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Provinzheld
Solstheim, Moesring Berge
Es kostete sie viel Zeit die Spuren zwischen den großen Steinen zu verfolgen. Manchmal fanden sie sie nur durch Zufall, wenn Schnee von den großen Brocken heruntergerutscht war, als ihr Gejagter mit ihrem Freund auf einem der Felsen gelandet war. Gegen Mittag am nächsten Tag erreichten sie schließlich den Fuß des zweiten, südlicher gelegenen Passes. Die Spuren waren hier einfacher zu verfolgen. Aus welchem Grund auch immer, die Abstände zwischen den Abdrücken waren kürzer geworden. Dazu kam noch die offenere Landschaft kurz bevor es in die Kerbe hinauf ging. Und zu ihrer großen Überraschung schienen ihnen die Götter ein wenig gewogen zu sein. Der Schnee in diesem Gebiet war weniger tief und ließ sie schneller vorankommen. Der Wind kam die letzten Tage meistens aus Süden und somit lagen diese Bereiche ihrer Route im Windschatten der Berge. Es schien als wolle Mutter Natur selbst helfen, ihren Freund zurückzubekommen. Oder sie hatten einfach nur großes Glück, ohne göttliche Einmischung. Aber Thorin glaubte mehr an ersteres oder besser gesagt er wollte an ersteres Glauben, um sich seine Hoffnung zu bewahren.
Der Pass zwischen den Berggipfeln hier, war um einiges schmaler, als der Große, Nördliche und auch um einiges höher. Das bremste ihr Vorankommen wieder ein wenig aus, aber sie hatten damit ohne hin gerechnet. Das einzige, was ihnen dabei immer wieder einen unangenehmen, kalten Schauer über den Rücken laufen ließ, war der starke, neu aufgekommene Wind, der vom Pass herab wehte und ihnen aufgewirbelte Schneeflocken entgegentrieb. Nicht, dass sie das von ihrem Weg abgebracht hätte. Auf ihrem Weg nach oben nahmen sie wieder ihre alte Reiseformation ein. Einer an der Spitze und alle anderen folgten in einer Linie, mit einem etwas weiter hinten. Als sie begannen sich ihren Weg nach oben zu suchten, befand sich Rulmgar an der Spitze ihres Zuges, gefolgt von Thorin und Hulfgar. Das Schlusslicht bildete Gondrim.
Wenigstens spielte ihnen der Rest des Wetters weiterhin in die Hände. Am stahlblauen Himmel befanden sich nur wenige Wolken und die Sonne schien kräftig auf sie herab. Fast hätte Thorin glauben können, dass es wirklich warm um sie herum war. Aber nur fast. Der Schweiß rann ihm über die Schläfen in den Bart und gefror an dessen Spitzen zu kleinen Eiszapfen, die ihm gegen die gepolsterte Brust schlugen. Er merkte es nicht, vielmehr hörte er das Klimpern über dem Knirschen des Schnees unter ihren schweren Füßen. Sein Atem ging schneller und angestrengter. Die Strapazen zeichneten sich ab. Sie hatten nicht einen Moment geschlafen innerhalb des kompletten letzten Tages und zwischendrin hatten sich die Jäger einstimmig gegen längere Rasten entschieden. Sie mussten das Wetter und den weniger tiefen Schnee ausnutzen, um Boden gut zu machen, bevor sie diese Vorteile verloren. Und vor allem mussten sie ausnutzen, dass ihr Gejagter tagsüber definitiv langsamer war, als sie – zumindest solange sich Thorins schlimmste Befürchtung nicht bewahrheiten würde.
Sie näherten sich dem höchsten Punkt des Passes am frühen Nachmittag. Der Pass war fast ausschließlich Eis. Der starke Wind hatte den leichten Pulverschnee davon geblasen. Das machte das Finden von Spuren umso schwerer, aber an sich gab es nur eine mögliche Richtung, in die ihr Wolf hatte gehen können. Und das war geradewegs auf der anderen Seite wieder herab.
„Machen wir eine kleine Pause zum Ausschütteln der müden Beine, oder folgen wir den Spuren direkt weiter?“, kam es von hinten. Genau genommen von Gondrim, der wieder zu ihnen aufgeschlossen hatte, als sie ein wenig unentschlossen anhielten.
„Wenn ihr mich fragt, sollten wir weiter machen. Selbst in seiner Wolfgestalt kann er es nicht viel weiter als hier geschafft haben bis zum Sonnenaufgang“, brummte Hulfgar, der gerade neben Thorin stehen blieb. „Und in seiner Menschengestalt ist er langsam – und das wisst ihr alle genauso gut, wie ich“, fügte er dann noch an.
„Er hat Recht. Wir sollten über unsere müden Füße hinwegsehen. Schlafen können wir genug, sobald wir hier fertig sind“, sagt Thorin dann mit einem bitteren Unterton. Rulmgar brummte nur zustimmend.
„Ich bin der letzte, der widerspricht“, kam es von Gondrim. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren stapfte Thorin als Spitze voran, gefolgt von Hulfgar, dann Gondrim und nun als Letzter in der Reihe, Rulmgar. Schweigend machten sie sich an den Abstieg auf der anderen Seite. Es ging schneller voran, als beim Aufstieg. Trotz dessen, dass der Schnee hier wieder tiefer wurde. Dafür wurden die Spuren wieder einfacher zu finden und er lief praktisch in der bereits gezogenen Rinne. Wenn er gerade hinab schaute, konnte er den Meeresarm sehen. Funkelnd, wie ein Diamant im Licht, und doch dunkler, schnitt er durch das Land am Fuße der Moesringberge. Direkt dahinter lag der scheinbar endlose Wald der Isinfier Ebenen. Sie erstreckten sich bis zum Horizont – und noch ein wenig weiter. Sein Blick wanderte zum Himmel und in der Ferne konnte er bereits neue Wolkenformationen erkennen, dunkle Formationen. Es gab keinen Zweifel, dass sie sich nach Norden bewegten. Im Osten und im Westen war der Himmel ebenso klar, wie direkt über ihnen.
Der Pfad schlug eine kleine Kurve ein, als sie näher an den Meeresarm herankamen und verlief nun nach Osten, parallel an den Hängen der Berge entlang und weiter nach unten. Den Spuren folgend. Mehr aus Automatik, denn aus eigentlicher Kontrolle. Thorin konnte die Müdigkeit in seinen Gliedern förmlich greifen. Sein Blick wanderte über die weißen, glatten Abhänge, ohne sie wirklich wahr zu nehmen. Nicht nur wegen der Müdigkeit, sondern auch weil seine Gedanken in die Ferne schweiften. Als wenn er ihren verschleppten Gefährten finden könne, nur mit der Kraft seine Gedanken.
Sie näherten sich dem Ende des Meeresarms. Das Wasser wurde flacher, und der Arm schmaler. An seinem Ende befanden sich mehrere große Fels- und Eisbrocken. Ihr Weg würde sie genau zwischen sie führen und danach in die weiten Wälder Solsteheims. Und wenn sie keine Spuren fanden, würden sie ihn nie finden. Thorin schüttelte leicht den Kopf, als ob er seine negativen Gedanken so loswerden könne. Seine Gedanken kehrten zu Brândil zurück und wie es ihm im Moment wohl gehen mochte. Sie erreichten das kleine Gebiet der umherliegenden Eis- und Felsbrocken. Zunächst nahm er die dunklen Flecken im Schnee nicht wahr, aber als sie größer wurden, begann er erst richtig zu begreifen, was genau es mit ihnen auf sich haben musste. Mit einem Schlag war seine Müdigkeit wie weggeblasen. Seine Muskeln spannten sich und seine Sinne wurden scharf, wie eine Klinge. Sein Schritttempo wurde langsamer, bis es nur noch ein langsames Voranschleichen war. Er wusste seine Freunde mehr hinter sich, als dass er sie hörte oder sah.
Thorin drückte sich in den Schatten eines der großen Felsen und schlich langsam um ihn herum. Sein Puls beschleunigte sich unwillkürlich, als ob sein Herz etwas wusste, dass seine Sinne noch nicht erfasst hatten. Seine Zähne knirschten leise, als sie gegen einander gedrückt wurden. Und von einem Lidschlag auf den Anderen kamen plötzlich zwei Füße in seinen Sichtwinkel. Die Beine verschwanden hinter dem Felsen, um den er herum schlich. Sie waren in eine weiße Pelzrüstung gehüllt. Die Füße waren mit Blut besudelt und lagen in einer kleinen, dunklen Lache. Als Thorin weiter vorwärts schritt und mehr von den Beinen sichtbar wurde, konnte er tiefe Wunden auf den Oberschenkeln erkennen, aus denen noch immer frisches Blut rann. Zumindest ließ das feuchte Glitzern so schließen. Es konnte aber auch bedeuten, dass der Mann, der dort lag, erst seit kurzem tot war.
Der Torso kam in sein Sichtfeld. Die linke Schulter war zerfleischt. Knochensplitter, Fleisch, Blut und Fell der Rüstung bildeten eine einzige Masse. Blut war in alle Richtungen verteilt. Ein weiterer Schritt und die älteren, trotz der Wunden nur wenig schmerzverzerrten Züge von Brândil wurden sichtbar. Er hatte die Augen geschlossen und wirkte irgendwie friedlich. Seine Sicht verschwamm für einen kurzen Augenblick, dann spürte er etwas Kleines, Feuchtes seine Wange hinunterlaufen. Alles in ihm brannte danach, sich einfach neben seinen Freund zu knien und zu versuchen, ihm zu helfen. Aber Thorin wusste auch, dass er nicht konnte, ohne sicher zu sein, dass sie allein waren. „Was ist?“, hörte er die leise, angespannte Stimme von Hulfgar hinter sich hören. Er konnte nicht viel sehen.
„Ich habe Brândil gefunden“, erwiderte er gefühllos. Nicht, weil er nichts empfand, sondern viel mehr, weil er sich so unendlich leer fühle. Hulfgar schwieg. Thorin schaute sich noch ein letztes Mal um, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand auflauerte, dann machte er einen weiteren Schritt auf Brândils leblosen Körper zu, rammte seinen Speer in den Boden und kniete sich neben seinen Freund. Die Schritte der drei Anderen knirschten im Schnee neben ihm. Dann tauchte Hulfgars kräftiger Körper vor ihm auf und kniete sich ebenfalls neben ihren Freund. Gondrim und Rulmgar standen Wache.
„Brândil, kannst du mich hören?“, fragte Thorin mit leicht zitternder Stimme und legte dem alten Mann eine Hand vorsichtig auf die Brust. Er fühlte nichts. Nicht das geringste Heben und Senken des Brustkorbes. Thorin zog seine Hand zurück. Und legte sie schwermütig und mit sinkendem Herzen auf seines Freundes rechte Schulter. Mit einem Mal verzog sich die Mine auf Brândils Gesicht zu einer Fratze des Schmerzes. Thorin und Hulfgar wären wohl beide fast gleichzeitig aufgesprungen, wären sie nicht zu überrascht und schockiert zur gleichen Zeit. „Brândil!“, entfuhr es Thorin mit gemischter Freude.
„Ha-hallo Tho-rin“, kam es schwach von diesem. Blut rann aus seiner Nase und den Mundwinkeln.
„Wir bekommen dich schon wieder hin“, kam es von Hulfgar ermutigend.
„N-nein“, grinste ihr Freund gequält. „U-und das wis-sst ihr.“ Zu Thorins ernüchternder Erkenntnis, hatte er Recht. Sie konnten ihn noch vom Fluch des Werwolfs heilen, aber Brândil bräuchte dann schnelle, medizinische Hilfe. Hilfe, die sie unmöglich gewährleisten konnten. Und wenn sie ihn nicht heilen würden, würden sie ihn später jagen und dann töten. Thorins Sicht verschwamm erneut.
„Brândil, du … warst mir … wie ein Vater“, stammelte er.
„Und du mir“, Brândil hustete und ein Schwall Blut kam aus seinem Mund, … wie … ein Sohn.“
„Ruhe in Frieden.“ Thorin richtete sich auf und griff nach seinem Speer.
„Ei-eines noch … Der, den i-ihr sucht … er ist nach Süden … z-zu d-den Grä-bern.“
„Danke.“ Thorin zog den Speer aus dem Boden, während sich Hulfgar langsam aufrichtete. Er konnte ihn kaum erkennen. Seine Sicht war ein einziger Brei aus schwer deutbaren Farbflächen. Er glaubt zu erkennen, dass der stämmige Jäger grimmig nickte. Er hob seinen Speer. Einen letzten Lidschlag schaute er nach unten, auf seinen Freund. Nein, seinen Vater. Dann stieß er zu und rammte die Spitze seiner Waffe auf Höhe des Herzens durch die Eisbärenrüstung. Seine Beine versagten und er sackte zusammen …
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