Der Schock über das Massaker saß ihnen noch tief in den Knochen, als sie sich an die Verfolgung der Wolfsabdrücke gemacht hatten. An sich waren diese wenig besonders. Wölfe hatten unterschiedliche Größen. Und diese hier lagen definitiv im normalen Bereich. Aber die Tatsache, dass die Spuren von dem Blutbad ausgingen, machten sie mehr als nur verdächtig. Besonders für Thorin. Ihre Speere hielten sie stets fest umschlossen an ihren Seiten und ließen die Blicke schweifen. Das Gebiet um den Pass hatten sie bereits seit einer Weile hinter sich gelassen. Abgesehen von ihrer Stimmung, hatte sich auch ihre „Jagdformation“ geändert. Von einer Reihe hatten sie sich nun so angeordnet, dass sie zwei Reihen bildeten. Eine Erste, die aus Dreien bestand und leicht gebogen war. Sprich mit einem, an der Spitze und zwei, die einen Schritt weiter hinten flankierten. Und eine Zweite, die aus den anderen Zweien bestand. Thorin, Brândil und Gondrim befanden sich in der ersten Reihe, wobei Gondrim die Spitze bildete, und Hulfgar und Rulmgar bildeten die zweite Reihe.
So aufgestellt liefen sie durch den knietiefen Schnee. Zwar kamen sie langsam voran, aber die Spuren würden so schnell nicht verschwinden. Immerhin fiel nur sehr wenig Schnee auf sie. Und wie Thorin mit einem Blick zum Himmel feststellte, riss die ohnehin schon dünne Wolkendecke auch noch auf. Zu ihrer Linken befanden sich die hohen Gipfel der Moesring Berge, die sich als dunkle Linien vor den helleren Wolken abzeichneten. Oder gelegentlich auch als schwarze Schatten vor dem mit hellen Lichtpunkten übersäten, dunkelblauen, fast schwarzen Himmel. Ein solcher Anblick ließ jedes Mal seinen Magen ein wenig in sich zusammen sinken. Wie klein und unwürdig sie doch waren im Vergleich zur Größe der Mutter Natur und ihrer majestätischen Schönheit. Auch sein Herz machte einige unruhige, aber irgendwie auch freudige Zusatzschläge – nicht das es ohnehin schon schnell schlug, aufgrund der Umstände. Aber in gewisser Weise verschaffte es ihm gleichzeitig eine neue, innerliche Ruhe. Sollte sich sein unterbewusster Verdacht das Massaker betreffend bestätigen, würde er wenigstens eins mit dieser Schönheit werden. Oder in die ewigen Hallen der Krieger einziehen. Aber als Jäger bevorzugte er Ersteres.
Während er so in seine Gedanken versunken war, ließ er dennoch nicht seine direkte Umgebung aus den Augen. Auch wenn er manches Mal durch sie hindurch zu sehen schien, würde ihm doch sofort jede Bewegung zurück in die Wirklichkeit holen. Oder jedes Geräusch, das nicht zu ihnen gehörte. Und so kam es dann auch, dass ihn ein leiser, reißender Laut aus seinem starren Blick riss und seinen Kopf schnell in alle Richtungen herum zucken ließ. Es kam von irgendwo vor ihnen, hinter einer kleinen Hügelkuppe verborgen. Sofort hielten sie an und rührten sich nicht eine Haarbreite weit. Ihre Anspannung zeichnete sich symbolisch als ihre Dampfwolken des Atems in das silbrige Mondlicht. Sie verschwanden so schnell, wie ihre Nerven zuckten. Dann waren sie wieder da – und verschwanden erneut. Scheinbar endlose Momente vergingen, ehe sie über die Hügelkuppe gelangten und ihnen erneut der Atem in den Lungen stecken blieb. Einer der Wölfe lag mit Blut übergossen und mit zerfleischter Bauchdecke im Schnee. Ein anderer hatte seine Schnauze in die Eingeweide gegraben und war ebenfalls mit einigen, aber weitaus weniger gravierenden Wunden geziert. Vom dritten Wolf fehlte jedwede Spur. Das weißgraue Fell des lebenden Wolfes war teilweise mit dem roten Lebenssaft des Anderen – oder auch seinem Eigenen – beschmutzt. Das Schauspiel befand sich gute zwanzig Schritte vor ihnen. Im tiefen Schnee vielleicht auch das Doppelte. Seine Muskeln spannten sich und seine Nerven waren bis auf das Äußerste gereizt. Das fressende Tier hatte sie scheinbar noch nicht bemerkt. Zu sehr schien es mit Fressen beschäftigt zu sein. Erst als er neben sich ein leises Klicken hörte, das auch ihn zusammenfahren ließ, schaute der Wolf auf.
Thorin wandte seinen Kopf nach rechts, von wo er das Geräusch gehört hatte, und schaute auf die gespannte Armbrust von Hulfgar. Mit einem weiteren Klicken löste sich der Haltehaken, der sie Sehne zurückgehalten hatte, und die Bolzen schoss mit einem schneidenden Pfeifen davon. Nur wenige Augenblicke später härte er ein gequältes Jaulen und danach ein dumpfes Plumpsen. Sein Kopf wanderte wieder herum und er erblickte den nun leblos am Boden liegenden Körper des zweiten Wolfes. Aus seiner Schädeldecke, ein wenig seitlich hinter dem Auge eingedrungen, ragte der Schaft des todbringenden Geschosses. „Guter Schuss“, flüsterte Thorin mehr atmend, als eigentlich sprechend. Vorsichtig und stets umsichtig näherten sie sich den beiden toten Wölfen.
Sie lagen in einer kleinen Senke zwischen einigen kleinen Hügeln. Sie waren hier nicht nur vor momentan nicht vorhandenem Wind geschützt, sondern auch vor neugierigen Blicken. Oder – und das beunruhigte ihn mehr – neugierige Beobachter vor ihnen. Die perfekte Falle. „Verdammt!“, entfuhr es ihm leise, aber dennoch von seinen Freunden hörbar.
„Was ist?“, fragte Brândil, der sich gerade neben die Wölfe kniete und mit den Fingern über den Schnee fuhr. Thorin stellte sich angespannt neben ihm, den Speer neben sich in den Schneegerammt, und sich misstrauisch umsehend. Nichts. Er konnte nichts sehen. Keine verräterischen Spuren, kein noch so leises Geräusch, das nicht von ihnen stammte. Einfach nichts. Und doch … Er war sich so sicher. Er konnte den Blick beinahe auf seinen Schultern spüren. Eine ungreifbare Last, die ihn zu erdrücken versuchte …
Aber es passierte nichts. Es blieb still um sie herum und das Einzige, das er hörte, war sein Atmen und das Knirschen des Schnees unter den Stiefelsohlen seiner Kumpane. „Nichts … Ich habe nur laut gedacht“, erwiderte er dann. An sich war es nicht einmal eine Lüge. Er hatte laut gedacht. Nur hatte sich sein verdacht am Ende nicht bestätigt. Warum also unnötig Unruhe stiften?
„Ich hab‘ hier ‘was“, kam es irgendwo hinter ihm von Gondrim. Schnell wandte er sich um, griff nach seinem Speer, zog ihn mit einem Ruck aus der Erde, und lief dann zu seinem Freund.
„Was hast du?“, fragte er dann, da immer noch nichts passiert war, nun ein wenig entspannter. „Nein, warte. Lass mich raten. Du hast Spuren?“, fragte er dann in einem Tonfall, der eine leise Wahrsagerimmitation sein sollte, um ihn ein wenig lockerer zu machen.
„Richtig. Spuren einer Art Wolf. Und ich sage bewusst nicht eines Wolfes“, erwiderte Gondrim seinen Blick nicht vom Boden anhebend. Der Ernst und der Wortlaut in seiner Stimme ließ Thorin den Atem anhalten. Er hockte sich neben seinen Freund und schaute auf die Abdrücke im Schnee. Tatsächlich passten sie nicht zu einem Wolf. Nicht ganz, zumindest. Es wunderte ihn, dass sie es nicht eher festgestellt hatten. Aber jetzt wo sie eine einzelne Spur hatten, war es deutlicher zu sehen. Die Hinterläufe waren die, eines normalen Wolfes. Nur etwas größer und man konnte die Abdrücke der Krallen deutlich im Schnee erkennen. Die Abdrücke der Vorderläufe waren schwer zu identifizieren. Es waren längere Zehen. Kräftig und ebenfalls mit langen Krallen besetzt. Es waren vier Lange und an einer Seite sah es so aus, als wenn dort eine Fünfte wäre. Allerdings hinterließ diese keinen kompletten Abdruck im Schnee. Thorin wusste nur zu gut, was das für Spuren waren. Er sah sie nicht zum ersten Mal. Unwillkürlich schlossen sich seine Finger wieder fester um den Speer in seiner Rechten. Seine Kiefermuskulatur spannte sich und die Zähne knirschten, als sie gegeneinander gedrückt wurden. Alte Gefühle kochten in ihm auf. Wut, Hass, Schmerz … und Trauer. Er schob sich an Hulfgar vorbei, der ebenfalls nahe an die Spuren gerückt war, und folgte ihnen. In der bereits gezogenen Spur fiel es ihm leichter zu laufen und so zog er das Tempo ein wenig an. „Thorin! Wo zum Henker willst du hin?“, hörte er von hinter sich und einen Augenblick später hörte er die schweren Schritte der beiden Männer, die mit ihm an den Abdrücken gehockt hatten, im Schnee knirschen. Als er auf der Kuppe eines der umliegenden Hügel angekommen war, blieb er stehen und schaute sich um. Nichts. Die Spuren verloren sich vor ihm Richtung Süden zwischen Felsen und großen Eisbrocken. In der Ferne konnte er de südlichen der beiden Pässe in den Moesringbergen erkennen. Nur schwach, als eine Art Kerbe in der sonst glatten Linie der Gipfel.
„Was ist los mit dir?“, fragte Gondrim ein wenig unsicher klingend, als er Thorin erreicht. Er hörte es zwar, reagierte nicht. Seine Gedanken rasten. Sie waren so dicht an seinem Erzfeind. Und nun doch so fern. Unerreichbar. Im endlosen Weiß verborgen und auf sie wartend. Gerade als er nun doch zu einer Antwort ansetzen wollte, hörten sie hinter sich ein tiefes, bedrohliches Knurren und anschließend einen lauten, entsetzten Schrei. Rockartig fuhren die Köpfe der drei Männer herum, Speere nach oben gerissen und wurfbereit. Doch als sie nach unten in die Senke starrten, sahen sie nur Rulmgar am Bodenliegen und einen dunklen Schatten schnell und springend zwischen den gegenüberliegenden Hügelkuppen verschwindend. Von Brândil fehlte jede Spur. „Was bei allen Göttern?!“, entfuhr es Hulfgar, der nur einen Lidschlag später den Hang hinab rannte und sich neben Rulmgar auf die Knie fallen ließ. Thorin und Gondrim folgten nur einen Moment später.
„Was ist passiert?“, fragte Gondrim leise und legte dem am Boden liegenden Mann eine Hand auf die Schulter. Rulmgar stöhnte leise und schüttelte dann den Kopf, als wenn er etwas abschütteln wollte. Thorin vermutete, dass es die Benommenheit war. Für einen kurzen Moment wanderten Rulmgars Augen umher, dann fixierten sie sich auf Gondrim, der sich über ihn gebeugt hatte.
„Ich … weis es nicht. Ich hörte dieses Knurren und wollte mich gerade umdrehen, da hat mich ‘was im Rücken erwischt und ich bin geflogen. Dann hörte ich Brândil schreien, aber ich konnte mich gerade so auf den Rücken drehen und konnte so nichts sehen. Alles hat sich gedreht, du verstehst?“, erklärte der junge Jäger. Man merkte seine Benommenheit noch. Die Zunge war ein wenig schwer.
„Bist du verletzt?“, mischte sich nun Thorin ein. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Hulfgar nun einen Blick auf ihre Umgebung geworfen hatte, wandte er sich wieder an den am Boden Liegenden.
„Nein, ich denke nicht. Ich wurde von etwas stumpfen erwischt. Nichts Scharfes, was eine schwere Wunde hätte reißen können. Eher etwas Hartes, dass in etwas Weiches gehüllt war“, sprach er dann weiter und mit einem weiteren, leisen Stöhnen drückte er sich dann mit den Ellbogen etwas hoch. „Ja, definitiv keine Wunde. Aber ein blauer Fleck wird‘s werden“, sagte er dann ein wenig gequält grinsend. „Oder auch zwei.“ Man konnte ihm ansehen, dass der Schlag heftig war. Und die anschließende Landung im Schnee, trotz dessen Tiefe, nicht sehr angenehm gewesen war. Ohne zu antworten reichte Thorin ihm einen Arm und Rulmgar schlug ein. Thorins Hand um seinen Unterarm und Rulmgars Hand um Thorin’s. Mit einem kleinen Ruck und nachdem Gondrim sich zurückgelehnt hatte, zog er ihn nach oben und wieder auf die Füße.
Erst als er stand, schien er zu bemerken, dass sie nur noch zu viert waren. „Wo ist Brân- …“, setzte er an, brach dann aber ab, als es ihm zu dämmern schien. „Oh, Scheiße!“, fluchte er dann und sein auch ein wenig „frech“ wirkendes Grinsen verschwand von einem Augenblick zum Nächsten. „Ihr verarscht mich jetzt, oder?“
Thorin schüttelte betrübt den Kopf. „Leider nein.“
„Du willst mir sagen, dass, was auch immer es war, es Brândil mit sich genommen hat?“ Rulmgar wirkte ein wenig aufgebracht. Er konnte es nachvollziehen. Auch er selbst, und sicherlich auch Hulfgar und Gondrim, war ebenfalls unruhig. Besorgt oder auch wütend, hätte es ebenfalls getroffen.
„Ich denke, Thorin kann dir sagen was es war“, knurrte Hulfgar mit einem wissenden Nicken in seine Richtung. Der kräftige Jäger kniete mittlerweile neben den neuen Spuren im Schnee. „Damit hätte sich unsere Frage auch erledigt“, sprach er dann weiter und richtete sich wieder auf.
„Was meinst du?“, wunderte sich Rulmgar und fuhr sich mit der Hand über den Rücken, als er nach seinem Speer suchte, der offensichtlich irgendwo im Schnee verschwunden war.
„Die Frage nach der Art der Zeichen. Ob sie Gute oder Schlechte waren.“ Als ihn Rulmgar einen weiteren fragenden Blick zuwarf, fügte er noch hinzu: „Schlechte Zeichen.“ Der jüngere Jäger schwieg nun. Sowohl mit Worten, als auch mit Gesten.
„Er ist in diese Richtung.“ Hulfgar deutete mit einer Hand in Richtung Süden. Näher an die Moeringberge heran. „Es wird schwierig die Spuren schnell zu verfolgen. Ich kann zwar sehen, wo unser unliebsamer Besucher gelandet ist, aber zwischen den Felsen sind die Abdrücke schwer auszumachen. Diese verfluchten Dinger springen so verdammt weit. Selbst mit der Last eines voll eingekleideten und gut genährten Jägers auf den Schultern.“
Thorin überkam eine Art Wutanfall. Am liebsten hätte er einfach in die Nacht hinausgeschrien. Dem inneren Druck Platz gemacht und nach außen abgelassen. Aber er würde sich die damit verbundene Stärke – solange er sich unter Kontrolle halten konnte – für jemanden ganz bestimmtes aufheben. Für einige Momente starrte Thorin einfach in den Schnee. Der Speer an seiner Seite gesenkt und mit festem Griff umschlossen. Erst als sich Gondrim neben ihn stellte und ihm eine Hand auf die Schulter legte, wurde er aus seiner Starre gerissen. „Wir werden ihn kriegen“, sprach er leise, aber entschlossen und drückte seine Schulter einmal fest. Dann wandte er sich von ihm ab.
„Das werden wir“, knurrte Thorin wütend und nicht weniger entschlossen. Auch er wandte sich nun um und schaute zu seinen drei Kameraden hinüber.
„Kannst du wieder ordentlich laufen, ohne dir alle drei Schritte den Rücken zu halten?“, fragte Hulfgar mit einem nicht deutbaren, schmalen Grinsen auf den Lippen. Rulmgar hatte seinen Speer inzwischen wiedergefunden und warf Hulfgar einen mörderischen Blick zu.
„Sicher kann ich das“, erwiderte er, als wolle er den kräftigeren Jäger niederschmettern. Murmelnd fügte er noch etwas an, das Thorin aber nicht verstand, weil er zu weit entfernt war und seine Schritte im Schnee es übertönten. Nach einigen Augenblicken erreichte er schließlich seine Freunde. Ihre Minen wurden schlagartig grimmiger.
„Bereit für eine richtige Wolfsjagd?“, fragte Thorin dann in die Runde und schaute von einem grimmigen Gesicht zum Nächsten. In den Augen und den Gesichtszügen seiner Freunde konnte er nicht das geringste Zeichen von Angst erkennen. Nur Entschlossenheit und die Bereitschaft für einen Freund zu sterben.
„Hm“, brummte Hulfgar begleitet von einem Nicken.
„Bereit“, kam es dunkel Rulmgar.
„Hol’n wir unseren Alten wieder“, knurrte Gondrim als Letzter.
„Dann auf die Jagd, Jäger …“