen Augenblick, während ich die Schriftstücke hole.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand in den Tiefen des Schlosses. Erynn stand derweil etwas verloren neben dem Eingang herum und hoffte, daß die Frau sich beeilen würde. Die schiere Größe des Herrschaftssitzes machte sie nervös.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kehrte Hal-Liurz zurück und übergab ihr zwei versiegelte Schriftrollen. „Es reicht, wenn ihr morgen früh aufbrecht“, verkündete sie der Bogenschützin. „Es ist zu nichts nutze, wenn Ihr Euch des Nachts im Großen Forst überfallen laßt und die Nachrichten verloren gehen. Sorgt nur dafür, daß sie sicher in Bravil ankommen. Andernfalls könnt Ihr Euch auf mehr Ärger einstellen, als Euch lieb ist. Vergeßt das niemals.“ Sie drückte Erynn einen kleinen Beutel in die Hand. „Hier drin sind fünfzig Septime für Ausgaben, die Ihr auf Eurer Reise haben mögt. In Bravil wird man Euch ein Antwortschreiben mitgeben. Liefert das hier ab, und Ihr erhaltet die Bezahlung für Euren Dienst.“ Sprachs und verschwand.

Fluchtartig verließ die Dunkelelfin die Burg. Sie war wirklich froh, als sie wieder auf der Brücke stand und frische Luft atmete. Die ganze Atmosphäre aufgesetzter Wichtigkeit hatte sie verwirrt und verunsichert; hinzu kam Hal-Liurz eindringliche Warnung, den Auftrag nicht zu versauen. Allerdings fühlte sie sich hier, unter freiem Himmel, schon wieder bedeutend wohler. Natürlich sorge ich dafür, daß dein Wisch sicher ankommt. Was denkst du denn, daß ich damit aus Versehen ein Feuer anzünde, oder was?
Sie ging zurück zum Gildenhaus. Den Abend würde sie wohl hauptsächlich damit verbringen, ihre Ausrüstung zu überprüfen und für den kommenden Tag zu packen. Zwischendurch mußte sie noch ihre Pfeile abholen. Am folgenden Tag wollte sie bei Sonnenaufgang bereits auf dem Weg nach Bravil sein.