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Neuling
Kaiserstadt, Talosplatz
Alec langweilte sich fast zu Tode. Es war mitten in der Nacht und er befand sich drei Stockwerke über dem Boden auf einem Sims neben einem Fenster. Er kauerte dort und biss in seinen Apfel. Schmatzend lugte er wieder durch das Bleiglas neben sich. Er hasste Beschattungen! Manchmal konnten sie sich als sehr kurzweilig und interessant erweisen, doch die meisten liefen so ab, wie diese hier: Man schaut der Zielperson stundenlang beim Schlafen, Essen, Lesen und sogar beim Notdurft verrichten zu. Seine Zielperson, ein hagerer Mann mittleren Alters, völlig unauffällig, grunzte zufrieden auf seiner Schlafstatt. Alec verdrehte die Augen, lehnte sich wieder an die Hauswand und schaute in den klaren Nachthimmel. Er biss das letzte Stück von seinem Apfel und begann den Butzen in seiner Hand auf und ab zu werfen. Wachen waren keine in Sicht und so gab es für Alec absolut nichts zu sehen. Das Viertel war wie ausgestorben. Ab und an brachte eine, auf den Dächern herumstreunende, Katze etwas Abwechslung, doch ebenso schnell wie sie auftauchte war sie auch wieder verschwunden. Alec zog seine Kapuze tiefer ins Gesicht. Er fror erbärmlich und hatte mit der aufsteigenden Müdigkeit zu kämpfen.
Alec schreckte durch ein Geräusch hoch. "Dreck!", dachte er... er musste wohl kurz eingenickt sein. Aus dem Fenster neben ihm schien schwaches Licht. "Dreck, Dreck, Dreck! Da passiert endlich mal was und ich verschlafs!" Er spähte vorsichtig durchs Fenster. Das Zimmer war durch eine Kerze schwach erleuchtet. Seine Zielperson stand im Zimmer und redete wild gestikulierend auf eine andere, in eine Kutte gehüllte, Person ein. Zu schade, daß der Unbekannte seine Kapuze auf hatte. Dadurch konnte Alec aufgrund der schummrigen Beleuchtung nichts vom Gesicht erkennen. Alec fiel auf, daß sein "klient" scheinbar Angst vor dem Fremden hatte, denn sein Gesicht erschien furchtsam und angespannt, wie in Todesangst, während er auf den Unbekannten einredete. Leider redeten sie so leise, daß Alec ausser leisem Gebrummel nichts verstehen konnte. Plötzlich und blitzschnell hob der Fremde seine Hand und packte sein Gegenüber am Hals. Alecs Augen wurden größer, als sein "Klient" auf einmal mit seinen Füßen in der Luft zappelte, wie ein Fisch auf dem Trockenen. "Jetzt wirds interessant..." Kurze Zeit später wurde das Zappeln schwächer und hörte schließlich ganz auf. Alec versuchte angespannt Einzelheiten des Fremden zu erkennen und spähte angestrengt durch die Scheiben. In diesem Moment wandte der Unbekannte den Blick von seinem Opfer und starrte genau in Alecs Richtung. Alec erschrack und rutschte fast vom Sims. Er drückte sich wieder neben dem Fenster an die Wand und atmete schnell. Kaum eine Sekunde später zerbarst die Scheibe mit lautem Klirren und sein "Klient" flog wenige Zentimeter an Alec vorbei und landete unsanft mit einem Platschen auf dem Pflaster. Instinktiv riss Alec dabei die Hände vor die Augen... und rutschte endgültig ab. Im letzten Augenblick hielt er sich mit einer Hand am Sims fest. Verzweifelt versuchte er auch mit der zweiten Hand einen halt zu finden... da hielt er inne. Durch das geborstene Fenster waren langsame Schritte schwerer Stiefel zu hören, die sich dem Fenster näherten. Alec hielt den Atem an, als er nach oben zum Fenster sah. Der Kopf des Fremden erschien in der Öffnung und für einen kurzen Moment sah Alec das Gesicht, während sich beide anstarrten. Es war das Gesicht eines älteren Mannes, doch war die Haut grau wie Asche und die pechschwarzen Augen schienen sich mit ihrem Blick direkt in Alecs Kopf bohren zu wollen. Dann kam der Lärm...
Das schnelle klappern eiserner Stiefel auf Pflasterstein, Stimmen wurden laut und zwei Häuser weiter konnte man Fackelschein erkennen, der sich von einer Seitengasse schnell näherte. Der Unbekannte schaute ebenfalls kurz in die Richtung, dann wieder zu Alec und verschwand im Zimmer. Das Licht wurde gelöscht, dann war es im Zimmer still. "Ich muss hier weg!", dachte Alec und er versuchte weiter sich wieder auf den Sims zu ziehen. Die Wachen waren inzwischen schon in Sichtweite und es war nur eine Frage von Sekunden, bis Alec im Fackelschein zu sehen sein musste. "Da vorne!", hörte er eine der Wachen brüllen. Zwischenzeitlich hatte sich Alec wieder auf den Sims gezogen und verharrte bewegungslos. "Vielleicht habe ich Glück..." Just als er das dachte blickte einer der Wachmänner, die sich inzwischen um den Toten versammelt hatten, nach oben. "Da ist das Schwein!", brüllte er als er auf Alec zeigte. "Verdammter Goblindreck!" Alec ging in die Hocke und sprang nach oben, klammerte sich am Giebel fest und zog sich hoch. Er hörte wie die Wachen währenddessen blank zogen und sich an der haustür zu schaffen machten. In den Nachbarhäusern wurden Fenster aufgerissen um den Grund des nächtlichen Krawalls zu erfahren und eventuell einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Alec schaute nicht zurück sondern sprintete den Giebel entlang. Auf der Straße hörte er das hastige Scheppern von Rüstungen und aus dem Haus unter sich hörte er Krachen und Rumpeln. Er spähte in die Dunkelheit vor sich und sprang am Ende des Daches ab. Er war hochkonzentriert, lauschte dem Tumult auf den Straßen um die ungefähre Position seiner Verfolger abzuschätzen und achtete auf jedes "Da ist er!", während er scheinbar eine Ewigkeit durch die Luft segelte. Er landete auf einem Dach auf der anderen Straßenseite und rannte weiter. Das war seine Welt: Die Dächer der nächtlichen Stadt, die Dunkelheit und das Kräftemessen mit den Ordnungshütern.
Er rief die örtlichen Gegebenheiten in seinem Kopf ab um eine schnelle Fluchtroute zu finden. Er sprang auf das Dach eines tiefer gelegenen Hauses und lies sich von dort auf die Straße gleiten. Er rannte die Gasse entlang und sah vor sich in der Dunkelheit die Stadtmauer. Er blickte kurz zurück und als er sicher war, daß ihn keiner sehen konnte, sprang er in das Gebüsch, das die Mauer säumte. Er tastete den Boden ab. "Hier muss es doch irgendwo sein", dachte er. Er fand was er suchte, riss den Kanaldeckel zur Seite und lies sich in die stinkende Dunkelheit gleiten. Von der Leiter aus spähte er noch kurz nach seinen Verfolgern und schloß den Deckel, dann ließ er sich die Leiter herabrutschen und landete mit einem Platschen im Abwasser der Stadt.
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