Das kühle Nass verhinderte zumindest, dass Thorin komplett die Besinnung verlor. Die eiskalte Temperatur weckte seine müden Geister wieder. Das änderte aber nichts daran, dass sich seine Rüstung und Kleidung darunter mit dem Wasser voll sogen und schwerer und schwerer wurden. Gleichzeitig konnte er seinen linken Arm nicht mehr bewegen. Unter höllischen Qualen drehte er seinen Kopf zur Seite und sah aus dem Augenwinkel, wie eine seltsame Beule noch vorne durch die Rüstung drückte. Es sah nicht aus, wie ein Bruch. Er hatte also Glück gehabt. Vielmehr war sein Arm ausgekugelt.
Thorin holte tief Luft und hob den schweren, rechten Arm. Mit der Hand packte er seinen linken Arm am Handgelenk und zog so kraftvoll, wie er nur konnte. Es gab ein lautes Poppen und er schrie vor Schmerzen auf. Doch er konnte nun den Arm wieder bewegen. Schwer atmend und sehr steif stemmte sich Thorin dann auf die Ellbogen hoch. Allein diese Anstrengung ließ seine Sicht wieder verschwimmen und neuerliche Blitze des Schmerzes zuckten durch seinen Kopf. Einzig sein Wille, die Melodie im Stein und seine Wut trieben den Nord – der eigentlich schon längst hätte tot sein müssen – weiter an. Stöhnend und seine Schmerzen nun nicht weiter verhehlend richtete er sich auf. Seine Haare klebten ihm teilweise im Gesicht, Blut rann ihm aus der Nase und den Mundwinkeln. Seine Lippen waren aufgeplatzt und einige Zahnwurzeln fühlten sich durch übermäßigen Druck taub an.
Seine Sicht drehte sich, aber er konnte ohne Probleme die verschwommenen Umrisse des weißen Werwolfs erkennen, der gerade zehn Schritte vor Thorin im Wasser landete. Höhnend knurrte er und die Arme waren weit von dem kräftigen, aber trotz der Größe gedrungen wirkenden Körper gestreckt. Thorin grinste nun gequält. Es würde bald enden. Hier in dieser Höhle. Für seine Eltern … und für seine Freunde. Ohne, dass er es eigentlich richtig merkte, umschloss seine Rechte den Griff des nordischen Stahllangschwertes und zog es mit dem typischen, schleifenden Geräusch aus der Scheide. Die Bewegungen ließen ihn husten und er spuckte Blut. „Komm, Bestie. Lass es uns beenden!“, forderte er mit kratzender, schleifender Stimme und der Wolf antwortete mit einem drohenden Knurren.
Im nächsten Moment bewegte sich die verschwommene, weiße Gestalt auf Thorin zu. Dieser packte nun beinahe wie in Trance sein Schwert mit beiden Händen. Dann war der Werwolf heran. Thorins rechtes Knie knickte ein und er stach nach oben, als der Wolf ihn ansprang. Sowohl die Pranken, als auch seine Schneide verfehlten ihr jeweiliges Ziel. Thorin hatte kaum Kontrolle über seine zitternden, kalten Glieder und der Wolf hatte das doch recht schnelle Ausweichmanöver nicht kommen sehen. Somit standen sie am Ende wieder fünf Schritte auseinander.
Thorins Sicht klärte sich etwas, als sich seine Sinne weiter verschärften. Es war, als ob sie sich mit Verzögerung der direkten Bedrohung anpassten. Der Werwolf hatte die Lefzen zurück gezogen und entblößte die langen Fangzähne. Der von ihnen Tropfende Speichel war blutrot, genauso wie das Fell um die Schnauze herum und an den Händen. Die Wolfsohren standen aufrecht hinter den zornigen Augen und zeigten mit der Öffnung der Muschel in Thorins Richtung.
Dieser riss sich noch einmal zusammen, so gut es ging. Sein Zittern bekam er unter Kontrolle, konnte es aber nicht ganz vermeiden. Trotz seines wie wild schlagenden Herzens war ihm kalt. Nicht nur wegen dem eisigen Wasser um seine Füße. Ein weiterer Hinweis auf die große Menge an verlorenem Blut. Seine kräftigen Hände schlossen sich um den mit Leder eingewickelten Griff des nordischen Langschwertes. Die dicke, recht schwere Klinge hob er leicht nach rechts versetzt vor seinen Körper. „Angst?“, knurrte Thorin durch seine zusammen gebissenen Zähne hindurch. Der melodische, zweite Herzschlag, der ihn durchströmte, gab ihm immer wieder Kraft Dinge zu tun, die er sich eigentlich gar nicht zu getraut hätte. So zum Beispiel das Sprechen. Seine Lungen schmerzten und er glaubte sogar zu fühlen, wie Blut in sie hinein sickerte.
Die weiße Bestie ließ sich diese schwere Anschuldigung natürlich nicht gefallen. Genau, wie Thorin es gehofft hatte. Wieder stürmte der Wolf auf ihn zu. Zwei Schritte, bevor er den Nord erreichte, sprang er hoch und riss die Kiefer weit auseinander und zum Biss bereit. Die Hände dabei von oben herab schlagend, um Thorin von Kopf bis Fuß auf zu schlitzen. Allerdings dachte dieser nicht daran, es dem Wolf so einfach zu machen. Er machte einen kleinen, schweren Schritt nach vorne, sodass der Biss und der Schlag an ihm vorbei gingen. Dummer Weise bemerkte er erst zu spät, dass ihn der Hinterleib seines verhassten Feindes dennoch erwischen würde.
Im letzten Moment stach Thorin noch nach oben und versenkte die stählerne Klinge bis zum Heft in den Eingeweiden des lauthals vor Schmerz aufheulenden Werwolfs. Dann krachten jedoch die Oberschenkel und die Hüfte der Bestie mit mörderischer Wucht auf Thorin. Er wurde von den Füßen gerissen, Blitze des Schmerzes fuhren ihm neuerlich durch den Kopf und die Brust. Seine Schultern fühlten sich taub an und seine Arme wurden schwer. Dann fiel er rücklings ins Wasser, der Werwolf landete auf ihm, drückte noch einmal auf Thorins Brust und rollte denn durch den Schwung von ihm. Wieder verschwamm seine Sicht. Dennoch glaubte er zu erkennen, dass das Schwert noch immer tief in den Bauch seines Widersachers versenkt war. Dieser heulte noch immer auf und die großen Pranken grabschten nach dem kurzen Griff mit der schmalen, kantigen Parierstange. Aber sie bekamen ihn nicht richtig zu fassen. Der Geruch von Nassem Hund und immer mehr Blut krochen ihm alsbald in die Nase.
Thorin griff derweil unter Qualen und mit dem letzten Aufgebot seiner Willenskraft unter seinen Fellharnich nach dem Silberdolch. Seine schwächelnden Finger bekamen den kleinen Griff erst gar nicht zu fangen, dann holte er aber einen silbrig glänzenden Dolch hervor und rollte sich dann auf die Seite. Danach stemmte er sich langsam, nach und nach, auf seine Knie hoch. Nur mit Mühen und mit einem schweren Schwindelanfall kam er dann wieder auf die Füße. Die undeutlichen Schemen des Werwolfs waren mittlerweile auch wieder ruhiger geworden, wenngleich das Schwert noch immer in dessen Bauch zu stecken schien. Offen sichtlich schien er zu ahnen, was Thorin da in seiner Hand hielt. Das Knurren wurde lauter und der Jäger hob den Dolch vor die Brust.
Dann ging es schnell. Wieder sprang der Wolf, die Kiefer weit aufgerissen. Thorin knickte wieder ein und stieß zu. Die Zähne klackten direkt über seinem Kopf zusammen und der Dolch stach in die Kehle. Die Pranken der Bestie legten sich auf Thorins Rücken und die Krallen stachen in flachen Winkeln durch seine Rüstung, Kleidung und Haut. Zusammen, in einer tödlichen Umarmung, prallten sie wieder auf den harten Steinboden unter dem niedrigen Wasser. Ein paar mal wälzten sie sich über den Boden und blieben dann liegen. Thorin wurde freigegeben und blieb auf der Seite liegen. Blut rann aus seinen alten und neuen Wunden. Der Dolch steckte noch immer in der Kehle des Wolfes, der nun auch seitlich liegen geblieben war und Thorin anstarrte. Nichts passierte. Das Silber wirkte nicht. Das Fleisch des Werwolfs verbrannte und zischte nicht. Die Bestie schrie auch nicht, sondern schien selbst überrascht von der Gegebenheit. Ungläubig legte sich die linke Pranke auf den Hals.
Wie ein Blitz durchfuhr ein kurzer Moment von vor einigen Tagen Thorins Kopf. Er stieß rücklings gegen den Tisch in seiner Hütte mit all seinen Waffen darauf. Laut klirrte es metallisch, dann drehte er sich um und griff sich einen silbrig glänzenden Dolch. Erst jetzt wurde er sich bewusst, dass es nicht sein Silberdolch war. Eigentlich hätte er die Unterschiede erkennen müssen. War sein Silberdolch doch mit feinen Linien und Runen verziert, so war dieser Dolch einfach und schlicht und nur auf Hochglanz poliert. Seine eigentliche Silberwaffe musste vom Tisch gefallen sein, als er dagegen gestoßen war und lag nun noch immer an derselben Stelle.
Entsetzen, Wut und Angst ergriffen ihn. Wie sollte er einen Werwolf ohne Silber töten? Konnte er es überhaupt? Wenn ja, hatte er die Kraft dazu? Langsam und mit einem leisen Schmatzen zog der Wolf dann den Dolch aus seinem Hals. Dunkelrotes Blut rann aus der Wunde, bevor sie sich langsam zu schließen begann. Dabei kam Thorin eine Idee. Er hatte noch nicht davon gehört, dass einem Werwolf ein abgeschlagenes Glied nachgewachsen war. Eine Hand zum Beispiel. Wenn er ihm den Kopf abschlug …
Die aufkommenden Schmerzen ausblendend rollte sich Thorin einmal um die eigene Achse auf den Wolf zu. So schnell er konnte packte er den bereits mit Blut besudelten Griff seines Schwertes und zog es heraus. Der unerwartete Zug ließ die Bestie kurz überrascht inne halten und dann aufheulen, als seine Eingeweide wieder beschnitten wurden. Im Liegen holte Thorin aus und zielte auf den Hals. Mit lautem Knacken traf die Klinge auf die Halswirbelsäule und blieb stecken. Dennoch rührte sich der Wolf schon jetzt nicht mehr. Wenn man einmal von der Atmung absah. Der Schlag hatte ihm das Genick gebrochen und es würde eine Weile dauern, bis diese Wunde heilte.
Mit einem kräftigen Ruck und seinen allerletzten Kraftreserven zog Thorin das Schwert wieder heraus und schlug erneut zu. Widerlich knackend durchschlug die Klinge die Knochen, aber der Kopf hing noch immer an wenigen Muskelsträngen am Rumpf. Der letzte, verzweifelte Schlag durchtrennte auch sie. Sprudelnd plätscherte das Blut aus dem Halsstumpf und eine rote Lache breitete sich schnell um den Kadaver aus. Der Kopf rollte etwas zur Seite und durch das seichte Wasser.
Knirschend, knackend und schmatzend geriet der Körper dann auf einmal von ihnen in Bewegung. Es schien, als ob die Knochen von alleine brachen und sich neu organisierten. Immer mehr Blut quoll aus dem Stummel. Die weißen Haare fielen aus. Die Pranken wurden zu Händen, der Schwanz verschwand. Ekelhafte Beulen wanderten unter der Haut entlang, verschwanden oder entstanden neu. Dann kehrte Ruhe ein. Der Leib war der eines kräftigen Nord geworden.
Klirrend fiel Thorin das Schwert aus der Hand. Vollkommen fertig und zum Sterben bereit, rollte er auf den Rücken. Blut umgab ihn an allen Seiten. Es haftete auf ihm, er schmeckte es in seinem Mund, es brannte in den Lungen. Seine Atmung ging schwer, schleifend. Er spürte seine Gliedmaßen nicht mehr. Seine Sicht drehte sich. Das flackernde Licht verschwamm zu bizarren Formen mit den Schatten. Trotz allem war er von einem unbegreiflichen, inneren Frieden erfüllt. Er hatte seine Eltern und Freunde gerächt. Nun konnte er zu ihnen.
Alle Anspannung wich von ihm, seine Muskeln lockerten sich, er wurde ruhiger und ruhiger. Sein Herzschlag wurde langsamer. Zurück blieb die mystische Melodie, die den Felsen um ihn inne wohnte. So blieb er nun liegend. Sich auf das Wiedersehen mit seinen Freunden freuend. Dann schloss er seine Augen und ein dunkler Schatten legte sich über ihn …