Erynn verließ Skingrad durch das westliche Tor. Es war kurz vor Sonnenaufgang, und die Farbe des Himmels änderte sich bereits zu einem helleren blau, durchsetzt von zarten, rosafarbenen Streifen. In weniger als einer Stunde würde sich die Sonne über den Horizont schieben und der Frieden dieser so unwirklich scheinenden Stunde dem geschäftigen Treiben des Tages weichen. Zu dem Zeitpunkt wollte die Dunkelelfin allerdings schon längst mitten im Grasland der Westebene sein.

Sie begab sich zu den Stallungen vor der Stadt um ihr Pferd von der Koppel zu holen, einen sechsjährigen dunkelbraunen Wallach mit vier weißen Fesseln und einer schmalen, geraden Blesse. Das Tier war der einzige Luxus, den sie sich leistete, aber sie hatte so viel Freude daran, daß sie die Septime dafür gerne ausgab.
Nachdem sie das Pferd -das sie aus einer Laune heraus ‚Falchion’ getauft hatte- gesattelt und ihren Stahlbogen hinten am Sattel befestigt hatte, schwang sie sich auf seinen Rücken und ritt am langen Zügel die Straße hinauf Richtung Nordosten. Nebelfetzen hingen zwischen den Weinstöcken des Surilie-Weinguts zu ihrer Linken, das zu so früher Stunde noch still und verlassen dalag. Sie faßte die Zügel kürzer und trieb ihr Pferd zu einem flotten Trab an, als sie die Plantage hinter sich gelassen hatten. Ihr Ziel war Goblin Jims Höhle. Erynn wußte nicht, wer Goblin Jim war oder warum sich jemand die Mühe machen sollte, einem Goblin einen Namen zu geben, aber das spielte letztendlich auch keine Rolle. Nach einer Weile verließ sie die Straße und bog in die üppige Wildnis der Westebene ab. Jetzt, am frühen Morgen, verströmten die hier verschwenderisch wachsenden Gräser, Blumen und Kräuter einen fast berauschend intensiven Geruch. Die Sonne ging gerade auf und brachte den Tau auf den Blättern zum glitzern. Die Elfin hielt ihr Reittier an und genoß für einen Augenblick diesen Moment voller Schönheit. Dann wandte sie sich direkt nach Norden.

Auf halbem Wege ließ Erynn Falchion in der Nähe einiger großer Felsen zurück. Sie saß ab und vergewisserte sich, daß in der Nähe kein Nachtschatten wuchs, an dem sich das Tier vergiften könnte. Dann löste sie den Bogen vom Sattel und spannte ihn. Mit der Waffe in der Hand schlich sie sich vorsichtig an die Höhle heran. Sie nahm nich den direkten Weg, sondern näherte sich von Osten, so daß ihr die aufgehende Sonne im Rücken stand. Ihre Lederrüstung knarrte leise, als sie hinter einem Busch in Deckung ging. Ein großer Felsen in ihrem Rücken würden hoffentlich dafür sorgen, daß ihr Überraschungen aus Richtung des Großen Forstes erspart blieben. Von ihrer Position aus hatte sie einen guten Blick auf den Höhleneingang wie auch auf den Bereich davor. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen: Goblinjagd war eine Art Sport in der Skingrader Kriegergilde, und sie beteiligte sich mit der gleichen Begeisterung daran wie der Rest der Berufskämpfer auch.
Die Elfin mußte nicht lange warten. Aus Richtung des Hochlandes kam eine kleine, verwachsene Gestalt in Sicht. Der Goblin hatte scheinbar den Schutz der Dunkelheit genutzt, um Beeren oder ähnliches zu sammeln. Jetzt kehrte er zurück, um sich wieder in seinem Bau zu verkriechen. Erynn ließ sich auf ein Knie nieder und zog langsam, ganz langsam einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn locker auf die Sehne. Der Goblin wuselte direkt auf die grobe Brettertür zu, die den Höhleneingang verschloß, so daß sich keine Möglichkeit zu einem sicheren Schuß bot. Die Dunmerin hob den Bogen und stieß einen leisen Pfiff aus. Irritiert hielt das Wesen inne und drehte sich suchend zur Quelle des Geräuschs um. Es blinzelte, als es in die frühe Sonne starrte, deren Schein sich mit den Schatten des Waldes vermischte, und schirmte die Augen mit einer Hand ab. Erynn zog die Sehne bis zum Mundwinkel zurück und schickte den Pfeil auf die Reise. Mit einem dumpfen Klatschen schlug er in die Brust des Goblins ein und riß ihn herum. Er zuckte unkontrolliert, wirbelte im Todeskampf Staub und Grasbüschel auf und lag dann still. Dennoch verblieb die Schützin in ihrer Deckung und legte einen weiteren Pfeil auf die Sehne. Nur wenige Herzschläge später fand sie ihre Vermutung bestätigt: Goblins sind nur selten allein draußen unterwegs. Ich bin mir sicher, daß es noch mindestens einen zweiten gibt. Dieser zweite Goblin tappte in ihr Schußfeld, entdeckte seinen toten Artgenossen und sah sich mißtrauisch witternd um. Perfekt. Er starb ebenso wie der erste. Auch jetzt wartete Erynn wieder eine Weile, aber alles blieb ruhig. Schließlich wagte sie sich hinter ihrem Busch hervor, um die beiden Kadaver zu untersuchen. Wenn gleich sie dabei weiterhin auf ihre Umgebung achtete, tat sie doch ihr bestes, den schaurigen Behälter voller Knochen zu ignorieren, der sich zwischen anderem Müll vor dem Höhleneingang befand. Die Überreste darin sahen beunruhigend menschlich aus.

Wie erwartet fand sie nichts Wertvolles bei den toten Gobbos. Sie trugen rostige, grobgeschmiedete Waffen, die bestenfalls zum Einschmelzen taugten. Erynn ließ sie liegen. Auch die matschigen Beeren und die Steinpilzkappen, welche die Kreaturen bei sich trugen -scheinbar die Ausbeute der vergangenen Nacht-, nahm sie nicht mit. Wer sollte so etwas schon noch essen wollen? Sie jedenfalls nicht. Nachdem Goblinklauen die Nahrungsmittel befingert hatten, wirkten sie auf die Elfin abstoßend. Irgendwie... unrein. Die beiden Pfeile hatten die Aktion ebenfalls nicht überlebt. Schäfte und Federn waren abgeknickt worden, als die Goblins stürzten. Zumindest aber ließ sich eine eiserne Pfeilspitze bergen. Man würde sie noch einmal verwenden können. Sie zog ihren Stahldolch und schnitt die jeweils rechte Hand der Biester ab; wegen dieser Trophäen war sie hauptsächlich gekommen. In die Höhle selbst würde sie nicht gehen, jedenfalls nicht ohne Unterstützung. Die Stollen und Gänge waren normalerweise zu eng und zu verwinkelt, um den Bogen sinnvoll einsetzen zu können. Meist bedeutete er dort mehr eine Behinderung als einen Vorteil. In einer Höhle war man mit einem Schwert besser bedient, aber wenn sie sich schon zu so offensivem Hauen und Stechen durchringen mußte, dann doch lieber mit Rückendeckung.
Nach einem weiteren prüfenden Blick auf ihre Umgebung wandte sie sich zum Gehen, kehrte zu Falchion zurück und verstaute die Ausbeute des Morgens in den Satteltaschen. Das Pferd hatte auf sie gewartet, wie immer, und zupfte zufrieden noch ein paar Gräser, während Erynn den Bogen entspannte und verstaute.

Sie wandten sich wieder Richtung Skingrad. „Tut mir leid, mein Großer. Das war wirklich kein besonders langer Ausflug heute“, sagte sie, wärend sie den Mähnenkamm des Tieres kraulte. „Vielleicht ergibt sich bald mal die Möglichkeit, einen Botengang zu erledigen, so daß wir beide etwas mehr Bewegung kriegen.“
Wieder an den Stallungen angekommen, nahm Erynn ihrem Pferd Sattel und Zaum ab, kontrollierte die Hufe auf eingetretene Steinchen und ließ es dann frei auf der Koppel laufen. Den größten Teil des Lederzeugs konnte sie bei den Ställen lassen, allein die Satteltaschen nahm sie mit.
Die Sonne stand noch nicht im Zenit, als sie Skingrad wieder betrat. Da sie von der Torwache als reguläre Bewohnerin der Stadt erkannt wurde, winkte man sie ohne Überprüfung durch. Sie begab sich direkt zum Gildenhaus, einem wuchtig aussehenden Steinbau, um die Goblinhände loszuwerden.
Von der Eingangshalle wandte sie sich nach rechts in den Speisesaal, wo sie auf Parwen traf. In den acht Monaten, die sie jetzt in Skingrad lebte, hatte sie sich mit der Waldelfin angefreundet. „Und?“ fragte diese nur. „Zwei“, grinste Erynn und warf ihr die blutigen Goblinklauen zu. Damit hatte sich der Zweck der Trophäen auch schon erfüllt: Sie bewiesen die beiden Abschüsse. Die Dunmerin nahm ein Stück Kohle und zeichnete zwei weitere Striche hinter ihren Namen auf einem Stück Papier, das für alle sichtbar an der Wand hing. Sie hinkte den anderen noch ziemlich hinterher, vor allem dem großen Argonier Ah-Malz, hinter dessen Namen sich eine beeindruckende Anzahl von Strichen befand, aber sie spielte ja auch noch nicht so lange mit.
Das wäre erledigt. Was mache ich jetzt nur mit dem angefangenen Tag?